Turin wollte schon immer schreiben. Als kleiner Junge hatte er bereits damit angefangen. Zunächst waren es nur kleine Erlebnisse, die er zu Papier brachte. Später wurden Geschichten daraus. Viele von ihnen waren frei erfunden, aber sie alle spielten in ihrem Dorf. Da gab es den Schmied, in dessen Hütte er eine heitere Begebenheit passieren ließ. Und den Bäcker, dessen grobe Art Turin immer wieder Inspiration bot, ihn in seine Figuren einzubauen.
Manchmal las er die Geschichten in der Dorfschänke vor. Dann lauschten sie ihm alle und waren stolz, einen Dichter in ihren Reihen zu wissen. Es gab nicht viele Künstler im Dorf, die meisten lebten in der Stadt. Aber dorthin kam Turin nicht. Er lebte im Haus seines Vaters und half ihm bei der Arbeit.
Der Vater war schon sehr alt und das herumlaufen bereitete ihm Mühe. So übernahm Turin alle Besorgungen, die nötig waren. Am Abend aber setzte er sich hin und schrieb seine Geschichten aus ihrem Leben auf.
Mit der Zeit jedoch genügte es ihm nicht mehr. Mochten die Schreiber in der Stadt noch so realistische Geschichten erfinden und damit große Erfolge feiern. Turin wollte mehr! Er wollte eine eigene Welt erschaffen, eine Welt der Phantasie, in der es die abenteuerlichsten Wesen gab und das Leben vor Geheimnissen troff. Doch wie sollte er sich darauf konzentrieren, wenn er sich jeden Tag mit den banalsten Dingen beschäftigen musste?
Als Turin den Entschluss gefasst hatte, zog er sich weiter von den Mitbewohnern des Dorfes zurück.
„Turin ist ein Träumer“, riefen sie ihn bald, aber er ließ sich davon nicht beirren. Er saß in der Wohnstube und versuchte, seine Phantasie fliegen zu lassen.
Der Vater machte sich darüber Sorgen.
„Sohn, du musst dich dem Leben stellen“, riet er Turin.
„Mach dir keine Gedanken“, sagte Turin, der dichtgebeugt über dem Papier saß und darüber nachdachte, was seinem Protagonisten alles geschehen könnte. „Ich werde es schaffen und einen Phantasie Roman schreiben.“
„Damit wirst du deinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können“, sagte der Vater. „Erlerne einen vernünftigen Beruf. Du weißt dass ich mich freuen würde, wenn du einst meinen Betrieb übernimmst.“
„Ich weiß“, sagte Turin. „Ich werde dir auch immer helfen. Aber Schreiben ist meine Berufung.“
„Dann schreibe wahre Geschichten, dass du dein Auskommen in der Stadt finden kannst“, bat der Vater.
„Für mich bedeutet Schreiben Phantasie und ich werde ein völlig neues Genre schaffen“, erklärte Turin in fester Überzeugung.
Der Vater seufzte und setzte sich auf seinen Stuhl.
„Bevor du dich deiner Phantastereien hingibst, laufe bitte noch in den Wald und hole mir die Kräuter, die ich benötige. Der Bauer Martijn braucht dringend das Elixier.“
„Ist Vion wieder aufgetaucht?“ fragte Turin vorsichtig.
Der Vater nickte.
„Jahrelang hatte der goldene Drache sich in die Berge zurückgezogen Nun aber ist er wieder da und verwüstet die Felder. Nur mit meinem Zaubertrank kann der Bauer ihn besiegen.“
Turin legte die Feder auf den Tisch. Das war, was er meinte. Er konnte sich einfach nicht auf eine phantastische Welt konzentrieren, wenn ständig etwas dazwischen kam. Und das gerade jetzt, da er zum ersten Mal eine Idee über seine gedankliche Welt zu fassen bekam. Eine Welt, in der die Menschen in großen Städten wohnten. Tausendmal größer als die Stadt des Königs. Ein Ort, in dem man sich in mechanische Kutschen setzte, die sich selbst antrieben und die man lenken konnte. Ja, dieser Gedanke gefiel ihm, das war aufregend und nun kam der Drache!
Nun gut, Turins Vater war nun einmal der größte Zauberer im Land und wurde bei solchen Sachen zu Rate gerufen. Selbst die Elfen im Süden kamen zu ihm, um ihre grünschimmernden Orakel mit magischer Kraft aufladen zu lassen. Doch was war das alles gegen diese eine Idee?
Bevor Turin aufstand, nahm er noch einmal die Feder in die Hand und Lowin, sein Vater sah zu ihm hinüber.
