Er lief mit den anderen hinter den Flüchtigen her. Sie waren bereits durch die halbe Stadt gelaufen. Auf dem Kopfsteinpflaster klackerten ihre Schritte im wirren Stakkato und sprangen von den Häuserwänden herab auf die Läufer zurück, die sich als einzige in der Spätnachmittagssonne des Tages noch auf den Straßen aufhielten.

Arthur hechelte hinter den anderen her. In den letzten Monaten war er ein wenig dick geworden und das Gewicht trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Zu lange hatte der Winter gedauert und die Nächte in der Wachstube waren eintönig gewesen, dass er zuviel vom Essen und dem Wein genossen hatte. Jetzt zahlte er den Preis dafür.

Doch mühte er sich eifrig. Es war eine gute Arbeit und er wollte sie nicht verlieren. In diesen Zeiten war es nicht einfach, etwas Neues zu finden. Arthur hatte nichts gelernt, er war immer schon Soldat gewesen. Kein besonders guter, das wusste er. Nicht eine Belobigung hatte er erhalten, geschweige denn eine Auszeichnung. Aber er war recht mittelmäßig, ein idealer Mann für die Masse. Solche Leute brauchte der Kaiser. Männer, die nicht auffielen; nur das taten, was ihnen befohlen wurde und sich im Winter in der Wachstube langweilten. Darum versuchte Arthur, den Anschluss an die Verfolger nicht zu verlieren.

Die drei Flüchtigen konnte er nicht sehen. Er orientierte sich an seinem Vordermann, der gut zwanzig Schritte vor ihm lief und ließ ihn nicht aus den Augen.

Sie kamen in den Südteil der Stadt und noch immer schienen die Verfolger die Flüchtigen nicht einzuholen. Vor ihnen lag das Handelskontor mit dem riesigen Eichentor im Bogen, dessen Flügel am Tage ständig geöffnet stand und den Weg hinunter zum Flussufer wies.
Dort unten am Ufer würde es schwer werden, die Flüchtigen einzuholen. Hier standen die Baracken der Armen ganz dicht beieinander und die Zahl der Schlupfwege stieg ins Unermessliche.

Als ie Gruppe der Verfolger durch den Torbogen lief, erkannte sie gerade noch, wie der letzte Flüchtling in das Viertel abbog. Arthur hinter ihnen bekam Seitenstechen, dass er innehalten musste, sich mit den Händen auf den Knien abstützte und tief durchatmete.Nein, er war nicht in Form, vielleicht würde er es niemals wieder sein. Aber er war Soldat und seine Aufgabe bestand darin, die drei Flüchtigen zu fassen.

Was sie getan hatten, wusste er nicht genau. Zuviel passierte in dieser Stadt, als dass es eine Rolle gespielt hätte und oftmals griffen die Soldaten überhaupt nicht mehr ein. Dieses Mal aber hatten sie den Auftrag direkt vom Kaiser erhalten, der mit zusammen gekniffenen Augen auf dem Podest am Marktplatz stand, mit ausgestrecktem Finger auf die drei gewiesen und dabei „Ergreift Sie!“ gerufen hatte. Dies war Straftat genug gewesen.

Die Gruppe der Verfolger war bereits unten an den Baracken angelangt und nun ebenfalls in das wirre Labyrinth verschwunden. Arthur hatte sich ein wenig erholt, richtete sich wieder auf und schritt nun auf den Torbogen zu, dessen mächtige Eichenflügel zur Seite des Flusses offen standen und somit unter dem Handelskontor im tiefen Schatten lagen.

Arthur wusste, dass er seine Kollegen nicht mehr einholen konnte und ging langsam auf den Bogen zu, der sich mit jedem Schritt mächtiger vor ihm erhob. Die Stille der Straße verband sich mit der Größe des Gebäudes und es wirkte wie ein Geheimnisträger, der gelernt hatte, seinen Mund auf ewig zu verschließen.

Arthur vergaß den Fluss. Er betrachtete die Eichenflügel, an die vier Meter hoch und so schwer, dass es des Morgens drei Männer bedurfte, sie zu öffnen. Schon ertrank sein Fuß im Schatten des Torbogens, dann sein Arm, sein Körper, sein Kopf und er war vollends in der Dunkelheit des Mauerwerkes eingesunken. Es war wie das Gewölbe eines Geheimganges und fast roch er den modrigen Geruch der Tiefe, jedenfalls aber die Kälte der Seine, die niemals einen Sonnenstrahl erhaschen konnte. Arthur blieb stehen und hielt den Atem an.

