Das Hotel lag unweit des Düsseldorfer Hauptbahnhofes in einer Seitenstraße. Von außen unterschied es sich kaum von all den Nachbarhäusern, wenn nicht das kleine Schild über dem Eingang in seinen schmutzigen Lettern darauf hingewiesen hätte, um welche Art Haus es sich handelte.

Es war kein gutes Hotel. Eine kurze Zeit hatte es eine Blütezeit erlebt, aber das war schon lange her. Früher wohnten durchreisende Geschäftsleute dort und einmal war sogar ein Filmschauspieler hier abgestiegen. Seine Photographien hingen nun in sämtlichen Korridoren der vier Stockwerke. Sie wirkten so verblasst wie die Tapeten mit dem scheußlichen grünen Karomuster, die irgendwann vor der deutschen Wiedervereinigung von einem talentlosen Malerlehrling angeklebt worden waren und sich nun verzweifelt an den Wänden krallten. Nun kamen nur noch wenige Gäste. Die meisten verirrten sich durch Zufall in dieses Hotel und blieben aus Erschöpfung für eine Nacht. Dann gingen sie wieder fort und warfen keinen Blick zurück.

Die meiste Zeit wurde das Hotel stundenweise genutzt. Die Damen des naheliegenden Bahnhofsviertels brachten dann ihre Kunden mit. Es störte niemanden und da das Hotel für diese Zwecke sauber und verschwiegen war, besaß es bei den Prostituierten der Umgebung einen guten Ruf.

Was das Hotel für sie jedoch besonders machte, war der Aufzug. Hier mussten die Damen mit den Kunden keine schmalen Treppen emporsteigen, um zu den Zimmern zu gelangen. Der Aufzug verlieh der ganzen Sache einen gewissen Stil und die Damen des Bahnhofviertels, welche dieses Hotel für ihre Zwecke nutzen konnten, bekamen das Gefühl, einer gehobenen Klasse ihres Berufsstandes anzugehören.

Der Aufzug war nicht besonders groß und mit grauen Raufaserplatten ausgekleidet, die ihn noch enger wirken ließen. Aber vier Gäste passten hinein und dies war immerhin mehr, als die anderen Hotels überhaupt zu bieten hatten.

Darüber hinaus verfügte das Hotel auch über einen Liftboy. Er stand den ganzen Tag im Aufzug und fuhr die Gäste in die Etagen. Der Hoteldirektor hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn in eine blaue Uniform mit goldenen Epauletten zu stecken und die mächtige Kappe auf seinem Kopf ließ ihn höchst offiziell wirken, dass die Gäste sich auf den wenigen Quadratmetern des Aufzuges in einem der Nobelhotels auf der Hauptstraße wähnten.

Der Liftboy sprach nie mit den Besuchern. Wenn sie vom Empfang aus mit ihren Begleitungen kamen, trat er aus der engen Kabine heraus. Erst wenn sie im Aufzug waren, ging er wieder hinein und fragte sie nach dem Stockwerk. Dann drückte er den Knopf und stand mit seiner Nase so dicht vor der Kabinentür, dass die feinen Haare auf dem Nasenrücken kribbelten. In den oberen Etagen trat er wieder als erster aus der Kabine und verkündete höchst formell „zweiter Stock“ oder „bitte sehr“.

Manche der männlichen Begleitungen waren irritiert. Sie glaubten, dass es sich um eine Art Show handeln würde, welches sich das Hotel eigens zu ihrer Unterhaltung ausgedacht hatte. Die Damen jedoch lächelten dem Liftboy zu. Seine Miene aber blieb unverändert. Gingen sie vorbei, sah er ihnen nach und erst wenn seine Fahrgäste in einem der Zimmer verschwunden waren, trat er zurück in den Aufzug und fuhr wieder hinunter. Dies war seine ganze Tagesbeschäftigung. Gegen zehn Uhr abends verließ er seinen Posten, zog die Uniform aus und ging nach Hause.

Das Hotel war stolz, einen Liftboy zu besitzen; aber sie zahlten ihm nichts dafür. Der Liftboy hatte auch nie danach gefragt. Er war ein älterer Mann um die siebzig und trug einen mächtigen Schnauzbart, der ihn noch älter wirken ließ. Der Mann machte seine Sache gut. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und wenn eine der Prostituierten mit ihrem Freier in den Aufzug stieg, sagte er nichts.

