Ein frisch zugelassener Rechtsanwalt hat gerade seine neue Kanzlei in einem sehr vornehmen Viertel der Stadt eröffnet. Was ihm jetzt noch fehlt, das ist die gutbetuchte und ratsuchende Klientel.

So sitzt er nun schon seit geraumer Zeit an seinem blankpolierten Schreibtisch, kritzelt ein Strichmännchen nach dem anderen aufs Papier, schaut gelangweilt durch das große Fenster hinaus auf den wohlhabenden Stadtteil, aber es tut sich einfach nichts. Die Kundschaft bleibt aus.

Hat er sich wohl möglich bei der Wahl des Standortes für seine Rechtsanwaltskanzlei schlichtweg vertan? Diese ungemütliche Frage stellt sich der neue Rechtsanwalt immer wieder.

Doch nach etlichen Tagen des zermürbenden Wartens erspäht der junge Advokat plötzlich einen gut gekleideten Mann, der auf den Eingang seines Büros zugeht. Kurz darauf wird tatsächlich die Türklingel betätigt.

Eilig steht er auf, öffnet schwungvoll die Tür und begrüßt den dort stehenden Mann äußerst freundlich, lässt ihn auch sofort ohne lange zu reden rein und weist ihm vorerst im gegenüberliegenden Warteraum einen gemütlichen Fensterplatz zu.

„Bitte verzeihen sie, aber ich bin gleich wieder bei ihnen. Es wartet ein Mandant am Telefon, dem ich nur kurz einige wichtige Dinge mitteilen muss.“

Der Mann nickt verständnisvoll mit dem Kopf und der Rechtsanwalt geht in sein Büro zurück.

Dabei lässt er die gläserne Schiebetür absichtlich weit geöffnet, geht wieder an seinen Schreibtisch, nimmt elegant den Hörer seines schnurlosen Telefons in die Hand und fängt an zu sprechen: "Bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber jetzt bin ich wieder für Sie da. - Wie bitte? Ja natürlich! Den Fall haben wir praktisch schon für uns entschieden. Machen Sie sich jetzt also keine Sorgen mehr! Ich bekomme heute noch einen entsprechenden Anruf von meiner Vertretung in Frankfurt, die mir mitteilen wird, wie hoch die ausgehandelte Abfindung sein wird, die wir für Sie erstritten haben. Das Ergebnis wird Sie voll und ganz zufrieden stellen. Sie sehen also, dass ihre Angelegenheit bei uns von Anfang an in besten Händen lag. Meine Kollegen und ich haben übrigens in der Vergangenheit ähnlich gelagerte Fälle stets gewonnen. Wir verweisen in diesem Zusammenhang gerne auch auf unsere Erfolge hin, die alle auf wertvolle Erfahrungen gründen, welche wir an unsere Klientel natürlich gerne weitergeben. So, wenn es Ihnen recht ist, können Sie mich in den nächsten Tagen in meinem Büro besuchen, dann sprechen wir alles noch einmal in aller Ruhe durch. Es geht Ihnen sicherlich auch darum, auf welches Konto wir den immerhin ansehnlichen Geldbetrag transferieren sollen. Wegen des Termins rufe ich sie später noch mal an. Ist das OK für Sie? Schön, dann bis bald und auf Wiedersehen!"


Der junge Anwalt legt mit einem gespielt erfolgreichen Lächeln im Gesicht den Hörer auf, geht in den Warteraum zurück, wendet sich dem wartenden Mann zu und sagt: „Hoffentlich habe ich ihre Geduld nicht zu lange strapaziert, aber ich musste noch ein wichtiges Gespräch mit einem meiner Mandanten führen. Zufriedenheit steht nämlich bei uns ganz oben an erster Stelle. Nun, was kann ich für sie tun, mein Herr?“


„Nichts weiter", antwortet der Mann mit ruhiger Stimme und grinst dabei ein wenig. „Ich komme vom hiesigen Fernmeldeamt und soll ihr Telefon überprüfen. Mein Kollege hat es wegen eines fehlenden Kabels noch nicht anschließen können, wie er mir das erst heute mitgeteilt hat. Ich habe das neue Kabel dabei. Es dauert höchstens zehn oder fünfzehn Minuten, dann steht die Verbindung nach draußen.“




ENDE

(c)Heiwahoe


© Heiwahoe


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