„Er ist hier“, dachte er, „er steht hinter diesem Tor.“
Nichts an diesem Ort hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht und trotzdem war er sich dessen gewiss. Auch unter den Armen gab es Leute, die nicht die Luft zu solchen Läufen besaßen. Bei ihnen war nicht das Essen schuld und auch nicht der Wein, sie konnten es einfach nicht.
Einer von den Flüchtigen hatte es nicht bis hinunter zu Fluss geschafft. Er hatte sich im Schutz dieses Tores versteckt. Arthur konnte es fühlen und überlegte, was nun zu tun sei.

Sicher hätte er nachsehen können. Er hätte den Mann ergreifen können und niemanden wäre aufgefallen, dass es einzig aus dem Grunde gelang, dass Arthur zu fett geworden war.

Doch war dies viel zu einfach, mehr noch, es wäre eine Respektlosigkeit gegenüber dem Flüchtigen gewesen. Wer die Dreistigkeit besaß, die Soldaten dermaßen in die Irre zu führen, der durfte nicht einfach aufgegriffen werden. Er besaß Mut und Arthur war neugierig, wie viel Geduld er darüber hinaus aufbrachte. So stellte der Soldat sich auf die andere Seite des Tores und bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen. Er wartete.

Die Sonne beugte sich langsam unter der Last des Tages und in ihren letzten Zügen wurde sie rot aus Scham über die Dinge, die sie hatte mit ansehen müssen. Eine Stunde war vergangen und noch immer stand der Soldat an dem Tor und lauschte auf Geräusche von der anderen Seite, auf der jedoch nur die Dunkelheit vor sich hinzuschwelen schien.

Es war lang, doch noch nicht lang genug, dass Arthur die Geduld verlor. Der andere musste dort hinter stehen, ganz sicher. Vielleicht war er vorsichtig, vielleicht aber hatte er auch nur Angst. Die Beine versagten ihm den Dienst, waren nicht bereit, aus dem Schatten herauszutreten, da sie wussten, dass der Soldat sie erwartete.
Und auch Arthur konnte sich nicht mehr bewegen, nur warten, ganz gleich wie lange es noch dauerte. Jede Muskelbewegung hätte eine Niederlage bedeutet. Er hatte sich auf dieses Spiel eingelassen und musste es nun zu Ende bringen. Das war er sich selber schuldig. Er war Soldat und hatte einen Befehl auszuführen.

Arthur merkte, wie der Wein des Tages sich bemerkbar machte, doch hielt er den Drang zurück. Noch war es nicht schwierig, es würde schlimmer werden.

„Wenn ich es spüre, muss es der Flüchtling auch irgendwann bemerken“, dachte Arthur und war ein wenig stolz auf seine Logik.

Was für ein Mann stand nur hinter dem Tor? Ein junger Heißsporn oder eher ein alter, schwächlicher Mensch? Wie nur hatten sie den Unmut des Kaisers geweckt? Gehörte denn viel dazu? Heutzutage, wenn der Diebstahl einer Wurst schon mit Kerker bestraft wurde?

Arthur war froh, auf der anderen Seite zu stehen und das nur als unscheinbarer Soldat. Die Helden der Einheit waren fast alle tot. Eingesetzt in unzähligen Aufgaben, trafen sie ihn auf den Schlachtfeldern oder den Straßen der Stadt. Er aber, er lebte weiter, tat seien Dienst und trank seinen Wein. Und hier nun hatte er seine Chance. Wenn er Glück hatte, gelang es ihm als einzigen, einen der Flüchtigen zu fangen.

Die letzte Glut des Tages verglomm hinter den Dächern und ihr folgte die Nacht wie eine Hyäne, um sich über den kümmerlichen Rest herzumachen.Nun breitete sich die Dunkelheit vom Torbogen weiter über den Straßen aus, zunächst nur als Schatten, dann als Herrscher über die Welt.

„Er steht hinter dem Tor“, dachte Arthur noch immer. “Er steht dahinter und ich werde ihn erwarten. Das Schwierigste ist der Moment, herauszutreten.“

Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass nur ein sehr ängstlicher Mensch sich so lange verbergen konnte. Er verband Angst mit alt und schwach und stellte sich vor, wie er ein kleines, verhutzeltes Männchen am Arm ergreifen und zu dem Marktplatz zerren würde. Das Männchen jammerte und flehte, doch der Soldat tat nur seine Pflicht und letztlich würde er den Flüchtigen vor dem Kaiser auf den Boden werden und der Kaiser würde zunächst dem Männchen drohen, dann ihn, Arthur, aber wohlwollend ansehen und „Gut gemacht, Soldat“ zu ihm sagen.

