So sitze ich nun hier. Frühmorgens am Schreibtisch. Das Licht bleibt ausgeschaltet, ebenso wie das Radio. Vor mir das geöffnete Fenster, dass ich eine Zigarette rauchen kann. Das fahle Licht der gegenüberliegenden Straßenlaterne kleckst noch ihren matten Schein auf die Häuserfassaden. Die Fenster sehen aus wie die Schubladen einer riesigen Schlafzimmerkommode und einen Augenblick überlege ich, warum ich nicht im Bett geblieben bin.
Durch das Fenster dringt die Kühle des Januarmorgens in mein Arbeitszimmer. Ich mag es, wenn der Raum nicht überheizt ist und trinke meinen Kaffee. Er ist schon fast kalt und hilft mir nicht, meine Gedanken zu ordnen. Dabei wäre es gerade jetzt so notwendig. Für den Walter-Kempowski-Preis. Fünf Seiten für eine Kurzgeschichte und in einem Monat läuft der Termin zur Einreichung ab. Ich möchte unbedingt daran teilnehmen, doch die Schubladen der Schlafzimmerkommode erinnern mich immer noch an die Wärme meiner Bettdecke.
Der Laptop steht vor mir auf dem Schreibtisch. Ich tippe ein wenig darauf herum. Dann fällt mir ein, dass es nun wahrscheinlich unbedingt notwendig ist, im Internet die Nachrichten des Tages zu lesen. Ein eintausend Jahre altes Mathematikproblem scheint von einem Chinesen teilweise gelöst worden zu sein. Irgendetwas mit kongruenten Zahlen, welche durch die Länge von Dreiecken zu ermitteln ist. Von der Erklärung verstehe ich nicht viel, nur dass die 5 die erste kongruente Zahl in der Abfolge ist. Aber vielmehr wissen die Mathematiker auch nicht. Das Clay Mathematics Institute setzte im Jahr 2000 eine Million Dollar für die Beweisführung zur Lösung aus. Verrückt! Warum nur? Ist die Lösung lebensnotwendig für die Rettung der Menschheit? Oder für mich? Kann sie meine Gedanken so ordnen, damit ich zumindest fünf Seiten einigermaßen verständliches Zeug schreiben kann?
Ich klicke mich aus dem Internet heraus und sitze wieder vor dem weißen Dokument ohne Namen und Text. Was soll ich nur schreiben? Mein Sessel erwacht zum Leben. Ich spüre, wie er unter meinem Hintern kribbelt. Wenn es so anfängt, muss ich aufstehen, doch dieses Mal zwinge ich mich dazu, es nicht zu tun. Stattdessen zünde ich mir erneut eine Zigarette an und höre den Fahrgeräuschen der Autos unten auf der Straße zu. Diesem ziehenden Ton, der anschwillt wie Popcorn und dann plötzlich klatschend erstirbt. Irgendwie hört er sich nass an und ich stelle mir vor, wie es heute Nacht geregnet haben muss. Während einer Zeit, als ich noch unter der warmen Bettdecke gelegen habe und mein Leben in der Traumwelt füllte. Doch vielleicht war dies die Wirklichkeit, möglicherweise träume ich gerade. Wenn dem so sein sollte, ist das eine verdammt schlechte Phantasie, die mir Mathematik Probleme beschert und dafür ein Schreibblatt unbefleckt lässt.
Überhaupt, über welches Thema soll ich nur schreiben? „Besser geht´s nicht“ hatte das Komitee als Vorgabe angegeben. Wenn ich mich danach richten sollte, so läge ich nun in meinem Bett. Dann wäre das Thema erfüllt und ich hätte meine Ruhe. Aber ich kann doch nicht darüber schreiben, wie ich schlafe. Wie ich mir die Decke fast über die Ohren ziehe, dass nur Mund und Nase den notwendigen Sauerstoff einsaugen, welchen ich als Wesen unbedingt benötige, um am Morgen wieder aufzuwachen. Meine Frau meint, ich schnarche. Das finde ich gut. Wenigstens ein Zeichen in diesen Stunden, dass ich nicht schon längst tot bin. Aber daran denkt sie natürlich nicht. Nur, dass sie dabei nicht einschlafen kann. Wie sehnen wir Menschen uns nach diesem Versinken. Wir müssen nicht unbedingt erwachen. Manche Menschen haben dies schon seit Jahren nicht mehr getan. Die glücklichen von ihnen liegen im Koma, die anderen merken es nicht einmal.