In der ersten Zeit trauten die Damen ihm nicht. Sie beobachteten ihn misstrauisch und nachdem ihre Freier ausgestiegen waren, blieben sie einen Augenblick bei ihm stehen und raunten ihm ins Ohr:
„Sind sie von der Sitte?“
„Ich bin der Liftboy“, antwortete dann der Mann und sah die Kunden an, die im Korridor bereits warteten.

Nach einer Weile aber hatten sich die Damen an ihm gewöhnt und es sprach sich schnell herum, dass ein neuer Hotelangestellter die Etagenknöpfe im Aufzug drückte. Das der Liftboy eine Uniform trug, wertete das gesamte Hotel auf und die Prostituierten waren nun stolz darauf, ein Hotel zu nutzen, in dem sie von einem uniformierten Angestellten mit dem Aufzug hinauf zu ihren Zimmern gefahren wurden.
Dem Liftboy machte es nichts aus, wohl aber den Kunden. Es gefiel ihnen nicht, dass sie mit einem fremden Mann im engen Aufzug zusammenstanden, während sie mit der Prostituierten zu dem Zimmer fuhren. Aber auch das war dem Liftboy egal. Er bediente seinen Aufzug und sprach mit niemand. Auch nicht mit den Damen, die immer wieder einkehrten und er sie nach einer Weile bereits ganz gut kannte.
Da war Dolores, die dieses Hotel als ihr Stammhaus auserkoren zu haben schien. Für Damen ihres Berufes war sie schon ein wenig älter, aber gerade das schien sie für die Männer interessant zu machen. Wenn Dolores den Aufzug verließ, sagte sie immer „Vielen Dank“ und der Liftboy neigte stumm den Kopf zu einem Diener. Doch sah er ihr nicht nach. Manchmal kam auch Gwennie. Sie zwinkerte ihm zu und wieder regte sich nichts im Gesicht des Mannes.

Wenn die Stunde vorüber war, benutzten die Freier manchmal die Treppe und die Damen fuhren allein mit dem Aufzug nach unten. Der Liftboy stand dann immer noch dicht vor der Aufzugstür, dass seine Augen die feine Maserung in den Raufaserplatten unterscheiden konnten. Er hörte dabei, wie die Damen in ihren Handtaschen kramten. Manchmal stellte er sich vor, wie sie ihre Lippen mit einem Stift nachzogen und sich für einen neuen Kunden vorbereiteten. Für sie war es Arbeit, genauso wie für ihn die Fahrten mit dem Lift.

Warum er kein Geld für seine Arbeit verlangte, erzählte der alte Mann niemanden. Aus seiner Sicht war es nicht ihre Sache, dass seine Frau gestorben war und er sich als Pensionär zu Hause nun so einsam fühlte, dass er es dort nicht aushielt. Früher einmal hatte er in diesem Hotel zu tun gehabt. Als er tatsächlich noch bei der Sitte war und ihm immer wieder auffiel, wie unpersönlich dieser Aufzug gewesen war, so leblos wie nun seine Wohnung. Aber das war schon lange her. Niemand erinnerte sich mehr an ihn, ganz besonders, nachdem er sich diesen dichten Schnauzbart wachsen ließ. Das Hotel stellte ihn an und wenn er nun auch nicht mehr offiziell tätig war, so hatte er doch zumindest das Gefühl, aufzupassen. Dies war das einzige, was er konnte. Nun war er der Liftboy, der die Damen mit ihren Kunden in die Etagen geleitete.

