Ganz alleine stand sie auf dem schwarzen, verlassenen Gleis. Ihren Zug hatte sie um wenige Minuten verpasst und musste jetzt eine halbe Stunde auf den nächsten warten. Ihr warmer Atem stieg wie ein silbriger Drache in den sternenlosen Himmel auf, bald wurde er vom kalten Wind für immer fortgetragen. Sie fror. Der suchende Blick des jungen Mädchens blieb auf der mit roten und blauen Kugeln dekorierten Plastiktanne hängen. Es war kurz vor Weihnachten... Das Fest der Liebe, an dem sich die ganze Familie um die geschmückte Tanne versammelte, Geschenke austauschten, sich mit Leckereien vollstopfte und so tat, als wäre alles in Ordnung, wohl wissend, dass am nächsten Tag wieder die Fetzen fliegen würden. Aber während des Festes wahrte man traditionsgemäß den Scheinfrieden, die Scheinfreude, die Scheinliebe... Wusste eigentlich einer von diesen Millionen Menschen, worum es bei diesem Fest ging? Wohl kaum. Es war so wie dieser bunte Plastiktannenbaum mit seinen bunten, hohlen Kugeln.



Noch 25 Minuten bis zum Zug



Langsam füllte sich der Gleis mit grauen und schwarzen Gestalten. Meistens standen sie in kleinen Grüppchen. Die Einen lachten, während sich die Anderen leise unterhielten. Es schien, als ob nur das kleine, hagere Mädchen in ihrem weißen Mantel alleine da stand. Nein, niemals hatte sie dazugehört. Sie war anders als diese Menschen. Auch wenn sich die Menschen täglich wuschen, waren ihre Gesichter grau vom Staub der großen Stadt. Dieser hatte sich so tief in die Haut gefressen, dass er sich bei Einigen schon ins Gehirn und ins Herz grub. Die Meisten hatten so viel Staub auf dem Gesicht, dass man den Eindruck gewann, sie hätten eine Maske auf, hinter der sie ihre Gefühle – falls sie denn welche hatten – wohl verbargen. Sie sprachen von Freundschaft und stießen Einem hinterhältig den Dolch in den Rücken. Sie sprachen von Gleichheit, waren aber arrogant und hielten eindeutig zu viel von sich, Gerechtigkeit hatten sie schon längst vergessen; kurzum, die Maske verbarg ihre Falschheit, sowie ihre kalte Gleichgültigkeit, vor genauso falschen Maskenträgern, wie sie es selbst waren. Aber waren sie denn glücklich?



Noch 15 Minuten bis zum Zug



Im Schein der Laterne umarmte sich selbstvergessen ein Paar, als ob sie sich auf einer Sommerwiese unter silbernen Mondschein befanden. Auch das Mädchen hatte einst einen Liebsten, mit dem sie in sommerlichen Vollmondnächten die Sterne betrachtete und sich am sanften Lied der Nachtigall erfreute. Es war so lange her, dass sie bereits vergessen hatte, wie es war, sich geliebt und gebraucht zu fühlen. Seit er bei einem Unfall ums Leben kam, fand sie keinen, der sie so verstand, wie er. Der so lachte, wie er. Der ihr Ein und Alles sein konnte, wie er. Warum hat er sie hier so herzlos zurückgelassen? Früher kam sie an sein Grab, wenn es ihr schlecht ging, doch mit der Zeit fand sie weder Trost, noch Hoffnung, nur kalte Stille und erdrückende Einsamkeit auf dem leeren Friedhof. Bald vermied sie es ganz, den Friedhof zu besuchen.

Sicher, sie hatte sich einige Male mit ihrem Arbeitskollegen getroffen – diesem dunkelhaarigen Engel mit wunderschönen braunen Augen und dem edlen Gesicht. In seiner Gegenwart fühlte sie sich aber noch nicht so frei und unbeschwert, auch wenn sie es sehr genoss, seinen warmen Körper zu spüren, wenn er sie im Arm hielt, oder dieses wundersame Ziehen im Bauch, wenn seine kurzen, schlanken Finger durch ihr Haar fuhren... Allerdings war es ihr bewusst, dass daraus nichts Ernstes werden würde, was ihr auch sehr weh tat. Eine glitzernde Träne rollte aus ihrem Auge, als sie an das letzte Treffen dachte, als er ihr noch lange nachblickte, ehe sie in der Tiefe der U-Bahn verschwand. Und seitdem hatte er sich nicht mehr gemeldet. Nein, sie war alleine, niemand brauchte sie.



Noch 5 Minuten bis zum Zug



Wie schön doch das Rot ihres Blutes auf dem Weiß ihres Mantels wirken würde! Laut der Durchsage würde der Zug bald einrollen. Unwillkürlich musste sie an ein Buch denken, das sie mal in ihrer Jugend gelesen hatte. Auch Anna, die Protagonistin, war von der Welt verstoßen und an der Liebe verzweifelt. Warum also nicht auch..?

Nein, sie konnte es doch nicht machen! Schließlich wartete daheim eine liebe Familie auf sie, ihr treuer Hund, ihre Freunde... Was würden sie denn sagen? Durfte sie so einfach ihr Herz brechen, so wie man oft das ihre gebrochen hatte?

Andererseits...



Noch eine Minute bis zum Zug



Sie sah schon die gelben Lichter des heran eilenden Zuges, in denen einzelne Schneeflocken, wie weiße Mücken, tanzten; hörte das kräftige Metallherz singen, spürte, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Nur ein Schritt.. es war so leicht und doch so schwer loszulassen. Nur ein Schritt...


© Ayleen_Schwarzfeldt


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Beschreibung des Autors zu "Nur noch ein Schritt"

Eine Kurzgeschichte um ein Mädchen, dass sich über ihr Leben Gedanken macht

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