Jene besichtigte den verzauberten Wald. Mit den Augen waren seine Grenzen gar nicht zu erkennen. Voller Bäume war er, und Gras bis zu den Knien, mit verwunschenen Brunnen, deren Außenkanten nur dreißig Zentimeter hoch waren, aber fiel man in sie, waren sie bodenlos. Und obenauf thronte ein Engel aus Stein, der Wasser spie.

Die Gartenzwerge täuschten sie nicht mehr. Es waren Außerirdische, das war nicht schlimm. Sie konnten ihretwegen die andere Kinder täuschen, aber Jene täuschten sie nicht.

Sie folgte erst dem kleinen Weg ins Dickicht, aber dort wich sie von ihm ab. Hier standen die Bäume so dicht, dass die Sonne den Boden nicht erwärmen konnte und das machte sie traurig. Jene kniete sich nieder und streichelte das kaum fingerknöchel hohe Gras sanft. "Verzweifle nicht", flüsterte sie. Hier war es so dunkel, dass sie flüstern musste.

"Auch du wirst einmal groß und saftig." Das Gras aber antwortete nichts, denn es war schwach. Die Welt um Jene glitzerte, wo die Sonne sie erhellte. Wie in einem schlechten Musikvideo war alles im Sonnenlicht in Farbe und alles im Schatten der dichten Bäume in Schwarzweiß.

Einen Entschluss fassend stand Jene auf und ging zum nächsten Baum.

"Entschuldige.", sagte sie. Er antwortete nicht, obwohl sie bestimmt zehn Sekunden wartete.

"Würdest du vielleicht ein wenig zur Seite treten?" Jetzt konnte der Baum sich nicht mehr tot stellen. Er schnaubte ungläubig. Es war einfach zu lächerlich.

"Zur Seite treten?", grunzte er. Jene blieb ob dieser offensichtlichen Verachtung ruhig und geduldig.

"Ich stehe hier seit 412 Jahren, und da kommst du und willst mich von meinem angestammten Platz vertreiben?" Sie sah schüchtern zu ihm auf, aber ihre Stimme war fest.

"Bitte, ja."

"Diese arroganten Menschen!", schnaubte die alte Eiche.

"Es ist nur", sie bat ja nun wirklich nicht für sich selbst. "Nur, das Gras bekommt überhaupt keine Sonne ab und auch keinen Regen. Es ist schon fast ganz ausgestorben, siehst du?" Sie zeigte auf all die dunklen Stellen auf dem Boden, wo gar nichts mehr wuchs außer Erde. Der Baum strengte seine Augen an, um den Boden sehen zu können. Eichen sind kurzsichtig, und so alte besonders.

"Hm", sagte sie. "Hm."

"Also, willst du wohl zur Seite gehen? Nur einen Meter oder so!" Jene wollte nicht arrogant erschienen. Ein kleines Zeichen des guten Willens war doch alles.

"Hm.", sagte die Eiche. Das wurde Jene langweilig.

"Na?", fragte sie.

"Ja, weißt du... ich kann ja nicht." Da war Jene überrascht. So ein großer alter Baum, und er sollte sich nicht bewegen können?

"Warum nicht?", fragte sie daher recht forsch. Von Bäumen wollte sie sich nicht belügen lassen.

"Ich bin hier, sozusagen, verwurzelt.", erklärte die Eiche. "Siehst du?" und zum Beweis zog sie dabei erfolglos einen ihrer achtundreißig Füße hoch.

"Oh", sagte Jene. Daran hatte sie ja nun wirklich nicht gedacht. "Was machen wir denn nun?", rief sie aus, den Tränen nahe.

"Na, auf keinen Fall mich auswurzeln!", sagte die um ihr Leben fürchtende Eiche entrüstet.

"Nein...", sagte Jene. Sie hatte auch gar keinen Spaten dabei.

"Das Gras hat hier auch gar nichts zu suchen!", verteidigte sich die Eiche weiter. "Was wächst es denn hier überhaupt? Da brauch es sich doch nicht beschweren. Ich steh hier seit 367 Jahren und das wusste das Gras auch, bevor es sich hier hin pflanzte." Die Wahrheit war, dass Eichen nicht sehr gut zählen konnten, vor allem nicht so alte. Das war wie das mit dem Sehen.

"Menschenkind! Nimm doch das Gras mit und pflanz es um!", rief sie einem Geistesblitz folgend. Jene überlegt. Das konnte sie wirklich machen.

"Möchtest du das?", sie kniete sich neben dem Gras nieder aber es antwortete noch immer vor Schwäche nicht. Da fasste sie ihren Entschluss. Sorgfältig entfernte sie soviel Gras mitsamt Wurzeln großflächig wie sie nur konnte.

"Auf Wiedersehen.", sagte sie zu der Eiche, die froh wäre, wenn sie sie nie wieder sehen müsste. Jene lief davon Richtung Heimat. Dort sah die Aufseherin sie entgeistert an, als Jene mit schmutzigen Fingernägeln und einem Büschel Gras ankam. Sie legte das Gras auf den Boden vor ihrem Fenster, ging ins Haus um Wasser zu holen. Anschließend breitete sie das Gras aus und goss es an.

"So, jetzt kannst du wachsen", flüsterte sie ihm zu. Eine winzige, schwache Stimme antwortete ihr "Danke". Jene strahlte.


© Linevil


1 Lesern gefällt dieser Text.



Beschreibung des Autors zu "Jene im Wald"

Eine kurze fantastische Geschichte, die man mit den Augen eines Kindes lesen sollte.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Jene im Wald"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Jene im Wald"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.