Die meisten Freier waren schüchtern, wenn sie den Aufzug betraten. Sie senkten ihre Blicke, obwohl der Liftboy ohnehin an ihnen vorbei sah. Dolores Freier waren fast immer ältere Männer, die in ihr eine besondere Abwechslung sahen. Manchmal brachte sie aber auch junge Burschen mit, die es kaum erwarten konnten, eine reifere Frau flach zu legen. Die jungen Männer waren frecher als die alten. Sie machten sich einen Spaß daraus, schon im Aufzug ihre Anzüglichkeiten loszulassen. Dolores lächelte sie unverbindlich an und der Liftboy tat, als hätte er nichts gehört. Er starrte auf die Tür, während sich der Aufzug empor arbeitete. Wenn sie ausstiegen, sagte Dolores ihr gewohntes "Vielen Dank" zu ihm. Die jungen Burschen grinsten den Liftboy triumphierend an. Diesen Kunden sah der Liftboy ganz besonders nach.

Während seiner Zeit bei der Sitte hatte er genug von ihnen kennen gelernt, um zu wissen, wie sie waren. Entweder waren sie zu unsicher oder zu sicher. Doch beides konnte für die Damen schlecht enden.
Wenn Dolores einen dieser Kunden mitbrachte, wartete der Liftboy auf der Etage, bis sie wieder herauskamen. In dieser Zeit fuhr er nur hinunter, wenn jemand den Aufzugsknopf drückte. Meist dauerte es eine halbe Stunde. Der Liftboy wurde dabei nicht müde. Wenn sich die Zimmertür schließlich öffnete, kamen zuerst die Freier heraus. Manche von ihnen wirkten zufrieden. Sie grinsten den Liftboy an und betraten den Aufzug mit einer Selbstverständlichkeit, als ob ihnen fortan die Welt gehören würde. Dolores kam ein wenig später. Sie wirkte immer etwas erschöpft und der Liftboy trat aus dem Aufzug heraus, um ihr Platz zu machen. Während sie nach unten fuhren, sprach keiner von ihnen ein Wort. Erreichten sie das Erdgeschoss, stürmten die Männer heraus und Dolores folgte ihnen langsam.

Wenn der Liftboy auch immer wachsam beobachtete, so geschah meist doch nichts. Die Freier blieben friedlich, schienen sich allein auf ihr Vergnügen zu konzentrieren. Doch er traute ihnen nicht, so wie er in seinem Leben niemanden vertraut hatte, bis auf seiner Frau. Nun aber war er allein und lauschte auf verdächtige Geräusche, dem einzigen, was ihm aus seinem vergangenen Leben geblieben war.
Dolores schien das zu wissen. Bevor sie mit ihren Kunden in das gemietete Zimmer ging, blieb sie einen Augenblick vor der Tür stehen und warf dem Liftboy einen dankbaren Blick zu. Der Liftboy nickte ihr dann aufmunternd zu und Dolores folgte ihrem Kunden ins Zimmer. Sie schloss die Tür immer ganz leise und für den Liftboy war dies das Zeichen, dass sie sich nun in ihren intimsten Bereich begeben hatte, der ihm verschlossen bleiben würde. Er hegte auch nicht den Wunsch, darin einzudringen. Nur einmal.

Wie gewöhnlich stand er vor der geöffneten Aufzugtür und wartete. Dolores hatte das vorderste Zimmer der Etage erhalten und so fiel es dem Liftboy leicht, die ersten Anzeichen des Geschreies zu hören. Es begann mit erhobenen Stimmen. Der Freier, ein junger Bursche Mitte zwanzig, mochte wohl schon etwas angetrunken sein und mit einem arroganten Zug um den Mundwinkel, schien er nun in diesem Zimmer Dolores erklären zu wollen, dass es nur sein Wille sei, der sich mit ein paar Euroscheinen das Recht der Durchsetzung erkauft hatte. Und Dolores, so wie der Liftboy vermutete, war dieses Mal damit nicht einverstanden.

Für einen Augenblick überlegte der Liftboy, ob es eine dieser Situationen sein mochte, auf die er immer gewartet hatte. Bei der Sitte war es keine Frage gewesen. Nun aber war er nur noch Angestellter des Hotels und so überlegte er, ob er das Recht habe, einzugreifen. Dann eilte er zur Tür und klopfte. Als sie sich öffnete, erschien Dolores´ Kopf und ihre Augen sahen ihn fragend an. Hinter ihr konnte der Liftboy den Burschen erkennen, wie er mitten im Raum stand und Dolores hinterherrief, dass er ihr diese Störung vom Preis abziehen würde.

