Phillip schaltete das Mobiltelefon aus und legte es vor sich auf den Tisch. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und wandte den Kopf seinen Nachbarn zu. Der Mann rechts neben ihm beachtete ihn jedoch nicht. Sein Körper hing vornübergebeugt auf dem Zuhörerpult und die verschränkten Unterarme auf der Platte gaben ihm Halt. Seine kleine Nase streckte sich spitz hervor, dass es aussah, als würde sie in eine Luftblase stechen. Der Mann hielt den Atem an; fast schien es als erwarte er jeden Augenblick eine furchtbare Detonation.

Die Frau links von Phillip sah kurz zu ihm hinüber, als er das Telefon auf den Tisch legte. Ihre marmorierten Augen blickten ihn desinteressiert an. Ein wenig wie eine Kinobesucherin, die sich während eines Films gestört fühlte und ihren Nachbarn missbilligend darauf aufmerksam machte. Phillip zog entschuldigend die Augenbrauen hoch und die Frau sah weg.

Phillip legte seine Hände auf das Zuhörerpult und kramte mechanisch in den darauf liegenden Papieren. Die Blätter raschelten und die Frau links neben ihm sah wieder hinüber, dass Phillip es bleiben ließ.
Er kannte die Frau nicht, ebenso wie alle anderen, die um ihn herum saßen. Aber sie alle waren wichtig, so wie er, auch wenn sie nur in der siebzehnten Reihe saßen. Das entsprach ungefähr der Mitte des Saales. Der ganze Raum war mit Zuhörern gefüllt. Männern in Anzügen und Frauen in Kostümen und sie alle saßen vor winzigen Zuhörerpulten, auf denen sie ihre Hände verschränken und vor sich hin starren konnten.

Nur die Pulte in der ersten Reihe waren ein wenig größer. Dort standen auf den Tischen Fähnchen, die auf das Land des Abgesandten hindeuteten, welches er repräsentierte. Einige der Landesvertreter würden im Laufe der Konferenz sogar eine Rede halten und da machte es Eindruck, wenn auf dem Tisch eine Landesfahne stand. In den hinteren Reihen war das nicht mehr so wichtig. Die hinteren Reihen sprachen nicht, sie hörten nur zu. Doch später würden auch sie abstimmen, für das beste und sinnvollste Ergebnis.

Aus der siebzehnten Reihe hatte Phillip eine gute Sicht nach vorne. Er sah direkt über die chinesische Fahne hinweg. Ihr gegenüber stand ein älterer Herr am Rednerpult, von dem aus er nun irgendetwas verlas. Da seine Augen im Laufe der Jahre schlecht geworden waren, beugte er seinen Kopf tief über das Blatt und von Phillips Platz sah es so aus, als ruhe das Kinn auf dem hölzernen Knauf der chinesischen Fahne.

Der Herr, welcher nun vorlas, was Australier oder so etwas Ähnliches. Phillip hatte es nicht genau gehört und die monotone Leseweise konnte ihn nicht verleiten, es jetzt zu tun. Das war Candys Schuld.

Candy war Phillips Frau. Sie war wunderbar, aber sie hatte kein Verständnis für seine Arbeit. Die Arbeit war wichtig. Das dachte nicht alleine er, das dachten alle Delegierten in dem Saal. Immerhin ging es um die Klimaerwärmung, ein globales Thema. Nach den neuesten Studien würde die tolerierbare Erwärmung bereits in den nächsten dreißig Jahren um zwei Grad überschritten werden. Dann wurde es kritisch. Wahrscheinlich, so meinten die Experten, würde die globale Erwärmung sogar um insgesamt vier Grad ansteigen. Ein Szenario, was gar nicht auszudenken war. Unvorstellbar! Vier Grad bedeuteten eine vollständige Verschiebung der Wetterverhältnisse. Dürre, Epidemien, Überschwemmungen und wer weiß, was sonst noch alles. Es war wichtig, darüber zu reden. Das sahen alle ein. Nur Candy nicht.

