„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Hamalya klappte das Märchenbuch zu und stellte es zu den anderen Kinderbüchern ins Regal zurück. Sie drehte sich auf der Bettkante zu Mina um und blickte auf das friedlich schlafende Kind hinunter. Dann schlich sie leise aus dem Raum, schloss die Tür, wobei sie sich bemühte, Mina nicht zu wecken, und stieg die Treppe hinunter.

Der Raum, in dem sie sich nun befand, war der größte in dem kleinen Haus. Hier wartete sie, wie jeden Abend darauf, dass er sie besuchen kam. Sie setzte sich auf einen Stuhl und schaute auf ihre Armbanduhr, das Erbstück ihrer Mutter. Es war fünf Minuten nach acht. Es wird noch etwas dauern, bis er kommt, dachte sie, da Mina heute etwas früher eingeschlafen war als sonst. Deswegen stand sie noch einmal auf und setzte heißes Wasser auf. Doch als der Tee durchzogen war, hatte Hamalya ein ungutes Gefühl, da er sich immer noch nicht blicken ließ. Er ist doch sonst immer so pünktlich und wenn er krank wäre, hätte er mir eine Nachricht zukommen lassen, dachte sie. Ich muss ihn suchen gehen, beschloss Hamalya und holte sich ihren Mantel vom Haken, den sie sogleich überzog. Doch bevor sie aus dem Haus trat, wollte sie sich vergewissern, dass Mina wirklich schlief und ging hinauf zu ihrem Zimmer. Vor der Tür blieb sie einen Moment lang stehen und horchte. Nur regelmäßiges Atmen und gelegentliches Rascheln der Bettdecke, sonst blieb alles ruhig. Langsam drückte sie die Türklinke hinunter und betrat das Zimmer. Sie drehte sich zum Bett hin und sah Mina an. Diese lag genauso da, wie Hamalya sie das letzte Mal gesehen hatte: Die blauen Augen von ihren blassen Lidern bedeckt, die linke Hand um ihren Plüschhasen gelegt und eine Strähne ihres langen, braunen Haares hinters Ohr geklemmt. Alles wirkte so, als wäre die Zeit stehen geblieben, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. Doch dieses Ziehen in der Magengegend beunruhigte Hamalya. Deshalb ließ sie den Kopf im Zimmer umherschweifen und suchte nach einer Veränderung. Sie betrachtete das Bett, in dem Mina schlief, das schmale Schränkchen rechts daneben, den Kleiderschrank, dessen Farbe an manchen Stellen schon etwas abblätterte, das mit Vorhängen abgedunkelte Fenster, das Bücherregal an der Wand… und plötzlich wusste sie, was anders war: Das Buch, aus dem sie vorhin Minas Lieblingsgeschichte vorgelesen hatte, war verschwunden. Stattdessen stand ein großes, schweres, in Leder gebundenes Buch zwischen den anderen. Es wirkte irgendwie fehl am Platz, sonst wäre es ihr gar nicht aufgefallen. Sie konnte sich auch nicht erklären, wie es dorthin gekommen war. Kurzerhand schnappte Hamalya sich das Buch, warf noch einen letzten Blick auf Mina und schloss die Tür. So schnell und gleichzeitig leise sie konnte, stieg sie die Stufen hinab, rannte durch den Flur zur Haustür und drückte die Klinke hinunter. Ich muss so schnell wie möglich zu ihm, war ihr letzter Gedanke, als sie die Tür hinter sich zu zog und in dem Gewirr von schlecht beleuchteten Straßen und engen Gassen untertauchte.


© Hamalya


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