„Hast du nicht gehört, Turin“, fragte er resignierend.
„Nur einen Augenblick“, sagte Turin. „Ich habe gerade einen Einfall.“
Dann warf Turin die Feder beiseite und sprang auf.
„Meier. Karl-Heinz Meier heißt mein Held und er ist Bankangestellter! Was für ein herrlich seltsamer Name!“
„Was ist ein Bankangestellter?“ fragte der Zauberer.
„Das ist jemand, der dein Geld verwaltet und dir erzählt, was du damit anfangen kannst, ohne dass du es in der Tasche hast“, erklärte Turin stolz.
„Hör auf zu träumen und sieh zu, dass du die Kräuter besorgst“, sagte Lowin.
Turin lachte seinem Vater zu und rannte hinaus. Es war herrlich, endlich hatte er einen Einfall! Ein Bankangestellter, der sich morgens in seine mechanische Kutsche setzt und über reglementierte Bahnen fuhr, um den Tag in einem zehn Etagen hohen Haus zu verbringen. Er hat dort einen eigenen Tisch. Nur für sich. Genau!
Turin war so in seinen Gedanken vertieft, dass er die Zwerge gar nicht bemerkte, die am Brunnen saßen und sich ausruhten. In der Nacht waren sie von den Bergen herunter gekommen. Zwei Monate hatten sie dort einen Tunnel zu dem Gold und den Edelsteinen gegraben, die vom Vogel Ty eifersüchtig bewacht wurden. Ty liebte Edelsteine. Immer wieder griff er die Schlösser des Landes an, wenn dort ein großes Fest gegeben wurde. Dann entriss er den Damen die wertvollen Kolliers und brachte sie in sein Versteck in den Bergen.
Die Zwerge wussten, wo es lag. Sie gruben den Tunnel quer durch den Berg, dass sie auf die Höhle stoßen würden. Doch dies würde noch eine Weile dauern.
„Seht euch den Träumer an“, sagte Wbron, der Anführer der Zwerge. „Er ist so in seiner Phantasiewelt vertieft, dass er uns gar nicht bemerkt.“
„Ach, lass ihn doch einfach laufen. Es ist ja nicht unser Problem, wenn er im verzauberten Wald den Weg verliert“, meinte Krobs, der neben seinem Anführer saß und die Scheide seines Beiles schärfte.
Krobs hatte Recht, der Wald war verzaubert. Aber Turin wusste das. Er war schon oft hinein gegangen und hatte seinem Vater die notwendigen Kräuter besorgt. Nun gut, die Bäume veränderten ihre Position, dass es nie derselbe Weg war, den er ging. Aber die Bäume waren gleich und sie kannte Turin. Es war ja auch verständlich, dass man nicht immer an einem Platz stehen bleiben konnte.
Da gab es viel dringendere Probleme. Was machte Karl-Heinz Meier in dem Haus, wenn er an seinem Tisch saß? Hatte er vielleicht ein Ding, auf das er drücken konnte und dann mit einem anderen phantastischen Wesen sprach? Hatte er möglicherweise sogar einen Spiegel, in den er hineinschreiben und dem anderen Nachrichten schicken konnte? Und dies alles, ohne sich vom Tisch zu bewegen. Das brachten noch nicht einmal die Künste des Vaters fertig!
Es gab nur wenige Orte, an denen die Kräuter für den Zaubertrank wuchsen und der beste lag am silbernen See in der Mitte des Waldes. Turin wusste, dass er sie am südlichen Ufer schneiden musste, gerade in dem Augenblick, wenn die Sonne ihren Zenit erreichte und dies würde bald geschehen, dass er sich beeilen musste.
Als der Wald sich lichtete, sah er das Ufer und er bemerkte Morian, die silberne Nixe, welche sich dort sonnte. Eigentlich mochte er Morian ganz gern. Sie hatte so etwas Überzeugendes an sich und ein paar Mal hatte er schon überlegt, mit ihr baden zu gehen. Heute aber wollte er so schnell wie möglich zurück zu seiner Feder und eine phantastische Welt erschaffen. Da konnte er Morian gar nicht gebrauchen.
Schon aber hatte die Nixe ihn entdeckt und winkte ihm verführerisch zu.
„Hallo“, rief sie. „Komm her und sieh, wie sich die Sonnenstrahlen auf meinen silbernen Schuppen spiegeln!“
„Hallo, Morian“, rief Turin und winkte ihr zurück. „Ja, es ist wirklich ein schöner Tag. Aber ich habe keine Zeit! Mein Vater braucht seine Kräuter für den Zaubertrank und ich muss noch an meinem Phantasieroman weiterarbeiten!“