Dolores ignorierte ihn, doch nicht der Liftboy. Er schob die Frau beiseite und ging in das Zimmer. Zunächst wehrte der Kunde sich. Der Liftboy besaß aus seiner Zeit als Polizeibeamter jedoch so viel Erfahrung, dass es dem Burschen nichts nützte. Dolores stand noch immer an der Tür, als ihr Kunde an ihr vorbeigeschoben wurde und der Liftboy ihn in den Aufzug stieß. Dann fuhr er ihn hinunter und geleitete ihn mit festem Griff am Kragen durch die Ausgangstür.
Später fuhr er wieder zu Dolores hinauf. Die Zimmertür stand einen Spalt weit auf und der Liftboy trat ein. Dolores saß auf dem Bett und faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie blickte auf, als der Liftboy eintrat und die Spitzen seines Bartes zuckten.

"Ich fahr sie runter", sagte er zu ihr.
Der Streit mit dem Kunden hatte so früh begonnen, dass Dolores ihre Kleidung bislang noch nicht ausgezogen hatte. Ihre dünne Lederjacke lag fest um ihre Schultern gezogen und der Liftboy hielt der Frau seine Hand entgegen. Er hielt sie immer noch, als die beiden den Aufzug bestiegen und die Art, wie er ihre Finger führte, ließen Dolores glauben, sie sei eine Dame. Wenigstens für ihn.
Der Liftboy geleitete sie so bis zum Ausgang. Aber er sah ihr nicht nach. Der Empfangschef an der Rezeption schaute den Liftboy verwundert an. Doch sagte er nichts und der Liftboy tat ebenfalls, als wäre nichts geschehen.

Nun gewöhnte Dolores es sich an, immer mit dem Aufzug zu fahren. Manchmal kam sie sogar in ihren Pausen herüber. Der Liftboy fuhr sie dann mit der gleichen Ernsthaftigkeit durch die Stockwerke und Dolores stand hinter ihm. Doch der Liftboy drehte sich nicht um.
Wenn es auch Dolores war, die bei weitem die häufigsten Fahrten mit dem Aufzug antrat, so kannte der Liftboy doch auch alle Kolleginnen von ihr und es sprach sich herum, dass der alte Angestellte es Dolores irgendwie angetan hatte. Die Damen lachten darüber. Jede von ihnen wusste, dass man sich nicht in einen Kunden verlieben sollte. Aber der Liftboy war kein Kunde und das machte die Angelegenheit in ihren Augen sogar irgendwie romantisch. Viele von ihnen beneideten Dolores sogar um diese seltsame Romanze und wenn sie mit dem Aufzug fuhren, blieben sie mit Ehrfurcht hinter dem Liftboy stehen. Die einzige, welche sich darüber ärgerte, war Gwennie.

Sie konnte nicht glauben, dass es einen Mann geben mochte, der in Dolores tatsächlich die Frau sah. Für Gwennie waren alle Männer gleich und sie fest entschlossen, das auch zu beweisen. Wenn sie Stunden damit verbracht hatte, ergebnislos auf einen Kunden zu warten, ging sie hinüber in das Hotel und betrat den Aufzug. Immer gab sie dabei das oberste Stockwerk an und der Liftboy drückte schweigsam die Nummer und stand mit der Nase vor der Tür. Gwennie trat dann ganz nah hinter ihm heran. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, kam sie mit dem Kinn über seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr.
„Na, wie wär es denn mit uns beiden?“

Der Liftboy drehte sich nicht um und er antwortete ihr auch nicht. Gwennie konnte das nicht entmutigen. Manchmal strich sie ihm über die Schulterpolster der Uniformjacke und spielte mit den Epauletten. Wenn die Aufzugstür sich öffnete, stieg der Liftboy aus und wies mit der Hand in den Etagenflur. Meist blieb Gwennie im Aufzug stehen und sagte, sie wolle nun wieder hinunterfahren. Dann stieg der Liftboy wieder ein und drückte den Knopf des Erdgeschosses. Auf der Fahrt nach unten verhielt Gwennie sich still und unten angekommen zwinkerte sie dem Mann auffordernd zu. Niemals konnte sie in seinem Gesicht jedoch eine Regung feststellen.