Sie hatte angerufen, da sie immer noch darüber diskutierte, ob sie nicht besser nach Paris ziehen sollten. Paris war schöner als Brüssel. Zumindest Candy urteilte so und das schon seit einigen Wochen. Diese Verhandlungen würden noch lange andauern. Der Australier redete von unverzüglichen Maßnahmen zum Abbau von Emmissionsstoffen und Phillip dachte darüber nach, wie er seine Frau beruhigen könne.

Doch dabei fühlte er sich unbehaglich. Er war zu diesem Klimagipfel geschickt worden, um wichtige Beschlüsse zum Wohle der gesamten Menschheit zu fassen. Die Gefahr eines schwelenden Hauskrachs war momentan jedoch realer als die Klimaerwärmung. Wahrscheinlich fiel es gar nicht auf, dass er sich nicht mit dem notwendigen Ernst konzentrieren konnte. Es waren noch genügend Teilnehmer bei dieser Konferenz, dass sie sicher eine vernünftige Entscheidung treffen würden.

So wie die Frau neben ihm. Sie war Amerikanerin und hieß Amy oder so. Genau wusste es Phillip nicht. Sein bester Kontakt zu ihr bestand in ihrem missbilligenden Ausdruck, wenn er auf seinem Zuhörerpult herumkramte. Wahrscheinlich lenkte es sie ab und mit ziemlicher Sicherheit konnte sie nicht verstehen, dass nicht jeder voll Hingabe zuhören konnte. Sie hatte natürlich Recht. Wenn Phillip daran dachte, fühlte er sich schuldig. Jeder hier im Saal sollte wie Amy sein.
Amy aber wusste nichts von Phillips Vermutung, doch wenn sie es getan hätte, wäre es eine wunderbare Bestätigung für sie gewesen. Amy kam aus Boston, hatte Harvard besucht und war danach direkt in den Ausschuss für Klimaforschung berufen worden. Sie hatte Erfolg und darauf war sie stolz.

Jeder sollte stolz sein, zumindest jeder Amerikaner. Was wäre die Welt schon ohne die Vereinigten Staaten? Natürlich würde die Erde sich weiterdrehen, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Doch wäre sie niemals so sicher wie sie jetzt war. Nur Amerika hatte die große Vision einer allumfassenden Freiheit, da konnten sich die anderen mühen, wie sie wollten. Letztendlich gab es nur diesen einen Weg. Der Weg in den Frieden und Freiheit und Zukunft.
Kollateralschäden gab es leider, da war nichts zu beschönigen. Doch was für Alternativen gab es schon? Die Menschheit hatte Opfer zu bringen und Amy, mit ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck und dem missbilligenden Augenaufschlag, war bereit dazu. Zum Wohle von Amerika und ihrem bescheidenen Erfolg.

Aber so dachten sicherlich nicht alle. Nicht der Mann zu Phillips Rechten, jener Stoiker, der nicht einmal den Kopf wendete und angestrengt zuhörte. Er nicht, er war gut zu der Umwelt. Er liebte die Natur. Diese endlosen Weiten, die sich über die Hügel seiner Heimat zog. Das Rhonetal mit den Weinbergen an den Hängen. Soweit das Auge reichte nichts weiter als Rebstöcke. Und ein Drittel davon gehörte ihm, Claude. Nicht, dass er sie unbedingt besitzen musste. Darum ging es gar nicht. Es war nur ein gutes Gefühl. Es war sein Land, das er mit seiner spitzen Nase auch jetzt noch fast riechen konnte.

Das, was er nun von den Inselgruppen im indischen Ozean hörte, war furchtbar. Die armen Menschen, die dort wohnten. Ihre Heimat würde untergehen und Claude konnte es sich kaum ausmalen. Und dann erst die darauf folgenden Kriege. Um Wasser, um ein wenig Heimat. Wie konnte man nur so leben? Allein der Gedanke ließ Claude frieren und er war voller Mitleid. Man musste etwas dagegen tun. Natürlich, das war keine Frage. Wahrscheinlich hätte er die Vorstellung gar nicht ausgehalten, wenn er nicht fortwährend an sein schönes Rhonetal gedacht hätte und er war froh, dass es ein wenig geschützt in Frankreichs Binnenland lag. Nicht, dass es viel Unterschied gemacht hätte, natürlich nicht. Alle Menschen auf der Erde mussten sich in dieser Frage einig sein. Aber er war froh.

