Wer immer es ist, er soll sterben, dachte ich. Dachte ich, als mein Handy klingelte. Mit einem Piepen wurde ich aus meinen Traum in einen Alptraum gerissen. Klick. Klack. Bam und nichts ist mehr, wie es war.
Ich nehme ab und grummel ein verschlafenes ja in den Hörer. Die Party gestern war lang, meine Stimme ist nur noch ein Krächzen. Er bringt sich jetzt um. Nein. Nein, das kann nicht sein. Das kann er nicht gesagt haben. Warte! Doch die Leitung ist tot. M wie Michi. Michi anrufen. Nichts. Das Handy ist aus. Meine Gedanken rasen. Die Bilder in meinem Kopf fahren Achterbahn. Polizei. Ich sehe meine Finger die Eins, die Eins und die Null eintippen. Eine fremde Stimme fragt mich, wie sie mir helfen könne. Ich bringe ihn um. Nein ? er bringt sich um. Wieso habe ich das getan? Wieso habe ich den Brief geschrieben? Ich verstehe nicht, sagt die Stimme. Ich versuche es ihr zu erklären. Michi hat mich angerufen, angerufen und gesagt, dass er sich ? sich umbringt, weil er ohne mich nicht leben könne. Die Stimme bittet mich, langsamer zu sprechen. Nein, für Langsamkeit habe ich keine Zeit! Versteht sie das denn nicht? Ich, ich was soll ich machen? Ich versuche es noch einmal. Er hat mich angerufen. Er bringt sich um. Warum? Ja, weil ich ein Arschloch war, aber das ist doch jetzt egal. Kann denn niemand etwas machen? Nein, es ist nicht egal. Sie kümmere sich drum. Klingt nicht optimistisch. Scheiße ? was nun? Sein Vater. Ich rufe seinen Vater an. Weiß er?Ich stammle. Stammelnd versuche ich in Worte zu fassen, was passiert ist, was jetzt gerade passiert, was jede Sekunde passieren wird. Seine Reaktion: das wäre wohl ein schlechter Scherz. Ich solle ihn nicht verarschen. Er schreit. Er flucht. Er heult. Er legt auf. Auch meine Wangen sind jetzt nass. Meine Gedanken rasen.
Nun rase ich. Ich renne die Bahnstrecke entlang. Er muss hier irgendwo sein. Hier waren wir so oft zusammen. Mein Herz klopft. Sein Herz klopfte auch, klopfte für mich, wegen mir, wenn ich in seiner Nähe war. Die Zeit läuft. Wenn sie schneller läuft als ich? was ist dann? Wann kommt der Zug? Vor meinen Augen? Blut.
Ein Fuß vor den anderen. Links, rechts, links, rechts, wie ferngesteuert renne ich. Ich spüre nichts mehr und doch so viel. Der Schnee, die Kälte, die Müdigkeit? alles ist da, so nah und doch so fern. Nur der Schmerz ist hier, direkt in mir. Ja, ich habe einen Fehler gemacht. Kann ich die Zeit zurück drehen? Stoppen ? anhalten wäre auch genug. Bitte. Ich renne, doch die Zeit läuft gegen mich. Um 10:12 kommt die nächste Bahn. Drei Minuten noch. Mein Herz explodiert, die Wut in mir, auf mich und die Welt an sich, wie konnte ich ihm vom Ekel schreiben? Ich verstehe es selber nicht, verstehe mich nicht. Er war, ist mein bester Freund. Ich war doch nur überfordert, überfordert für ein paar Minuten. Ich wusste nicht, was ich denken soll und jetzt ?
Gehetzt haste ich. Ich höre ein Rauschen. Nein. Nein. Nein, das kann einfach nicht sein. Ich renne weiter, immer weiter. Ich bin schneller, ich muss einfach schneller sein. Mein Schädel brummt. Meine Muskeln schmerzen. Das Rauschen wird lauter, der Zug kommt näher, vor meinen Augen läuft ein Horrorfilm.
Er meinte, er wäre in mich verliebt. Vor zwei Tagen wusste ich noch nicht einmal, dass er schwul ist. Es ging so schnell. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wer er, mein bester, Freund ist. Ich war verwirrt, das war alles und nun? Was kann ich noch tun?
Das Rauschen wird lauter, der Zug kommt näher, die Uhr tickt. Er muss hier irgendwo sein! Gleich holt der Zug mich ein. Ich sammle meine letzten Kräfte und sprinte noch ein klein bisschen schneller. Ich sehe sein Lächeln, seine Locken die im Wind wehen.
Bang. Ich stolpere und falle. Ich lande auf den spitzen Steinen am Rand des Gleisbettes. Meine Knie sind aufgeschlagen, meine Hände bluten. Rot ist meine Hand und es hinter ihr. Ich spüre keinen Schmerz, nur den Windzug. Sie ist an mir vorbeigefahren, die Bahn. Wenige Sekunden später höre ich einen dumpfen Aufprall. Dann die Notbremse quietschen. Ich bleibe liegen.
Du bist von uns gegangen, aber du hast uns nicht verlassen. Ich werde mich auf Ewig dafür hassen.


© Sandra Neubauer


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