„Vielleicht mag er zwei Frauen“, dachte Gwennie bei sich und brachte für die nächste Fahrt eine Freundin mit. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, der Liftboy sprach nicht mit ihnen und ließ sich auch nicht dazu überreden, mit in eines der Zimmer zu gehen. Er fühlte sich nicht bedrängt und er fühlte sich nicht geschmeichelt. Es war ein Spiel.

Auch sprach er nie mit Dolores darüber. Irgendwie aber schien sie von der Sache erfahren zu haben. Vielleicht hatte Gwennie es ihr auch selber erzählt. Eines Tages jedenfalls kam Gwennie nicht mehr vorbei und der Liftboy konnte sich nur vorstellen, dass Dolores dabei die Finger im Spiel haben musste und dies war etwas, was ihm wirklich gefiel.

Wenn nun Dolores zu ihm in den Aufzug trat, verspürte er eine gewisse Freude und er genoss es, die Etagenknöpfe einzeln zu wählen. Dolores versuchte keine Annäherungsversuche ihm gegenüber. Sie blieb an der Kabinenrückwand stehen und gemeinsam fuhren sie schweigsam die Etagen empor.

Mit der Zeit gewöhnte es sich der Liftboy an, jeden Abend seine Uniform zu bürsten und die Epauletten zu putzen. Er stellte sich vor, dass Dolores es bemerken würde. Wenn sich seine Nase nun an die Kabinentür rieb, war es ihm, als starre Dolores auf seine Epauletten und der alte Mann nahm sich vor, sie am Abend erneut zu putzen, dass sie am nächsten Tag noch mehr strahlten.

Dolores brachte keine Kunden mehr mit in das Hotel. Wohin sie nun mit ihnen ging, blieb den Liftboy verborgen. Nicht aber, dass sie nur noch zum Vergnügen mit ihm fuhr und fast wurde es ihm zuwider, jemand anderes als sie zu fahren.

Wenn Dolores den Aufzug verließ sagte sie immer noch „Vielen Dank!“ zu ihm. Aber die beiden sahen sich nicht an und der Liftboy sah ihr immer noch nicht nach. Er wartete bereits auf die nächste Fahrt und vielleicht – so stellte er sich vor – sie auch.

Einige Wochen vergingen, in denen die beiden schweigsam mit dem Aufzug fuhren und fast war es für den Liftboy eine Gewohnheit, die er nicht mehr missen wollte. Dann kam Dolores eines Tages nicht und er wartete vergebens.

„Bestimmt ist sie krank“, dachte er und bei diesem Gedanken machte er sich Sorgen. „Vielleicht nur eine Grippe“, beruhigte er sich selber und er wartete weiter. Aber auch an den folgenden Tagen kam sie nicht und der Liftboy vermutete, dass etwas ernsthaftes sie aufhielt. Manchmal in den Tagen war er versucht, eine ihrer Kolleginnen nach ihr zu fragen, wenn sie mit ihren Kunden zu den Zimmern fuhren. Letztendlich aber unterließ er es und so wusste niemand etwas von seinen Gedanken.

Dann kam der Tag, an dem er die Epaulette von seiner rechten Schulter nahm. Er legte sie zu Hause in den Wohnzimmerschrank. Der Mann an der Rezeption wunderte sich über die Uniform, die nur noch links die Epaulette trug.

„Der Alte wird langsam schusselig“, dachte er bei sich, aber er sprach den Liftboy nicht darauf an. Auch nicht, als am folgenden Tag die linke Epaulette ebenfalls fehlte.

„Vielleicht sollte ich es dem Chef erzählen“, dachte der Angestellte an der Rezeption bei sich. „Der Alte ruiniert die ganze Uniform“, und bei dem Gedanken, dem Hotelbesitzer diese Nachlässigkeit anzuzeigen, lächelte er. Der Liftboy aber achtete nicht darauf. Er stand in seinem Aufzug und wenn die Gäste kamen, trat er heraus, ließ sie einsteigen und fuhr sie dann hinauf. Die Damen, welche an seinen Anblick gewöhnt waren, sagten ebenfalls nichts zu den fehlenden Epauletten. Doch wunderten sie sich darüber, aber dann konzentrierten sie sich wieder auf ihre Kunden.

