Als sie aus dem Fenster sah, kam gerade ein Reh vorbei und fraß eine Rose in ihrem Garten. Es tat ihr leid, denn es war die letzte Rose, die es bis zum Winter geschafft hatte.
Sie lebte in einem Waldhäuschen, neben einem Bildhauer, mitten im Wald. Heute war es wieder still, kein Lärm drang vom nahe gelegenen Sportplatz herüber. Auch keine Motorsägegeräusche vom Bildhauer, der an seinen Holzskulpturen arbeitete.
Eine ihrer drei Katzen kam vorbei und strich Gerda um die Beine. „Ja, es gibt Futter“, sagte sie und füllte den Napf mit frischer Nahrung auf der Veranda. Es gab eine Katzenklappe in die Schlafkammer, die Küche schloss eine angelehnte Tür. Über den Räumen lag ein Dachboden, auf dem sie ihre Vorräte und Kleider deponierte. Eine Toilette oder Badezimmer gab es nicht. Gerda wusch sich in einer Wanne, nachdem sie heißes Wasser gemacht hatte. Ein brüchiger Handspiegel sagte ihr, wie ihre Frisur stand und wie alt das Gesicht aussah; es war das Gesicht einer Fünfzigjährigen, die, immer im Freien, eine faltige Haut hatte. Um das etwa 30-Quadratmeter-Häuschen gab es einen großen Garten zwischen den Bäumen.
Sie hatte sich Holz für den Winter anliefern lassen. Aufgeschichtet war es auch schon, eine Arbeit, die sie mit Anstrengung durchzog. Im Schlafzimmer stand ein Holzofen, in der Küche ein Herd, sonst gab es keine Heizungen, aber dafür Strom für die Glühbirnen, das Radio, den Kühlschrank und den Wasserkocher. Ihre Wäsche konnte sie beim Bildhauer im Nachbarsteinhaus waschen und trocknen.
Sie verdiente ihr eigenes Geld, denn vom Staat wollte sie nicht leben. In der Frühe, um zwei Uhr läutete ihr Handy-Wecker und sie machte sich fertig fürs Zeitung-Austragen. Sie hatte ein schönes Gebiet, mit Krankenhaus, Arztpraxen und guten Wohnhäusern. Viele kannten sie schon lange, und es kam morgens immer zu einem kleinen Schwätzchen. Dann ging es mit dem Wägelchen nach Hause und zum Frühstücken und danach holte sie der Bauer ab, bei dem sie auf dem Feld arbeitete. „Im eigenen Tempo arbeiten, das ist immer am schönsten“, erzählte sie, „und du musst auf dem Feld wissen, wie du dich gegen die Sonne drehst. Und die Handgriffe müssen sitzen, das ist richtiges Arbeiten“. Gerda war eine gute Arbeiterin und wurde immer wieder angefragt. Sie wusste alles über Feldarbeit, wie das Gemüse gereinigt und gelagert wurde und welche Arbeit die Gewächshäuser beinhalteten. Neben ihrem Lohn bekam sie immer etwas Gemüse und Eier mit nach Hause, wenn der Bauer sie abends wieder zurückfuhr. Sie beschrieb ihn ihren morgendlichen Zeitungskunden als ernsten Menschen, der viel vom Leben wusste, aber nicht viel sagte.
Das Geld reichte zum Leben und sie war kranken- und altersversichert. Zudem kostete die Miete für das Waldhäuschen nur 50 Euro. Sie konnte sich gutes Fleisch kaufen und andere teure Lebensmittel und sich gesund ernähren.
Auf dem Tisch der Veranda lag noch ein Stapel Zeichnungen, die sie irgendwann angefertigt hatte. Verloren sah sie ihn durch und blieb bei der Aktzeichnung von ihrem verstorbenen Mann hängen. Es war schon Jahre her, dass er an Gehirnschlag gestorben war. Er war aus dem Kosovo gekommen, hatte mit ihr auf einem Fest die Nacht durchgetanzt und sie dann geheiratet. Damals hatten beide kein Geld und keine Arbeit. Deshalb nahmen sie sich das Waldhäuschen und lebten darin gemeinsam. Die meiste Zeit trank er Bier und sah fern, aber sie zog es durch. Wenn er ihr wenigstens nicht so viel reinredete. Dann war schon viel gewonnen. Sie fand schnell den Zeitungsjob und so hatten sie ein kleines Auskommen. Zum Bauern ging sie später und nur ein paar Tage in der Woche.
Die Zeichnungen waren ihr gut geraten, genauso wie das Landschaftsbild, das sie auf die Küchenwand aufgemalt hatte. Sie träumte davon, wie der Bildhauer im Nachbarhaus, auch einmal auszustellen, aber nie wurden die Bilder fertig. Dafür bastelte sie beim Schein der Glühlampe in den Abendstunden. Sie fertigte Laternen an für die Nachbarskinder, die sie mit buntem Papier beklebte.
Wenn sie nervös wurde, drehte sich Gerda einen Joint. Warum auch nicht, sie hatte ihre eigene Methode der Entspannung. Ansonsten rauchte sie Tabak. Manchmal durfte sie zu Bekannten ins Badezimmer. Einer, von dessen Räumlichkeiten schwärmte sie am meisten, hatte farbige Lichterstrahler im Bad. Da war in der Wanne liegen ein Happening.
Sie ging in Gedanken ihre Liste der Besuche durch. Auch die Nachbarjungen waren bedacht. Und es war ihr nicht egal, was ihre drei Katzen-Mitbewohner von ihr dachten. Sie würde einheizen im Winter, damit es nicht einfrieren würde und sich ihre Katzen wunderten. Und diese würden wieder auf ihrer Bettdecke oder im Korb-Sessel schlafen.
Nein, sie würde viel zuhause bleiben, am Holzofen sitzen, Nüsse knacken, draußen die Tiere beobachten, den Raben füttern, der immer an ihr Fenster klopfte, wenn das Futter leer war, im Radio ein Hörspiel anhören, in Büchern aus der Bücherei stöbern und die Ruhe genießen. Mehr brauchte sie nicht.


© Karin Schaffer


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