So froh wie Phillip, dem eingefallen war, dass er am Wochenende mit seiner Frau nach London fliegen könne, um mit ihr auf Shopping tour zu gehen. Das würde Candy ein wenig besänftigen. Das besänftigte sie immer. Sie wurde dann so ruhig wie der Australier, der immer noch sprach und da Phillip nun eine zumindest kurzfristige Lösung gefunden zu haben schien, konzentrierte er sich auf den Redner, dessen Kinn auf dem Knauf des chinesischen Fahnenmastes ruhte.

Der Chinese davor rührte sich nicht. Aber das tat Ho nie. Es war eine seiner Stärken, weswegen er oft als Delegierter geschickt wurde. Er vertrat sein Land würdevoll. Ein nicht zu unterschätzender Faktor. Sie waren nun einmal ein großes, mächtiges Land. Sie waren wirtschaftlich noch nicht so groß wie die Vereinigten Staaten. Aber sie waren dabei, aufzuholen. Das war wichtig für die Welt und alle verstanden das auch. China war ein ernstzunehmender Markt der Zukunft.
Natürlich war der Umweltschutz wichtig. Es betraf alle Menschen. Wenn sie das Problem der Klimaerwärmung in den Griff bekamen, würde auch die Smoggefahr in Peking sinken. Das war gut, aber soweit war das Land noch nicht. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie den Weltstandard erreicht hatten. Dann konnten sie sich diesem Problem widmen. Natürlich würde ihre Regierung mitmachen – wenn es an der Zeit war. Die anderen konnten schon damit beginnen, China würde sich nicht ausschließen, sobald sie es sich leisten konnten. Bis dahin machte Ho ein würdevolles Gesicht.

Phillips Mobiltelefon klingelte wieder und Amy sah missbilligend zu ihm hinüber. Phillip zuckte entschuldigend mit den Schultern und seine Lippen formten „meine Frau“ als Erklärung. Amy interessierte das nicht. Sie wandte den Kopf ab.

„Was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende nach London fliegen?“ fragte Phillip leise in den Hörer und die Antwort, die er bekam, schien ihn zu befriedigen.

„Nein“, sagte er, „ich komme nicht zu spät nach Hause.“
Und während Claude „nach Hause“ aufschnappte, dachte er an sein wunderbares Rhonetal, das auf ihn wartete.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "So gut wie morgen"

Re: So gut wie morgen

Autor: axel c. englert   Datum: 09.10.2014 19:15 Uhr

Kommentar: Lieber Mark!

Ich mache bekanntlich ja NIE Wortspiele – sonst würde ich schreiben:
So gut wie (Charles) Morgan…

LG Axel

Re: So gut wie morgen

Autor: Mark Gosdek   Datum: 09.10.2014 22:22 Uhr

Kommentar: Lieber Axel,
ja, DU machst NIE Wortspiele. Und ich bin eher (Charles) Vater Morgan(a)...

Re: So gut wie morgen

Autor: noé   Datum: 12.10.2014 4:11 Uhr

Kommentar: Meine Güte, bist Du guuut...
So hat jeder mit seinen Problemen zu tun und trägt durch sein Handeln selber noch dazu bei, dass sich einfach nchts wirklich ändern kann, während die Welt verhandelt ... verhandelt ... verhandelt ...
So sinnlos, wie nur was.
Die Welt wird sich selbst retten. Notfalls mit Radikalmaßnahmen. Das hat sie bisher noch immer getan. Es ist ihr egal, wieviel Leute sich inzwischen die Köpfe um vier Grad heißer reden.
Einmal kurz schütteln ...
noé
("...Die hinteren Reihen sprach nicht,...")

Re: So gut wie morgen

Autor: Mark Gosdek   Datum: 12.10.2014 19:13 Uhr

Kommentar: Danke, Noé. Ja, das ärgert mich wirklich. Danke auch für den Hinweis. Das en hatte schon zu viel von der Versammlung und ist einfach abgehauen. Mark

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