Vor wenigen Monaten, so wurde berichtet, habe Bruno im Kreise der Umsitzenden die gerade hitzig geführte Diskussion über die Ursachen des seinerzeitigen Goldpreisverfalls und der jetzigen Stagnation im Edelmetallsektor unterbrochen und triumphierend mitgeteilt, dass er nunmehr Kandidat geworden sei.

Einige der Umsitzenden bezogen diese Aussage auf die gerade geführte Auseinandersetzung und fragten zurück, ob er sich bei einem Edelmetallhändler als Kunde oder gar als Teilhaber beworben habe. Keineswegs, so habe Bruno geantwortet, keineswegs. Ob er Kandidat sei bei einer Talentshow, ob er Aussicht auf das Bundesverdienstkreuz oder eine ähnliche Medaille habe, ob er als Vorstandsmitglied eines gemeinnützigen Vereins oder einer sonstigen ehrenhaften Institution vorgesehen sei, ob er zu einer nachmittäglichen Fernseh-Talkshow über Familienschwierigkeiten gebeten worden sei, ob er in Zukunft irgendeinen wichtigen Titel vor seinen Namen setzen könne oder ob er ein großes Schiff taufen dürfe, wenigstens eine Flussfähre, vielleicht ein Segelboot.

Alle Fragen dieser Art jedoch wurden von Bruno mit einem heftigen Kopfschütteln bedacht. Er blieb schließlich durch ungeduldige Hinweise und Gesten aufgefordert, endlich sein Schweigen zu brechen, den Kreis seiner Freunde und Bekannten nicht länger auf die Folter zu spannen und mitzuteilen, worin seine Kandidatur bestehe.

Bruno habe eine Pause gemacht, bis gespannte Ruhe eingetreten sei und sich Erwartung in den Gesichtszügen der Umsitzenden eingestellt habe. Dann habe er mit fester Stimme auf sein derzeitiges Alter von 69 Jahren hingewiesen und erläutert, dass ihn, Bruno, gerade dieses Alter als Kandidaten qualifiziere. Um das zu erkennen, brauche man nur die in der hiesigen Lokalpresse publizierten Todesanzeigen zu studieren, die neben den Sterbedaten oft auch die Geburtsdaten der Verstorbenen angeben. Es sei, so Bruno, keine große Schwierigkeit, festzustellen, dass die Geburtsdaten der Toten sich zunehmend seinem, Brunos Geburtsdatum, näherten, was ihn, gewünscht oder nicht, nun einmal zum Kandidaten mache. Auch sei nicht zu übersehen, dass er dem Ziele, dem seine Kandidatur gewidmet sei, von Tag zu Tag näher komme.


© Rolf Kirsch


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