Er lag hinter einer Anhöhe, dicht auf den Boden gepresst. Der Abhang war ursprünglich einmal mit Gras bewachsen gewesen, nun aber bestand er nur noch aus Lehm und Dreck und der Regen der letzten Tage hatte ihn in tiefen Matsch verwandelt. Darüber hatte der Frost der letzten Nacht eine harte Kruste gezogen, dass die Kälte durch die Jacke bis auf den nackten Körper drang.

Doch es hatte ihn nicht zu stören. Noch waren es mindestens fünf Stunden, die er auf seinem Posten auszuhalten hatte. Das war sehr lang, auch wenn er aufgehört hatte, der Zeit irgendeine Bedeutung beizumessen. Das war kein Ort dafür. Dies war die Front und die einzigen Zeiger, die die Lebenszeit verkürzten, bestanden aus Granaten.

Hier auf dem Wachposten genauso wie später in den Unterständen, die nicht wirklich Schutz boten. Er hatte von Granaten gehört, die einen Schutzbunker trafen, der sich als wahre Todesfalle entpuppte und kein Kamerad ihr zu entkommen vermochte.

Aber vielleicht war das ein schönerer Tod als von herumfliegenden Granatsplittern zerrissen zu werden. Ständig hörte er das Schreien der Kameraden und er wusste, dass es wieder einen erwischt hatte. Er dachte nicht mehr darüber nach. Wenn er überleben wollte, durfte er das nicht. Im Krieg ist der Wahnsinn ein ständiger Begleiter.
Am schlimmsten aber waren die Gasangriffe. Man sah die kleinen Geschosse kaum über den Boden spritzen. Nur am Geräusch konnte man sie erkennen. Das Surren war ein Ton höher als die der üblichen Geschosse und wenn man nicht rechtzeitig die Maske ans Gesicht presste, war es aus. Das Gas verätzte die Luftröhre und das Gesicht lief bläulich an. Das war eine Frage von Sekunden, die Qualen aber mussten fürchterlich sein. Er hatte Opfer dieser Angriffe gesehen, in ihre verzerrten Gesichter geblickt und bei den ersten Malen musste er sich übergeben. Dann aber hatte er sich daran gewöhnt.

Davon hatte in der Heimat niemand erzählt. Jeder hatte doch geglaubt, dass die Engländer schnell besiegt sein würden und man sicherlich nach ein paar Wochen zu Hause sein würde. Es war doch nicht viel mehr als ein Jagdausflug.

Nun war man, mit ein wenig Glück, nach ein paar Wochen zurück im Feldlager. Halb wahnsinnig einer Kraterlandschaft entronnen, die für jeden nur das gleiche Geschenk bot.

Aber bald schon ging es wieder an die Front. Für Kaiser und Vaterland. Auf den Plakaten in seiner Heimatstadt hatte sich das gut ausgemacht. Die entschlossenen Burschen mit den freudigen Gesichtern zogen gerne in den Krieg. Aber ihnen konnte auch nichts passieren. Sie existierten nur auf dem Papier. In den Frontstellungen waren die Parolen lächerlich geworden. Der Kaiser saß zu Hause und das Vaterland würden die Soldaten der Front wahrscheinlich nicht wiedersehen.

Dies war eine andere Welt. Sie teilte sich nicht in Männer und Frauen, in Arbeit und Vergnügen. Nicht einmal in Feiglinge und Helden. Nur in Lebende und Tote und die Granaten kannten keinen Unterschied bei den Uniformen.

Es gab keine Geburtstage und Hochzeiten, keine Geburten und Begräbnisse. Nur das mechanische Aufstehen und Aushalten in den Stellungen über denen die Apokalypse tobte. Wie sollten die Soldaten hier die Geburt des Heiland feiern? Gab es ihn überhaupt in dieser Hölle? Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, hier einzudringen, warum sollten sie die Geburt der Hoffnung feiern, wenn es sie überhaupt nicht gab?

Aber vielleicht bescherte das Fest den Soldaten wenigstens eine warme Mahlzeit. Seit einer Woche hatten sie schon keinen Nachschub mehr erhalten, sich nur vom harten Kommissbrot ernährt. Vielleicht eine Suppe, nicht so gut wie zu Hause von der Mutter gemacht, aber immerhin deftig und warm.