Turin trat ein paar Schritte näher und begann, mit der mit Mondlicht geschleiften Sichel die benötigten Kräuter abzuschneiden.
„Ich habe schon gehört, dass du eine Welt voller Wunder und Abenteuer erschaffen willst“, sagte Morian und räkelte sich mit ihrer Flosse auf dem Ufergestein. „Ich stelle mir das ziemlich schwer vor. So ganz außerhalb der Realität.“
„Das ist ja das Besondere“, sagte Turin, der sich nicht von seiner Arbeit abhalten ließ. „Was haben wir denn für ein Leben, wenn die Phantasie nichts mehr zählt?“
„Nun, ich finde das ziemlich interessant. Vielleicht kannst du mir einmal etwas mehr darüber erzählen“, schmeichelte Morian und legte sich auf die Seite, um Turin besser zu beobachten.
„Mach ich bestimmt“, sagte Turin. „Aber jetzt muss ich zurück. Vater wartet schon.“
„Dann pass auf dich auf. Die Hexe Zys erzählte mir, dass die scharlachroten Reiter des Nordens unterwegs sind, um das Land für den graublaumelierten Zauberer zu unterjochen. Einzig ein Wanderstab aus den Knochen eines Einhorns fehlt ihnen noch. Den wollen sie nun holen, aus der Senke der Artrions.“
„Die Artrions passen schon auf sich auf“, sagte Turin, der nicht viel für Tagesnachrichten solcher Art übrig hatte. Ständig kamen Seher ins Dorf und berichteten über all diese Dinge, die in ihrer Welt geschahen. Doch meistens passierte nicht viel. Ein Heer aus Moorsoldaten wurde erschlagen, manchmal ein Zauberer oder Drache. Letztendlich aber hatte der König das alles ganz gut im Griff.
Nicht jedoch Turin seinen Roman. Das war ein ganz anderes Kaliber! Worin sollte die Gefahr bestehen, der sich Karl-Heinz Meier in der Bank ausgesetzt sah? Vielleicht war es gut, erst Spannung aufzubauen. Sein Held musste essen, doch es gab nichts in dem Haus. So musste er hinunter zu den Wegen, auf denen ständig diese mechanischen Kutschen herumfuhren und er musste auf die andere Seite, hinüber zum Bäcker! Einem Bäcker, der gar nicht selber backte und sich Karl-Heinz trotzdem hinter einer Menge anstellen musste. Turin fühlte förmlich die Angst in Karl-Heinz Meier aufsteigen, dass seine Zeit dafür nicht ausreichte. Die Zeit für … Mittagspause! Ja, das war das richtige Wort! Mittagspause!
Morian winkte dem jungen Mann nach, wandte sich dann aber wieder der Sonne zu und bewunderte den Strahlenglanz auf ihren Schuppen.
Dreimal musste Turin auf dem Rückweg Bäumen ausweichen, die sich inzwischen umgestellt hatten. Doch dies verlängerte seinen Rückweg nicht sonderlich. Er kam nur ein wenig östlicher vom Dorf aus dem Wald.
Von dort aus konnte er über die Ebene blicken. In der Ferne sah er die Gruppe von Punkten, welche sich ihm schnell näherten. Das waren die scharlachroten Reiter, die Moria erwähnte. Lowin hatte Turin einiges über sie erzählt.
„Du darfst nicht in ihre Augen blicken. Sie verwandeln dich in Bernstein. Es ist nicht schön, mit so vielen Flecken herumzulaufen. Hüte dich also vor ihnen und überlass es den dreiflügeligen Grashüpfern, sie zu besiegen.“
Doch die dreiflügeligen Grashüpfer befanden sich derzeit im Osten, bei dem Sümpfen von Kreos. Einmal im Jahr versammelten sie sich dort, um fünf Tage lang ihren Geist miteinander zu teilen und das innere Zentrum der Welt in sich zu vereinen. Die scharlachroten Reiter aber würden in zwei Stunden sicherlich das Dorf erreichen. Turin fragte sich, wie man unter diesen Bedingungen überhaupt einen Roman schreiben sollte. Er konnte es nicht, jedenfalls nicht so phantasievoll, wie er es sich vorstellte.
Vielleicht hätte es Karl-Heinz Meier gekonnt. Er besaß Kräfte, die es in Turins Welt nicht gab. Dieser Bankangestellte würde es schaffen, rechtzeitig vor Beendigung der Mittagspause wieder an seinem Tisch zu sein. Gerade rechtzeitig, um zu entdecken, dass die Welt bedroht wurde. Von Zahlen, die auf seinen Spiegel geschrieben wurden? Doch Hans-Günther Meier war mutig und er würde nicht aufgeben. Hierzu aber fehlte Turin noch die Idee. Zunächst musste er seinem Vater von den Reitern berichten.