Von nun an fehlte jeden Tag ein Stückchen mehr von der Uniform. Als nächstes nahm der Liftboy die Verzierungen an den Ärmelaufschlag ab. Zunächst rechts, dann links. Später die Jackenknöpfe. Von unten nach oben fehlten sie, bis die Jacke schließlich offen stand und das gebügelte, weiße Hemd darunter zum Vorschein kam.

„So geht das nicht“, sagte der Rezeptionist, doch der Liftboy hörte ihm nicht zu. Stattdessen schnitt er die Borden seiner Hose ab und nur noch die Mütze erinnerte an die einstmals so schmucke Uniform. Doch entfernte der Liftboy auch von ihr die goldene Kordel und die Übernähte, dass sie nur noch wie eine einfache Mütze wirkte.

Schließlich fehlte sie ganz. Der Liftboy hatte sie zu Hause auf die Kommode gelegt und nun erschien er in der knopflosen Jacke und der ausgebeulten Hose. Er rasierte sich sogar den Schnauzbart ab, dass der Rezeptionist ihn im ersten Augenblick nicht wiedererkannte.
Die Damen begannen sich, vor ihm zu fürchten.

„Irgendwie ist der Alte verrückt geworden. Hast du gesehen, wie der guckt?“ fragten sie und nun fuhren sie nicht mehr mit dem Aufzug zu ihren Zimmern. Überhaupt mieden sie das Hotel. Der Anblick des entblätterten Mannes war ihnen nicht geheuer und der Rezeptionist, der sehr wohl bemerkte, dass es einzig an dem Liftboy lag, wusste, dass er es nun dem Hoteldirektor melden musste. So rief er ihn an und der Hoteldirektor versprach, am nächsten Tag ins Hotel zu kommen und die Sache zu klären.

Am folgenden Morgen traf er früh ein. Doch nicht der Liftboy und so lange der Hoteldirektor auch wartete, er kam den ganzen Tag nicht. Er kam überhaupt nicht mehr und der Aufzug blieb unbesetzt.

Bei den Prostituierten sprach es sich schnell herum, dass der alte Liftboy nicht mehr da war. Da das Hotel in unmittelbarer Nähe lag, kamen sie zurück und nutzten die Zimmer wieder. Nun drückten sie die Etagenknöpfe selbst, wenn sie mit ihren Kunden nach oben fuhren. Die enge Kabine mit ihrer Raufaserverkleidung hatte den Glanz verloren, welcher ihr allein von der Anwesenheit des Liftboys geschenkt worden war. Aber immerhin fühlten sich die Männer nun weniger befangen.
Als Dolores eines Spätnachmittags das Hotel betrat, erkannte sie der Empfangschef an der Rezeption nicht. Das dunkelblaue Kostüm mit den zierlichen Schulterklappen und goldenen Knöpfen wirkte elegant. Zu elegant für den Empfangschef, der es gewohnt war, dass sich die Damen nachlässiger kleideten und da er nie in ihre Gesichter sah, weckte Dolores keine Erinnerung in ihm.
„Ja, bitte?“ fragte der Empfangschef und zog die Augenbraue ein wenig hoch.

Dolores aber beachtete ihn nicht und ging hinüber zum Aufzug. Die Tür war so schmuddelig, wie Dolores sie aus ihrem früheren Leben kannte. Sie hoffte, dass alles so war, wie immer. Wenigstens in diesem Aufzug. Den Rest hatte sie hinter sich gelassen. Sie hatte ein paar Wochen dafür gebraucht, aber sie wusste, warum sie es tat.

Dass der Aufzugsknopf ein wenig klemmte, hatte sie vergessen. Zu lange hatte sie ihn schon nicht mehr nutzen müssen. Das erledigte immer der Liftboy für sie. Sie drückte ein paar Mal darauf; dann hörte das Klicken aus der Höhe des Schachtes und wusste, dass der Aufzug sich in Bewegung setzte. Als die Tür sich öffnete, sah Dolores in die leere Kabine.

