Sie stiegen ins Führerhaus und Chris meinte, dass er auch fahren könne, wenn Ben keine Lust mehr habe. Ben sagte nichts dazu. Er schaltete den Motor ein. Manchmal glaubte er, dass Chris solche Sachen nur sagte, um sich selber zu beruhigen. Doch dann sah er zu seinem Beifahrer hinüber und war überzeugt, dass er sich einfach nichts dabei dachte.

Jetzt sah Chris aus dem Seitenfenster und Ben folgte seinem Blick hinunter ins Tal, auf die winzigen Neonlichter von Los Angeles.
Bei Tage sah die Stadt trostlos aus. Nun aber, in der Nacht, funkelten die Lichter wie Edelsteine. Ben sah gerne hinunter, aber er machte sich nichts daraus. Sie fuhren durch viele Städte. Keine von ihnen konnte ihn dazu verleiten, dass er es bedauerte, sie wieder zu verlassen.

Chris schien überhaupt keine Meinung zu haben. Wie bei so vielen Dingen. Ben hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Sie fuhren schon eine ganze Weile zusammen. Früher war er allein unterwegs gewesen. Dann hatte sein Chef erklärt, dass Ben einen Partner bekommen müsse und so kam Chris auf den Truck.

Als die Lichter der Stadt hinter ihnen lagen, wandte Chris den Kopf wieder der Straße zu und schaltete das Radio ein.

„Such einen Sender mit Country Music“, sagte Ben.

Chris startete den Suchlauf des Gerätes. Ben wunderte sich immer wieder, dass er es wirklich tat. Chris hatte ihm erzählt, dass er Country Music hasste, doch war das wohl ein dehnbarer Begriff für ihn. Er suchte die Sender, ohne etwas darüber zu sagen.

Früher, als Ben noch alleine fuhr, hatte er wenig Country gehört. Nur gelegentlich, meist wenn er durch die endlosen Weizenfelder von Idaho fuhr. Doch hinter der Staatsgrenze hatte er dann wieder für eine Weile genug davon. Erst als Chris sein Partner wurde, stieg bei ihm das Interesse.

„Hier gibt es nicht viele Sender“, sagte Chris.

„Such weiter“, sagte Ben.

Chris drückte wieder den Knopf für den Suchlauf. In dieser Beziehung war er ein guter und ausdauernder Partner. Aber dafür hatte die Spedition ihn bestimmt nicht eingestellt und auf den Truck gesetzt. Wenn Ben genau darüber nachdachte, wusste er überhaupt keinen Grund, warum sie es getan hatten.

„Ich arbeite am liebsten allein“, versuchte er, dem Boss zu erklären. Doch er war anderer Meinung. Nach dreißig Jahren war es an der Zeit, einen jüngeren Mann mitfahren zu lassen.

Immerhin redete Chris kaum. Doch wenn er etwas sagte, kam meistens albernes Zeug heraus, dass Ben sich wünschte, der Partner wäre stumm geboren. Auch Ben redete nicht viel. Er fuhr schon so lange allein, dass er die Sehnsucht danach in irgendeiner Stadt vergessen hatte.

Durch die Windschutzscheibe sah er den weiten Nachthimmel Kaliforniens, der sich langsam mit grauen Spinnweben durchzog. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen und sie fuhren ihr entgegen.
Ben mochte diesen Augenblick. Mit jeder Meile schien er tiefer in die grenzenlose Allmacht einzusacken und fühlte eine tiefe Zufriedenheit in sich. Spätestens dann bemerkte Chris, dass es langsam Zeit für ein Frühstück wäre und begann nach dem nächsten Stop Ausschau zu halten.

Im Grunde war Chris in Ordnung. Ben hätte ihn sicher gerne an einem Abend in der Bar getroffen. Chris konnte einem die Zeit schon gut vertreiben. Doch nicht auf diesem Truck.

Endlich fand Chris einen Radiosender mit Country Music.

“Lass den”, sagte Ben.

Chris lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah wieder zum Seitenfenster hinaus. Leise summte er ein Lied aus den Pop Charts. Ben starrte weiter auf den Nachthimmel, wie er sich das Schwarz der letzten Stunden vom Horizont kratzte.

Manchmal war es nützlich, dass Chris mitfuhr. Das musste Ben sich eingestehen. Unter Zeitdruck waren sie die ganze Nacht hindurch unterwegs. Dann legte sich Ben hinten in die Kabine und Chris fuhr. Er war ein guter Fahrer und ein guter Partner. Chris ließ Ben schlafen und wenn er ihn schließlich weckte, waren sie meist schon viel weiter, als Ben gehofft hatte. Mit Chris wurde es einfacher, die Termine einzuhalten.

Und Chris nahm nichts übel. In den ganzen Monaten, die sie nun miteinander fuhren, war er derjenige von den beiden, der überzeugt war, dass letztendlich alles funktionieren würde. Ben merkte, dass diese Einstellung langsam auf ihn abfärbte. Nein, Chris war wirklich kein schlechter Kerl. Es hätte Ben schlimmer treffen können.

Chris streckte die Beine aus und verschränkte sein Arme, so als wolle er noch ein wenig dösen. Ben warf einen kurzen Blick zu ihm hinüber.

„Warum magst du keine Country Music?“ fragte Ben.

„Weiß nicht“, sagte Chris. „Erinnert mich an die Farm von meinem Onkel Phil in Kentucky. Einmal im Monat traf er sich mit den Nachbarn und sie spielten zusammen Bluegrass. Als Kind musste ich immer zuhören.“

„Kann mir schlimmeres vorstellen“, sagte Ben.

„Nicht, wenn du mit deinen Freunden in die Disco gehen willst. Kein Mensch will so´n alten Kram hören. Die Zeiten sind vorbei.“

„Na, ich zum Beispiel hör mir das an“, sagte Ben.

Chris wandte über die verschränkten Arme hinweg Ben den Kopf zu und lächelte ihn an.

Ben sah wieder hinaus auf die Ebene, an deren Horizont die Sonne langsam emporstieg. Noch ein paar Minuten und ich fahre direkt hinein, dachte er. Es war immer gleich, heute und vor dreißig Jahren. Und es würde sich niemals ändern. Ben fühlte den Frieden bei diesem Gedanken. Dann drehte er das Radio lauter.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Truck"

Re: Truck

Autor: noé   Datum: 11.06.2014 2:18 Uhr

Kommentar: Was für ein schön besinnlich summender Text. Das ist die Autofahrerstimmung, die ich so liebe. Ich genieße das auch sehr, wenn ich auch keinen Truck und nicht in Kalifornien Kilometer fresse...
noé
(Schau mal: "...Chris ließ er Ben...")

Re: Truck

Autor: Mark Gosdek   Datum: 11.06.2014 4:34 Uhr

Kommentar: Autofahren, gerade in der Nacht und am frühen Morgen hat eine ganz eigene Atmosphäre. Ich mache das auch sehr gerne. Einmal stand ich im Sommer um halbfünf Morgens an einem Rasthof in der Magdeburger Börde. Im Osten graute der Himmel bereits, während der Westen noch in tiefdunkler Nacht lag und beides hatte ich gleichzeitig im Blick. Einfach nur wunderbar.
Danke für Deinen Hinweis.
Mark

Re: Truck

Autor: noé   Datum: 11.06.2014 6:15 Uhr

Kommentar: Ich fahre auch am liebsten nachts, Straßen frei, kein Kopf zu machen, und dann in den beginnenden Morgen hinein - wunderschön...
Dann ist der Tag noch so kraftvoll!
noé

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