Ja, das war ein Grund, die nächsten Stunden noch hinter der Anhöhe auszuhalten, dann zurück in den Unterstand zu kriechen und für einen Augenblick die Augen zu schließen und sich vorzustellen, man sei wieder zu Hause.

Solange aber musste man auf das hohe Surren der Granaten achten. Einmal musste man noch Weihnachten feiern und der Soldat legte bei diesem Gedanken den Kopf auf den Boden, schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche des Todes.


Später, als es dämmerig wurde, versammelten sich die Kameraden im Unterstand und als Heinrich schließlich zurückkehrte sah er, dass einer der Soldaten aus zerbrochenen Latten ein Gestell zusammen gebastelt hatte, das wenigstens annähernd an einen Tannenbaum erinnerte. Er sah nicht hübsch aus, aber es war ein Baum. Als Schmuck hatten sie allerlei Scherben und alte Dosen an die Enden gehangen und im fahlen Licht glitzerten die Stücke sogar.

Auch die Heeresführung hatte es gut mit ihnen gemeint und Erbsensuppe geschickt und später saßen sie alle zusammen im Unterstand, löffelten die Suppe und kauerten sich eng zusammen.Manchmal warfen sie einen verstohlenen Blick zu dem Baum und es half ihnen zu vergessen, dass der Feind in zweihundert Meter Entfernung ebenfalls in ihrem Bunker saß.

Dann rauchten sie selbstgedrehte Zigaretten aus Tabakverschnitt, aber sie schmeckten gut und das Gefühl der warmen Suppe gab ihnen ein wenig die Illusion des Friedens.

Einer der Kameraden, ein langer, schlaksiger Kerl aus der Nähe von Hannover – so wie Heinrich wusste – grinste sogar zufrieden und in die tiefe Ruhe der Gruppe hinein stimmte er ein Lied an, in seinem tiefen, wehmütigen Bariton, der die anderen Kameraden dazu verleitete, mitzusingen.

Stille Nacht, heilige Nacht,
alles schläft, einsam wacht....

Und das Licht in dem Unterstand wurde sanfter. Das Heer hatte auch ein paar Flaschen Bier geschickt, die nun von Kamerad zu Kamerad weitergereicht wurden und mit ihnen erklang der Gesang lauter in dieser klaren Nacht, die von keiner Granatenexplosion gestört wurde.
Da hielt der Hannoveraner plötzlich in seinem Gesang inne und auch seine Kameraden, die ihn verwundert ansahen, stockten.

Aus der Ferne, dort wo die Feinde in diesem Moment sicherlich auch zusammen saßen, wehte ein Ton herüber, eine Melodie ganz zart über den Grat des Unterstandes hinweg in den Kreis der Soldaten und sie lauschten erstaunt.

Silent night, holy night...

Dann, nach dem Moment der Verwunderung setzten die deutschen Kameraden wieder ein

..nur das Kindlein mit lockigem Haar....

und über die Kraterebene verbanden sich beide Gesänge zu einem Choral und sie wiederholten das Lied bis ihnen das Atmen in der kalten Luft schwer wurde.

Einer von Heinrichs Kameraden kroch den Unterstand empor und spähte hinüber, dorthin wo er die Engländer vermutete und plötzlich, noch eh es einer der Soldaten verhindern konnte, war er hinausgesprungen, schritt durch das Kampfgebiet und stimmte erneut das Lied an.
Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten ging er vorsichtig weiter, dass er in dieser Dunkelheit auf keine Mine trat und seine Stimme war die einzige in dieser Stille, die sich langsam von den Kameraden entfernt, bis unvermittelt eine zweite, englische Stimme erklang, sich mit der deutschen in einer Melodie verband und sich dem Unterstand näherte. Dann brach der Gesang unvermittelt ab.

Die Kameraden waren allesamt zu dem Grat des Unterstandes gekrochen und lugten hinüber in die Front und in den blassen Schein der Sterne sahen sie zwei Gestalten, die sich in der Mitte getroffen hatten und ganz still standen, bis schließlich zwei kleine Punkte aufflammten und im gleichen Augenblick wieder erloschen. Die beiden Gestalten aber blieben weiterhin still nebeneinander stehen.