Ich zwinge meine Gedanken zurück zu der Geschichte. Das heißt, wenn ich etwas zu erzählen hätte. Immerhin scheint mein Sessel wieder eingenickt zu sein und ich kann nun weiter auf ihm sitzen. Zur Feier des Augenblicks sehe ich nach, ob mir jemand eine E-Mail geschrieben hat. Natürlich nicht. Ich habe das auch nicht anders erwartet. Die meisten Nachrichten sind Werbung. Obwohl so viele Menschen eine E-Mail Adresse besitzen, schreiben sie nicht. Vielleicht lesen sie die Nachrichten, aber sie antworten nicht darauf. Bei so einem E-Mail Zugang geht es nur darum, ihn zu besitzen. Niemand kommt auf den Gedanken, mir eine Idee zu schreiben, die mir die Möglichkeit gibt, an dem Literaturwettbewerb teilzunehmen. Ein Autor ist auf die Eindrücke von außen angewiesen. Es befruchtet. Allein der Erhalt einer Nachricht inspiriert. Vielleicht sollte ich mir selber eine E-Mail schreiben.
Der Himmel über der Häuserfassade wirft sich seinen Morgenmantel über. Er ist nicht so schwarz wie der Schlafanzug, sieht eher aus wie Brackwasser. Im Internet suchte ich nach einer genauen Bezeichnung von dunkelblau, fast schwarz, finde aber keinen Begriff dafür. Stattdessen einen Modeladen in Berlin, der diesen Namen trägt. Und ein spanisches Filmdrama. Was es nicht alles gibt! Dieses neue Wissen hilft mir aber nicht, so belasse ich es bei Brackwasser. Inzwischen ist es eh heller geworden und die Schwärze ist weiter in den Westen entschwunden. Aachen oder so, vielleicht auch noch darüber hinaus. Ich vermute, dass die Dunkelheit keine Grenzen kennt.
Langsam steigt in mir eine Ahnung auf, dass es heute wohl mit dem Thema zu der Geschichte nichts wird. Meine Gedanken ordnen sich nicht, aber das liegt nicht an mir. Ich will ja! Nur die verfluchten Gedanken nicht. Die machen immer Scherereien und hören nicht auf mich und es sind so viele. Wo sie nur alle herkommen mögen? Manche von ihnen sind Erinnerungen, manche beschäftigen sich mit der Zukunft, ganz wenige mit der Gegenwart. Und seit neuestem gibt es einen, der sich ausschließlich Mathematikproblemen widmet. Oder der einem Million Dollar, die es dafür gibt? Wer weiß das schon. Mir sagen sie ja nichts! Was sie beschäftigt, erfahre ich immer als letzter! Wenn sich wenigstens einer von ihnen der Geschichte widmen würde, könnte ich damit ja leben, aber Zack! schon ist der Gedanke an die Bettdecke wieder da!
Nun gut, wenn mir schon kein Thema einfällt, dann sollte ich mich immerhin mit der Art des Schreibens beschäftigen. Inzwischen sieht die Schlafzimmerkommode schon fast wie ein Nachbarhaus aus. Der Anblick gefällt mir nicht, ebenso wenig wie das Wort. Es wirkt nicht lebendig, fast wie tot. So als wenn ich aufhören würde, zu schnarchen.
Wie nennt man diese Art des Schreibens? Realismus? Kurze, knappe Sätze, die einen Eindruck erwecken, ohne ein Gefühl zu erzeugen. Vielleicht ist das ja für fünf Seiten das richtige. Oder doch lieber eine ausladend, blumige Sprache, die es mir auf wundersame Weise ermöglichen würde, aus dem schmucklosen Nachbarhaus wieder eine knorrige, alte Schlafzimmerkommode zu zaubern? Damit verliert die Geschichte aber sicher an Tempo. Geschwindigkeit ist wichtig. Gerade heute, wenn wir behaupten, dass unsere Gesellschaft so schnelllebig ist. Dabei fällt mir ein – wieder so ein komischer Gedanke, der sich einfach nicht an meine Vorgaben halten will -, dass Mitteilungen nicht mehr per E-Mail geschrieben werden, sondern auf Facebook. Elektronische Briefe sind ein Relikt aus der Vergangenheit, knapp hinter Rohrpost und Postillionen. Ich überprüfe kurz, was dort alles steht. Immerhin ist noch zu klären, wie ich in der Geschichte wirken will. Witzig? Manchmal stehen im Facebook kreative Sprüche. Aber sind sie witzig? Oder gar geistreich?
