Einst lebte in Bagdad ein alter Geschichtenerzähler. Den ganzen Tag saß er auf dem Marktplatz im Schatten einer Nische, die ihm zumindest ein wenig Schutz vor der flimmernden Hitze bot. Die Bewohner bemerkten ihn dort kaum. Sie liefen an ihm vorbei, eilten hinüber zu all den Ständen, auf denen die Händler lauthals ihre Töpfe, Krüge und feinen Stoffen aus fernen Ländern feilboten. Durch das Gewimmel zwängten sich Eseltreiber und Kaufleute stolzierten in ihren prächtigen Gewändern über den Platz. In der Luft klebte der Duft von Safran und Gewürznelken, dass es schien als würde der Marktplatz unter einer riesigen Glocke vor sich hin garen.

Der Geschichtenerzähler kümmerte sich nicht um diesen wunderbaren Anblick, den dieser Markt ihm den ganzen Tag über bot. Er saß ruhig auf einem Stein und erzählte den Kindern all die wundersamen Geschichten von Kalifen und geheimnisvollen Dschinns. Nur manchmal blieb ein Erwachsener bei ihm stehen und dann wurde der Geschichtenerzähler mit ein paar Piastern für die phantastische Unterhaltung entlohnt.

Am Abend aber, wenn die Händler ihre Stände schlossen und die Schatten sich tief über den Marktplatz legten, kamen die Menschen aus den umliegenden Häusern heraus und versammelten sich um den Geschichtenerzähler. Dann wurde ein großes Feuer angezündet und der Alte nahm daneben Platz, dass die Flammen ihn in der Kühle der Nacht erwärmen mochten. Die Bewohner aber setzten sich im Halbkreis um ihn herum und lauschten unter dem funkelnden Sternenzelt den Abenteuern von Sindbads Reisen und all den anderen Geschichten aus Harun al Raschids Zeiten.

Der Geschichtenerzähler war schon sehr alt und so war es ihm am liebsten, wenn er auf seinem Stein sitzen konnte. Wenn er jedoch laufen musste, so zitterten seine Beine und die Füße in den ärmlichen Pantoffeln schlurften über den staubigen Platz. Um sich bei seinen beschwerlichen Wegen zu stützen, besaß er einen knorrigen Stab, der, sobald der alte Mann saß und seine Geschichten erzählte, neben ihm auf den Boden lag.

Manchmal verspürte der Geschichtenerzähler Lust, von seinen Wanderungen, die er als junger Mann unternommen hatte, zu erzählen. Er berichtete von all den Wundern, die ihm dabei begegneten und die Zuhörer liebten diese Geschichten sehr. Manchmal fragten sie nach den spärlichen Sachen, die er bei sich trug, damit er von ihren erstaunlichen Eigenschaften berichtete. So kam es, dass eines Abends einer von denen, die sich in der ersten Reihe um den Geschichtenerzähler gesetzt hatte, fragte:
„Sag´, was hat es für eine Bewandtnis mit deinem Wanderstab.“

Der Geschichtenerzähler blickte hinunter auf das Holz, welches neben ihm im Staub lag und streichelte lächelnd mit seinen Fingern darüber.
„Diesen Stab besitze ich schon sehr lange und er hat auf all meinen Reisen begleitet“, begann er. „Viele erstaunliche Geschichten hat er gesehen, doch keine der Begebenheiten war so wundersam, wie der Augenblick, als er zu mir fand.

Als junger Mann war ich sehr unbedacht. Kaum, dass ich mir Sorgen machte, lebte ich in den Tag hinein und mein heißes Herz verleitete mich zu mancher Tollheit, die ich bei klarem Sinnen niemals unternommen hätte. So lief ich eines Tages nach einem Streit mit einem Freund in die Wüste, um mich abzukühlen. Ich glaubte, dass die Einsamkeit mir jene Ruhe bringen würde, derer ich so dringend bedurfte. In meinen wirren Gedanken achtete ich jedoch nicht auf den Weg und verirrte mich, dass ich immer tiefer in die Wüste hinein stolperte. Ich war schon einige Tage unterwegs und dem Verschmachten nahe. In meiner Phantasie sah ich die verführerischsten Oasen, doch wenn ich in meiner letzten Anstrengung darauf zuwankte, war es nur ein Haufen Sand, den ein böser Dschinn vor meinen Augen verzaubert hatte.

Schon hatte ich meine Hoffnung verloren, da begegnete ich plötzlich einem Derwisch. Er hockte mitten auf einer Düne und während ich mich mühsam vorwärtsschleppte, beobachtete er mich.