Nun krochen auch die Kameraden aus dem Unterstand heraus und schritten vorsichtig auf die beiden Männer zu. Im Hintergrund bemerkten sie ebenfalls Bewegungen, aber sie fürchteten sich nicht davor. Langsam gingen sie weiter und der Soldatenchor sang ihre Legitimation, welche von der anderen Seite erwidert wurde.
Dann standen sie sich gegenüber. Verdreckte Uniformen und Gesichter. Kleine Knopfaugen, die sich schweigend musterten, in ihrer Mitte die beiden rauchenden Kameraden. Für einen Moment regten sich die Gestalten nicht.

Jemand zog eine Flasche Bier aus der Jackentasche, öffnete sie, nahm einen kleinen Schluck und reicht sie dem Engländer, der ihm an nächsten stand. Dieser zögerte, betrachtete seinen Gegenüber genau, streckte aber schließlich die Hand aus und führte die Flasche an die Lippen.

Ein englischer Soldat zog eine Packung Zigaretten hervor und bot sie einem Deutschen an. Sie schmeckte besser als das Kraut, dass die Kameraden im Unterstand besaßen.

Sie sahen sich in die Augen und wussten, dass der Krieg in den nächsten zwei Tagen ruhen würde. Für ihn gab es keinen Platz in dieser Zeit und beide Gruppen nickten einander ernst zu, als sie sich eine halbe Stunde später trennten.


Der Morgen war ruhig. Zum ersten Mal sah Heinrich die blasse Sonne hinter den Wolken und er konnte sie in Ruhe betrachten. Die Wachen saßen auf den Hügeln und rauchten Zigaretten. Sie konnten die englischen Kollegen gegenüber erkennen und winkten ihnen zu. Die Engländer winkten zurück.

Dann kam eine Nachricht vom Leutnant. Er ließ sie von einem Kurier in den Unterstand bringen. Solche Nachrichten waren niemals gut. Sie führten zum Tod. Dieses Mal jedoch sahen sich die Soldaten erstaunt an.

Zur weihnachtlichen Feier – so berichtete der Kurier – veranstalteten die Deutschen und die Engländer ein Fußballspiel. Und dies am heutigen Nachmittag. Soldaten, die in ihrer Heimat kickten, hatten sich unverzüglich zu melden.

Der Kurier, wohl kein Fußballbegeisterter, verzog keine Miene, als er die Nachricht verlesen hatte, drehte sich mit ernstem Gesicht wieder um und verließ den Unterstand. Für ihn war es eine soldatische Aktion.

Die Zurückgebliebenen jedoch lächelten. Ein Spiel, ein richtiges Fußballspiel. Heinrich hatte längst vergessen, dass er einmal rechter Läufer gewesen war, in seinem kleinen Verein, von dem die Hälfte in den Krieg zog und sie sicherlich nie mehr zusammen spielen würden. Und wenn er es recht bedachte, hatte er auch keine Lust mehr dazu. Nicht hier.

Aber die Kameraden der Einheit wussten um seine Qualitäten, von denen er ihnen einmal leichtsinniger Weise bei einer dieser unendlich langen Nächte in der Dunkelheit erzählt hatte und sie waren stolz, dass einer von ihnen spielen würde. Einer musste dabei sein und sie bedrängten Heinrich so sehr, dass er schließlich zustimmte, seine Sachen packte und dem Melder folgte.


An der gesamten Front waren die Kampfhandlungen eingestellt worden und es zeigte sich, dass die Engländer und Deutschen bereits seit den frühen Morgenstunden bemüht waren, das Niemandsland für den Vergleichskampf zu präparieren. Als Heinrich das Lager erreichte, sah er in die gespannten Gesichter der Kameraden, die für einen Moment den Krieg vergessen hatten. Sie saßen zusammen auf den Hügeln aus Schutt und Erde und diskutierten über die Chancen ihrer Mannschaft. Es war klar, dass die Engländer haushoch favorisiert waren. Über vierzig Jahre wurden auf der Insel bereits Meisterschaften ausgespielt und sie waren bekannt über ihre gepflegte Ballbehandlung.
Viele der deutschen Spieler hatten sich erst in den letzten fünf Jahren organisiert oder vielmehr Vereinen angeschlossen, die von den Verbänden nicht anerkannt wurden und somit am ordentlichen Spielbetrieb nicht teilnehmen durften. Ihnen fehlte die Wettkampferfahrung.