Ich kann das nicht beurteilen. Gedankenvoll vielleicht. Von denen habe ich genug, da kann ich mitreden. Das heißt, wenn sie mich zu Wort kommen lassen. Jeder von ihnen will der erste sein und da gibt es häufiger Streitereien, wie bei Kindern. Deshalb halte ich den Mund, sie hören eh´ nicht auf mich. Schweigen macht geheimnisvoll. Wenn ich nichts sage, wirkt es auf die Menschen so, als wäre ich intellektuell. Das macht vorsichtig. Sie wissen ja nicht, dass ich keine Chance habe, das Wort zu ergreifen. Ich bin der Sklave meiner Gedanken. Sollte ich tatsächlich intellektuell sein, stellt sich die Frage, warum ich den Kern des Mathematikproblems überhaupt nicht begreife. Und wenn ich so schreibe, falle ich sowieso auf die Nase. Das merkt doch jeder Leser.
Ich öffne erneut das Fenster, um eine Zigarette zu rauchen. Es ist nicht mehr so kalt wie vor einigen Stunden, aber das Geräusch der Autos bricht immer noch mit einem klatschen plötzlich ab. Es hat sich also fast nichts geändert. Nur der Himmel liegt grau auf den Giebel der Dächer und hat sich heute vorgenommen, die Menschheit zu ersticken.
Mir ist es einerlei. Bald schon macht der Kiosk unten auf und ich werde mir eine Zeitung kaufen. Meine Frau schläft noch. Wahrscheinich träumt sie nun glücklich, dass ich eines Tages ohne schnarchen neben ihr liege und nicht tot bin. Die Gedanken des bevorstehenden Tages haben die Überhand gewonnen. Immerhin ist die Erinnerung an die Bettdecke fast endgültig versunken.
Die fünf Seiten sind voll, ohne dass ich weiß, welche Geschichte ich überhaupt schreiben will und schon gar nicht in welchem Stil. Die Kaffeetasse und die Zigarettenpackung sind leer. Mein Kopf ist es nicht. Aber es ist egal. Für den Literaturwettbewerb hat es nicht gereicht. Aber auch das ist egal. Solange das Problem der kongruenten Zahlen nicht gelöst ist, finde ich keine Ruhe mehr. Ich hoffe, dass der Chinese sich endlich die eine Million Dollar verdient, dass ich wieder schreiben kann.
Langsam lese ich mir das Gestammel durch. Es hat zu regnen begonnen und ich fühle eine wohlige Müdigkeit in mir. Mein Sessel ist von neuem erwacht und ich halte es kaum noch auf ihm aus. Dieses Mal werde ich dem Drang nicht nachgeben können. Ich schaue durch das Fenster hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht tatsächlich ein Haus und keine Schlafzimmerkommode. Schade! Aber so soll es wohl sein und auch dieser Text ist alles was ich zustande bringen konnte. Doch das ist schon in Ordnung für heute, denn besser geht´s nicht.


© Mark Gosdek


4 Lesern gefällt dieser Text.






Beschreibung des Autors zu "Besser geht´s nicht"

Diese Geschichte habe ich dann NICHT zum Literaturwettbewerb eingereicht

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Besser geht´s nicht"

Re: Besser geht´s nicht

Autor: noé   Datum: 02.03.2014 10:46 Uhr

Kommentar: Warum nicht?
Besser geht's nicht!
noé

Re: Besser geht´s nicht

Autor: Mark Gosdek   Datum: 02.03.2014 11:09 Uhr

Kommentar: Haha, vielen Dank. Hab ich kurzzeitig auch gedacht, aber dann wieder verworfen. Mark

Kommentar schreiben zu "Besser geht´s nicht"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.