„Hilf mir, um Allahs Willen“, rief ich ihm zu. „Ich verdurste.“
Der Derwisch betrachtete mich eine Weile. Dann aber stand er auf, kam auf mich zu und gab mir aus seinem Wasserschlauch zu trinken. Ihr könnt euch die Wohltat nicht vorstellen, die ich empfand, während die ersten Tropfen meine fast leblosen Lippen benetzten. Als ich wieder einigermaßen zu Kräften gekommen war, fragte ich den seltsamen Wanderer, in welche Richtung ich zu gehen habe, um endlich wieder an einem menschlichen Ort zu gelangen.

Der Derwisch wies über die Sanddünen in östlicher Richtung.
„Gehe einen Tag immer geradeaus und du findest eine Siedlung“, sagte er.
Der Derwisch trug einen Wanderstab und nun, als er dies gesagt hatte, hielt er ihn mir entgegen.
„Nimm diesen Stab“, sagte er. „Er wird dir gute Dienste leisten. Doch nicht nur das Laufen wird er dir erleichtern. Dieser Stab birgt auch ein Geheimnis. Wenn du mit seiner Spitze einen Gegenstand berührst, wird er ihn in das Kostbarste verwandeln, was es auf dieser Welt gibt.“

Verwundert nahm ich den Stab entgegen und machte mich auf den Weg. Als ich die Düne erklommen hatte, blickte ich mich um. Der Derwisch aber war verschwunden. Ich lief also weiter, in die Richtung, die der Fremde mir gewiesen hatte und tatsächlich erreichte ich am folgenden Tag die Siedlung Sarajan. Nicht zuletzt mithilfe des Stabes. Der geheimnisvolle Fremde hatte Recht gehabt. Sobald ich mit dem Stab einen Gegenstand berührte, verwandelte es sich in eine Kostbarkeit ungeahnten Ausmaßes.

Ich war so glücklich, dass ich des Abends auf dem Marktplatz die Geschichte meines Wanderstabes erzählte. Die Zuhörer lauschten mir atemlos. Unter ihnen stand Jussuf, ein reicher Kaufmann und als er nun auf den Wanderstab blickte, dachte er sich:
„Welch ein Geschenk! Ein Stab, der alles in einen Schatz verwandelt. Ach, wäre er doch mein. Ich wollte meinen Reichtum damit noch mehren und ich werde noch reicher als der Kalif!“

Jussuf dachte an seine Truhe voll Piaster, die sich in kostbare Edelsteine verwandelte, sobald er sie nur berührte. Mit jedem Gedanken wurde seine Begierde größer und schließlich dachte er:
„Ich muss diesen Wanderstab besitzen. Dem Geschichtenerzähler nützt er nicht viel und mit meinem neuen Reichtum werde ich ihm einen neuen Stab kaufen, den schönsten, der je gefertigt wurde.“

An diesem Abend wurde es ziemlich spät und als meine Zuhörer schließlich nach Hause gingen, schlurfte ich in die ärmliche Unterkunft, welche ich gefunden hatte und legte mich ebenfalls zur Ruhe. Jussuf, der Kaufmann, aber schlich mir nach und während ich friedvoll in meine Träume versank, stahl er den Wanderstab, den ich neben der Schlafstatt hingelegt hatte.

Eiligst lief der Kaufmann mit seiner Beute nach Hause. Doch war es ihm nicht nach Ruhe. Sogleich wollte er die Wirkung des zauberhaften Wanderstabs erleben. Kaum dass er seine Wohnung erreicht hatte, stürzte er auf die Truhe mit all seinen Piastern und berührte sie mit der Spitze des Stabes.

„Nun werde ich unermesslich reich sein“, murmelte der Kaufmann.
Doch welch ein Schreck fuhr ihm durch die Glieder, als die Truhe zu rumoren begann. Das Holz vibrierte und es wogte vor seinen Augen hin und her, bis schließlich Tropfen davon herab perlten.
„Oh weh!“ rief der Kaufmann. „Meine schönen Piaster!“

Aus den Tropfen wurden Ströme, die sich nun auf seinen Tisch ergossen und auch das Geld verwandelte sich in Wasser. Es floss über den Tisch hinunter auf den Boden und verteilte sich im ganzen Raum, dass der Kaufmann mit seinen Pantoffeln in den Fluten stand.