Aber es machte keinen Unterschied. Das Spiel war wichtig und eine Stunde vor dem Anpfiff hatten sich die Soldaten beider Lager bereits als Zuschauer an dem provisorischen Spielfeld versammelt. Sie hatten Getränke und Rauchwerk mitgebracht und teilten es untereinander auf.
Die Offiziere hielten sich ein wenig abseits, aber auch sie schienen ihr Vergnügen am kommenden Ereignis zu haben. Die Engländer nickten den Deutschen und die sie dabei andeuteten, schienen beiden Parteien ein spannendes und faires Spiel zu wünschen.

Heinrich war ins Team gestellt worden. Als linker Läufer. Es gab nicht genug linke, so hatte Heinrich auch nicht wirklich Konkurrenz gehabt. Die Mannschaft war zusammengewürfelt. Aber das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Niemand hatte doch ernsthaft damit gerechnet, dass es zu einem solchen Spiel kommen würde. So war auch die Trikotfrage schwierig gewesen. Schließlich hatten beide Parteien sich darauf geeinigt, in den grauen Unterhemden zu spielen und darüber hinaus trugen die Spieler farbige Armbinden, blau die Deutschen und rot die Engländer. So waren die Spieler wenigstens annähernd zu unterscheiden.

Die Zuschauer hatten Wetten auf den Ausgang des Spieles abgeschlossen. Zumeist waren es Zigaretten, die eingesetzt wurden und die englischen waren sehr begehrt. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie besser schmeckten dies war schon ein guter Grund, ein ordentliches Spiel abzuliefern. Bunt gemischt standen die Zuschauer nahe der Seitenauslinie und warteten auf die Mannschaften.

Heinrich hatte noch nie vor so einem großen Publikum gespielt. Zu Hause waren es höchstens hundert Zuschauer gewesen und selbst diese Zahl hatte ihm schon einen gehörigen Respekt eingeflößt. Nun aber waren es tausend und sie erwarteten ein gutes Spiel.

Heinrich schnürte seine Soldatenstiefel. Sie waren ein wenig zu schwer und zu klobig, aber er besaß keine anderen. Es musste auch so gehen. Viele der anderen Spieler hatten sicherlich das gleiche Problem.

Seine Kameraden aus dem Unterstand kamen vorbei und gaben ihm Ratschläge. Heinrich nickte nur dazu. Sie meinten es gut, aber sie hatten keine Ahnung. Sie hofften auf ihren Mann.

Schließlich trat ein Unteroffizier zwischen sie und mit ernster Miene gab er bekannt, dass es nun Zeit sei. Er sprach nicht vom Kaiser und vom Vaterland, er wünschte ihnen nur Glück als Spieler und sie empfanden es als wohltuend. Der Kaiser hatte bei dieser Begegnung nichts zu suchen. Dem Gegner wurde nur der Ball abgejagt, aber er wurde dabei nicht erschossen.

Der Schiedsrichter war Engländer. Ein gedrungener Mann mit weißem, krausen Backenbart und rotgeäderten Wangen. Er blickte ernst auf die beiden Spielführer, als sie sich zur Seitenwahl in der Mitte trafen und Heinrich beobachtete sie von seiner Position auf der linken Seite, während die Zuschauer durcheinander ihre Anfeuerungen auf das Spielfeld riefen.

Dann ging es los. Die Engländer hatten die Seitenwahl gewonnen und die Deutschen stießen an, verloren aber sogleich den Ball. Bereits in den ersten Minuten zeigte es sich, dass die Engländer feine Spieler in ihren Reihen hatten. Sie passten kurz und klug und die Außenstürmer liefen flink an den Seitenlinien entlang.

Heinrichs Gegner war ein kleiner, wuseliger Bursche, vielleicht ein wenig jünger als Heinrich und ständig war er in Bewegung, dass Heinrich ihm nachlaufen musste, um ihn zu halten. Der Bursche grinste Heinrich an. Er wusste, dass sein Team besser war. Heinrich grinste zurück.