Sie starrte so lange hinein, dass die Tür sich wieder schloss und sie erneut den Knopf drücken musste. Der Empfangschef sah zu ihr hinüber, dann aber verlor er das Interesse an ihr und blätterte in einer Zeitung, die er auf dem Tresen ausgebreitet hatte. Dolores kam zurück.
„Wo ist der Liftboy?“ fragte sie den Empfangschef.

„Schon seit Wochen nicht mehr da“, sagte er, ohne von seiner Zeitung aufzublicken.
„Wo ist er hin?“ fragte Dolores.
Der Mann zuckte mit den Schultern.
Dolores sah wieder zu dem Aufzug hinü
ber, dessen Tür sich gerade wieder schloss. Diese Mal hatte eine ihrer ehemaligen Kolleginnen ihn wohl angefordert. Dolores tat einen Schritt auf den Empfangschef zu und legte ihre Hand auf den Tresen. Einer der Kostümknöpfe schrappte an den Rezeptionsrand. Der Mann sah jedoch nicht auf und Dolores zog die Hand wieder fort.

Noch einmal blickte sie hinüber zu dem Aufzug. An den sinkenden Etagennummern erkannte sie, dass er wieder herunterkam. Sie wusste, was das bedeutete. Dolores atmete tief ein. Dann wandte sie sich um und verließ das Hotel.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Der Liftboy"

Re: Der Liftboy

Autor: noé   Datum: 22.11.2014 11:58 Uhr

Kommentar: Eine schöne Studie, ich dachte die ganze Zeit, dass in der nächsten Szene etwas passieren würde, von Dir subtil erarbeitet. Und merkte erst am Schluss, dass die ganze Geschichte "passierte". Du hast das spannungs-beladen erzählt und bist dennoch entspannend mit dem Thema umgegangen.
Der letzte Absatz hat mich - nach DER Geschichte - aber etwas enttäuscht und wirkte auf mich wie ein Deckel, der einfach so draufgesetzt worden ist.
Und: Die zuerst entfernten Dinger sind Epauletten, Pailletten sind nur aufgenähte Glitzerplättchen, meistens rund und nur des Glitzereffektes auf Kleidern verteilt.
Tut der Geschichte aber keinen Abbruch. Ich weiß ja, dass Du die ruhigen Studien mit Könnerschaft liebst.
noé

Re: Der Liftboy

Autor: Mark Gosdek   Datum: 22.11.2014 13:06 Uhr

Kommentar: Hallo noé, vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich werde mal ruhig darüber nachdenken. Wichtig ist ja, wie das Ende wirkt und vielleicht kann ich den Schluss noch ein wenig überarbeiten. Danke für Deine Anregungen. Mark

Re: Der Liftboy

Autor: axel c. englert   Datum: 22.11.2014 15:05 Uhr

Kommentar: Lieber Mark!

Wär’ Dein Name nicht genannt –
Als Autor hätt’ ich Dich erkannt!
Du besitzt Deinen eigenen Stil –
Das sagt künstlerisch sehr viel…

LG Axel

Re: Der Liftboy

Autor: Uwe   Datum: 22.11.2014 15:51 Uhr

Kommentar: Gute Erzählweise guten Inhalts, Mark. (Trotz hoher Erwartung nicht anders zu erwarten bei dir.)
Herzl. Gruß
Uwe

Re: Der Liftboy

Autor: Mark Gosdek   Datum: 22.11.2014 17:36 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Axel und Uwe. Besonders, dass Ihr Euch durch die Geschichte gearbeitet habt, ist schon ziemlich lang. LG Mark

Re: Der Liftboy

Autor: Ellena V. Schürer   Datum: 23.11.2014 0:45 Uhr

Kommentar: Toll geschrieben. Wollte nur überfliegen, bin aber hängen geblieben. LG

Re: Der Liftboy

Autor: Mark Gosdek   Datum: 23.11.2014 5:45 Uhr

Kommentar: Hallo Ellena, das ist das schönste Kompliment, dass Du mir geben kannst. Vielen Dank und LG Mark

Re: Der Liftboy

Autor: Mark Gosdek   Datum: 29.11.2014 6:11 Uhr

Kommentar: Den Schluss habe ich nun geändert, vielen Dank für die Anregung, Noé

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