„Oh Allah, hilf mir!“ rief der Kaufmann, doch nichts konnte die Truhe beruhigen und schließlich stand der Kaufmann bis zu den Knöcheln in dem Wasser, was ehemals seine Piaster gewesen waren.
Am Morgen stand er noch immer in dem Zimmer und jammerte leise vor sich hin. So fanden ihn seine Bediensteten und als sein Gehilfe ihn fragte, was denn geschehen sei, erzählte Jussuf ihm die Geschichte.
Der Gehilfe dachte eine Weile nach. Dann riet er seinem Herrn:
„Wenn dies ein Zauberstab ist, dann ist der fremde Geschichtenerzähler ganz zweifelsohne ein Zauberer. Geh zu ihm hin und bring ihm den Stab zurück und vielleicht verwandelt dir der Fremde das Wasser in Piaster zurück.“

Jussuf befand, dass dies eine gute Idee sei und sogleich machte er sich auf den Weg zum Marktplatz. Nachdem er eine Stunde nach mir gesucht hatte, fand er mich schließlich in einer Nische sitzend meine Geschichten erzählen.
Jussuf eilte auf mich zu und legte den Wanderstab zu meinen Füßen nieder.
„Bitte verzeih´ mir, großer Zauberer“, sagte er. „Ich habe dir letzte Nacht den Stab gestohlen. Ich berührte damit mein Geld, doch musste ich erkennen, dass der Stab nur seinem Herrn gehorcht. So bringe ich ihn dir nun zurück.“

Zunächst wusste ich nicht, was der Kaufmann mit all dem meinte. Auf meine Fragen berichtete er mir all das, was ich euch nun erzählt habe.
„Ich bitte dich, großer Zauberer, verwandle mir mein Geld zurück“, bat Jussuf abschließend.
„Mein lieber Kaufmann“, sagte ich ihm, „nachdem du so viel Reue zeigst, würde ich dir gern behilflich sein. Allein, es steht nicht in meiner Macht. Wie ich gestern berichtete, gab ein Derwisch mir den Stab, damit es alles, was ich damit berühre in das Kostbarste verwandelt, was es auf dieser Welt gibt. Und nichts ist kostbarer als Wasser, das kann ich dir versichern.“

Nachdem ich Jussuf dies gesagt hatte, wurde der Kaufmann ob seiner Ohnmacht grob. Er beschimpfte mich und drohte, mir die Stadtwache auf den Hals zu hetzen. Erbost eilte er davon und auch wenn ich mir keiner Schuld bewusst war, verließ ich mit der nächsten Karawane schleunigst Sarajan.
So wanderte ich mit dem Stab noch an viele Orte. Reiche Städte und arme Dörfer. Bis heute berichtete ich nie wieder über das Geheimnis des Wanderstabes. Doch immer, wenn ich durch die Wüste schritt und mich Durst überkam, half er mir, meine Not zu lindern.“

Als der Geschichtenerzähler verstummte, streichelte er mit seiner Hand über den Stab vor ihm im Staub und die Zuhörer blickten ehrfürchtig zu ihm hinüber, hinter dessen Rücken das Feuer langsam niederbrannte, während die funkelnden Sterne am endlosen Himmel Bagdad langsam in den Schlaf wiegten.


© Mark Gosdek


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Kommentare zu "Der Wanderstab"

Re: Der Wanderstab

Autor: Ree   Datum: 17.05.2014 12:18 Uhr

Kommentar: Sehr tragend und harmonisierend wirkt auf mich deine Geschichte, Mark, - wie ein ruhiger, klarer Fluß. :)

L.G. Ree

Re: Der Wanderstab

Autor: Mark Gosdek   Datum: 17.05.2014 13:12 Uhr

Kommentar: Vielen Dank, Ree. Ich hatte die ganze Zeit dieses Bild des nächtlichen Marktplatzes vor Augen. Die Sterne über dem Himmel, der orientalische Hintergrund, der Geschichtenerzähler. Eben eine Geschichte aus der 1002. Nacht Mark

Re: Der Wanderstab

Autor: noé   Datum: 17.05.2014 23:40 Uhr

Kommentar: Wunderbare Erzählung, Mark! Auch ich sah Sheherazade über den Markt schreiten und ihr reicher Schmuck klingelte bei jedem Schritt...
Auch von der Moral her, gut zuzuhören und Habgier zu vergessen, ist dies ein gelungenes Werk.
noé
"...und mir Durst ..." (mich)

Re: Der Wanderstab

Autor: Mark Gosdek   Datum: 18.05.2014 5:03 Uhr

Kommentar: Danke, Noé. Es freut mich, dass es Dir gefallen hat. Und danke für den Hinweis, habe ich geändert. Mark

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