Nach zehn Minuten führten die Engländer 2:0. Zwei schöne Kombinationen durch die Mitte hatten ihnen den Erfolg beschert, ohne dass die Deutschen überhaupt vor das englische Tor gekommen waren. Der Mittelläufer der Deutschen klatschte in die Hände und feuerte seine Mitspieler an. Die Zuschauer brüllten in das Feld hinein und tranken Bier. Die Stimmung war ausgezeichnet.

Nun ließ es das englische Team ein wenig gemächlicher angehen und das Spiel wurde ausgeglichener, dass auch die Deutschen gelegentlich vor dem Tor auftauchten. So fiel plötzlich das 2:1, im Gegenzug aber trafen die Engländer erneut.

Heinrich schwitzte. Das Spiel strengte ihn an und sein Gegenspieler hatte sichtlich Spaß daran, ihn schwindelig zu dribbeln. Heinrich versuchte ihn näher zu decken, aber der Stürmer war zu schnell.
Zur Halbzeit führten die Engländer 4:2. Es war ein feines Spiel gewesen und die Stimmung hielt sich in den Zuschauerreihen.
Heinrich hätte gerne mit ihnen getauscht. So aber lag er auf dem Boden und holte tief Luft. Sein Gegner war ein harter Brocken, aber er würde ihn schon in den Griff bekommen. Zu Hause würden sie staunen, wenn er von dem Spiel erzählte – wenn er nach Hause kam.
Der Schiedsrichter pfiff die zweite Halbzeit an und nun zeigte sich deutlich die englische Überlegenheit. Die Deutschen waren erschöpft und die Engländer ließen den Ball locker durch ihre Reihen laufen.
Heinrichs Gegenspieler drehte jetzt auf und bereitete durch eine Flanke von der Außenlinie das 5:2 vor. Die Zuschauer jubelten. Auch die Deutschen applaudierten. Dies war ein schöner Spielzug gewesen.

Nur noch gelegentlich kam Heinrichs Team vor das englische Tor, aber immerhin schlossen sie einen Angriff noch erfolgreich ab. Die Engländer aber spielten ihre Pässe weiter und als der Schiedsrichter schließlich abpfiff, hatten sie 8:3 gewonnen.

Heinrich streckte seinem Gegenspieler die Hand entgegen. Sie sahen sich in die Augen und nickten sich gegenseitig zu. Dann gingen sie gemeinsam vom Platz. Die Kameraden klopften den Spielern auf die Schultern. Sie hatten alles gegeben. Das englische Team war zu stark gewesen und das mussten sie anerkennen. Die Spieler setzten sich verschwitzt auf den Boden und ihre Kameraden boten ihnen Zigaretten an.

Heinrich war erschöpft. Sein Gegenspieler hatte ihm alles abverlangt, aber der deutsche Läufer war glücklich. In diesen neunzig Minuten hatte er keine Zeit gehabt, an den Krieg zu denken. Ein einziger Außenstürmer hatte diesen Gedanken ausgelöscht.

Jetzt saß der Engländer kaum zwanzig Meter von Heinrich entfernt auf dem Boden und rauchte. Um ihn herum lärmten die Kameraden. Deutsche wie Engländer hatten sich vermischt und die Offiziere sahen dem Treiben zu. Sie hielten Distanz. Nickten einander freundlich zu und winkte eine Geste, ein frohes Weihnachten hinüber. Aber sie verließen ihre Plätze nicht. Sie waren Offiziere und hatten die Stellung zu halten und in zwei Tagen gaben sie wieder den Schießbefehl.

Heinrich beobachtete den kleinen Engländer, der ihm auf dem Feld arg zugesetzt hatte. Er war wirklich ein guter Fußballer. So einen wie ihn gab es in Heinrichs Heimat nicht. Die Spieler, mit denen er es dort zu tun hatte, schlugen die Bälle einfach nach vorne und rannten ihnen nach. Diese technischen Fertigkeiten waren ihnen fremd und Heinrich musste zugeben, dass er es als Ehre empfand, gegen ihn spielen zu dürfen. Sicherlich war er in einem großen Verein.
Da wandte der Engländer seinen Blick und beide sahen sich in die Augen. Es waren kleine, braune Augen, in denen Heinrich einen winzigen, glänzenden Punkt entdeckte und in diesem Augenblick wusste er, dass ihnen beide das Spiel Freude bereitet hatte.