Die Kollegen in der Wachstube würden ehrerbietig mit ihm umgehen und ihren Neid verbergen. Er hatte seinen Auftrag erledigt. Das Männchen würde seine Strafe erhalten. Hunger war kein Grund zum Diebstahl, dass musste jeder wissen.

Arthur könnte vielleicht sogar mit einer Beförderung rechnen. Er würde aufsteigen und der Kaiser ihn mit wichtigeren Aufgaben betrauen. Aufgaben, die seinen Ruhm steigerten und ihn zu einem Helder der Einheit machten. Er wusste, wie es war, zu solchen Leuten hochzusehen. Einige hatten sie schon in der Einheit gehabt. Einige waren es gewesen, doch sie waren alle fort.

Arthur stand so still wie er nur konnte und lauschte. Die Finsternis hatte nun vollends die Stadt in ihrem Würgegriff und bisher war es noch immer ruhig gewesen.

Doch da! Leise, ganz leise hörte er ein Schlurfen, wandte den Kopf zum Rist des Tores, stierte auf die Kante und lauschte so angespannt wie ein Panther vor dem Sprung.

Das Schlurfen blieb leise, doch wurde es regelmäßiger, löste sich immer mehr aus dem tiefsten Winkel des Schattens und Arthur hielt den Atem an. Das Geräusch blieb und doch verwandelte es sich gleichzeitig in noch tiefere Schwärze, die aus dem Spalt hinaus auf die Straße huschte und nun, einen Augenblick stehen blieb, sich duckte, lauschte, wieder aufrichtete und hinunter zum Fluss lief.

Arthur rührte sich nicht. Er war nicht auf den Schatten zugesprungen, stand immer noch starr am Tor und folgte dem Schatten mit seinen Augen, bis er mit den Baracken in einer Masse verschmolz.

Dann trat der Soldat aus dem Torbogen heraus auf die Straßen der Stadt und ging langsam zurück. Nein, er war kein Held geworden, war immer noch ein mittelmäßiger Soldat, der am Abend seinen Wein trank und im Winter zuviel aß. Und er würde bald schon wieder einen guten Soldaten bewundern, seinen Taten lauschen und ihn bald darauf wieder vergessen.

Trotzdem fühlte Arthur sich gut und lächelte bei dem Gedanken. Er war ein guter Soldat, das wusste er nun. Was ihn aber noch viel stolzer machte war die Gewissheit, Recht gehabt zu haben. Er hatte dieses Spiel gewonnen.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Mittelmaß"

Re: Mittelmaß

Autor: axel c. englert   Datum: 09.11.2014 13:48 Uhr

Kommentar: Lieber Mark!

Klug geschrieben – das macht Spaß!
(Geschichte ist KEIN Mittelmaß…)

LG Axel

Re: Mittelmaß

Autor: Mark Gosdek   Datum: 09.11.2014 14:51 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Axel. Vielleicht ist Mittelmaß die befriedigenste Lebensform. LG Mark

Re: Mittelmaß

Autor: cori   Datum: 09.11.2014 17:03 Uhr

Kommentar: Deine Geschichte gefällt mir sehr gut, Mark! Ich kann das Verhalten des Soldaten leicht nachvollziehen. Das Ende gefällt mir besonders - er tat das Richtige, indem er nichts tat. Schön!
(Es haben sich doch so einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen ... wenn du nochmal schauen magst?)

Viele Grüße
Cori

Re: Mittelmaß

Autor: Mark Gosdek   Datum: 09.11.2014 17:28 Uhr

Kommentar: Ja, Cori, manchmal ist Nichtstun sinnvoll. Danke für den Tipp, werde ich überarbeiten. Viele Grüße Mark

Re: Mittelmaß

Autor: noé   Datum: 09.11.2014 19:59 Uhr

Kommentar: Toller Text, Magnus! Und sehr viele poetische und malerische Bilder, die Sonne, die laangsam errötet um dem, was sie im Laufe des Tages gesehen hatte ...
Einige Fehler sind auch mir aufgefallen, es bedarf dreier Männer z. B., aber die schmälern in keiner Weise den Genuss!
noé

Re: Mittelmaß

Autor: possum   Datum: 09.11.2014 22:54 Uhr

Kommentar: Ich sag auch sehr gerne dazu ...Danke... lieber Mark! LG!

Re: Mittelmaß

Autor: Mark Gosdek   Datum: 10.11.2014 5:23 Uhr

Kommentar: Danke schön, noé und possum. :-) LG Magnus

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