Lowins Stirn wurde von Sorgenfalten durchzogen. Turin kannte das schon. Bei jeder Kleinigkeit wurde das Gemüt des Zauberers schwer.
„Wenn Vion sich mit der scharlachroten Gruppe verbündet, werden sie das ganze Tal verwüsten und das Böse des graublaumelierten Zauberers ist nicht mehr aufzuhalten.“
„Hier sind deine Kräuter“, sagte Turin und hielt dem Vater die Tasche entgegen. „Brauchst du mich noch?“
Der Vater schüttelte gedankenverloren den Kopf. Dann aber stand er entschlossen auf und begann, einen Trank zu brauen. Turin jedoch setzte sich an den Tisch und dachte über Karl-Heinz Meier nach. Was würde sein Held tun? Es war ein kritischer Augenblick und so spannend! Turin fiel eine Weile nichts ein und er strengte umso mehr seinen Kopf an.
Derweil hatte der Zauberer seinen Trank gebraut und schüttete in kleine Piolen um, die er in seinen Taschenbeutel steckte.
„Ich bin eine Stunde weg“, sagte er zu seinem Sohn.
„Hm“, sagte Turin, in Gedanken versunken.
Es war schwer, eine Phantasiewelt zu erschaffen. Zwar konnte Turin alles erfinden, was er nur wollte. Doch wusste er nicht, was phantastisch genug war, um die Leser zu faszinieren.
So saß er am Tisch in der Hütte, während es draußen lauter wurde. Die Dorfbewohner liefen umher und schrien vor sich hin. Dazwischen Pferdegetrappel. Gewieher. Ein Pfeil bohrte sich in die Holztür der Hütte und die Spitze durchschlug das Brett. Dazwischen hörte Turin von fern die Stimme seines Vaters, wie er Zauberformeln rief und kurz darauf ein greller Blitz die Fenster erhellte.
Einem dieser Blitze war es zu verdanken, dass Turin plötzlich einen Einfall hatte. Eine herrliche Idee! Ein Gedanke, würdig für eine Phantasie Geschichte. Hans-Günther Meier würde den Stab von dem Apparat nehmen, aus denen Stimmen kamen. Er konnte auch hineinsprechen. Und während die Zahlen auf dem Spiegel tiefrot anliefen, tat er es entschlossen. Er nahm den Stab und hielt ihn dicht an seinen Mund.
„Verkaufen, alles verkaufen!“ schrie er hinein und legte daraufhin den Stab wieder weg.
Was für ein Abenteuer! Turin war begeistert. Nun, es war kein Roman geworden, immerhin aber seine erste Fantasy Geschichte. Ja, Fantasy würde er das neue Genre nennen und die Schreiberkollegen in der Stadt würden vor Neid erblassen.
Die Tür öffnete sich und Lowin trat ein. Er wirkte erschöpft. Kraftlos ließ er den Beutel zu Boden gleiten und setzte sich auf seinen Stuhl.
„Wir haben die scharlachroten Reiter besiegt. Der graublaumelierte Zauberer ist für ewig in die Finsternis verbannt.“
„Gut“, sagte Turin und wandte sich zu seinem Vater um. „Soll ich dir etwas erzählen? Ich habe meine erste Geschichte fertig. „Gefahr in der Stadt“ werde ich sie nennen. Es ist wundervoll. Sie wird dir auch gefallen. Abenteuer und sonderbare Apparate. Alles nur Phantasie, aber glaube mir, damit werde ich es schaffen!“
Der Zauberer nickte müde.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Der Träumer"

Re: Der Träumer

Autor: axel c. englert   Datum: 01.11.2015 23:20 Uhr

Kommentar: Die Idee phantastisch, die Umsetzung toll:
Einfach TRAUMhaft! Wunder - voll!

LG Axel

Re: Der Träumer

Autor: possum   Datum: 01.11.2015 23:52 Uhr

Kommentar: Hallo lieber Mark,
obwohl ich mich ja eher kaum still halte und lese,
aber hier hat es so richtig gehend Spass gemacht
in deinen wundervollen Zeilen! Lieben Dank und herzliche Grüße!

Re: Der Träumer

Autor: arwen   Datum: 02.11.2015 4:47 Uhr

Kommentar: Super geschrieben und wirklich eine tolle Idee, die " Welt verdreht", echt gut!

Re: Der Träumer

Autor: Mark Gosdek   Datum: 02.11.2015 5:29 Uhr

Kommentar: Danke Euch allen. Schön, dass sie Euch gefällt. Bin mal gespannt, was der Tag so bringt, wenn ich mich heute in seine Phantasie Welt stürze :-) Euch einen schönen tag
Mark

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