Heinrich stand auf, ging hinüber, blieb vor dem anderen Stehen und sie grinsten sich an, während der Engländer an der Zigarette zog. Heinrich streckte die Hand aus und der andere ergriff sie wortlos. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke erneut und ruhten ineinander. Dann ließen sich die Hände los. Heinrich wandte sich um und ging.

Noch während des nächsten Tages ruhte der Krieg. Die Kameraden saßen in den Unterständen, aßen und sangen Lieder. Manchmal kletterte einer der Kameraden hinaus und winkte hinüber. Sie sahen die Gestalten der Engländer, die ihren Gruß erwiderten, aber sie trafen einander nicht mehr. Sie besaßen nur noch die Erinnerungen an dass Spiel und sie sprachen davon in den engen, schlecht beleuchteten Verhauen, die sie hier an der Front provisorisch angelegt hatten. Es war eine feine Begegnung gewesen und vielleicht, aber nur vielleicht, gab es irgendwann einmal die Gelegenheit zur Revanche.

Als der Abend anbrach legten sich die Kameraden nieder, ein letzter Schluck des Bieres und eine Zigarette, noch einmal leises Gelächter und ein Gedanke an den Außenstürmer, von dem Heinrich immer noch nicht wusste, wie er gegen ihn spielen konnte. Darüber schliefen sie ein.


Der Morgen war kalt und grau und es hatte Nachtfrost gegeben, dass die Erde auf der Späherposition mit der Kälte durch Heinrichs Uniform zog. Er legte den Kopf flach auf den Boden. Es war die einzige Möglichkeit, nicht von einem umherirrenden Granatsplitter getroffen zu werden. Er durfte nicht mehr an das Spiel denken. Nun galten die Gedanken wieder dem Kaiser und dem Vaterland und dem hohen Surren der Gasgranaten, denn sie brachten den Tod.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Weihnachten in Flandern"

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: Uwe   Datum: 21.12.2014 9:15 Uhr

Kommentar: Mark, danke dir!

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: axel c. englert   Datum: 21.12.2014 10:59 Uhr

Kommentar: Unglaublich - dies Erzähl - Talent!
(Obwohl man es von Dir ja kennt...)

LG Axel

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: Mark Gosdek   Datum: 21.12.2014 15:57 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Euch beiden. So langsam verabschiede ich mich nun in den Weihnachtsurlaub. Ich wünsche Euch frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr. LG Mark

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: axel c. englert   Datum: 21.12.2014 17:51 Uhr

Kommentar: Lieber Mark!

Viele Grüße auch von mir!
(Krause ist ein Fan – von Dir…)

LG Axel

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: Hans Finke   Datum: 22.12.2014 20:54 Uhr

Kommentar: ...ich war nach dem Lesen arg still; wusste ja bereits aus vielen Schriften, dass es ähnliche Weihnachtsszenen später auch zwischen Franzosen und Deutschen gab. Aber die verrückte Unnatürlichkeit einer solchen Situation, die das eigentlich Selbstverständliche zwischen Menschen zur Perversion gefrieren ließ, ist immer wieder deprimierend: Man trinkt vom Bier oder Wein des Feindes, teilt Zigaretten, lernt sich schätzen – um ein paar Stunden später den Sportkameraden, im Namen von Kaiser, Ehre und Vaterland, oh Ja, wieder soldatisch-sauber zu töten. – Man kann es nicht oft genug vor Augen führen; der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das alles kroch (Brecht). – LG Hans und: Frohe Weihnachten, Mark

Re: Weihnachten in Flandern

Autor: Mark Gosdek   Datum: 23.12.2014 4:34 Uhr

Kommentar: Ja, Hans mit Deinem Komementar hast Du Gedanken beschrieben. Es zeigt, wozu der Mensch fähig ist. Es lässt hoffen und frieren gleichzeitig. Ich wünsche Dir auch frohe Weihnachten. LG Mark

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