Sie saß bereits eine halbe Stunde im Zug ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. Nach ihrer Arbeit hatte sie kein großes Interesse mehr an ihrer Umgebung. Es war eine anstrengende Arbeit und daher auch schlecht bezahlt. Sie war in ihrem eBook vertieft keine wirkliche spannende Geschichte, aber es reichte. Erst als ihre Sitznachbarin plötzlich nieste war sie im hier und jetzt angekommen.
„Gesundheit“, sagte sie etwas unsicher und erhielt von ihrer Sitznachbarin ein bedächtiges Nicken und eine „Danke“ zurück. Ihre Sitznachbarin trug ein rotes T-Shirt mit einem schwarzen Konterfei von Ernesto Che Guevara, dem wohl bekanntesten Unbekannten auf der Welt. Vielleicht lagen vor ihm nur noch Gott und Jesus, bei denen die Leute auch ihre Zeichen tragen und doch nicht so handeln wie sie es gewollt hatten. Ihre Jeans war dementsprechend zerrissen und um das Klischee komplett zu machen, trug sie einen nicht hoch gegeelten Iro, welcher schlaff zur ihrer linken Seite hinunterfiel. Nur falls jemand nicht verstand, welche politische Grundhaltung dahinterstehen sollte. Jedoch stand dies für sie nicht im Widerspruch im nächsten Moment wieder auf ihr Smartphone zu schauen und die neusten Updates bei Facebook und WhatsApp zu checken. Dabei waren ihre Haare in ein so grelles blau gefärbt, dass ihre Haut geradezu wie ausgebleicht wirkte.
Aber da war noch jemand gewesen, welcher ihr vorher nicht aufgefallen war. Dieser Mann hat sein Gesicht nicht in ein Buch oder in einen Flachbildschirm vertieft, sondern sah sie direkt an. Als er bemerkte, dass sie ihn bemerkt hatte, lächelte er zurück. Er war ein attraktiver Mann so kurz vor 30. Er trug eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und darüber ein schwarzes Jackett mit einer roten Krawatte. Business-like waren die Haare kurz, auch weil sie ihm langsam ausgingen, dafür trug er einen dunklen Hippsterbart auf seiner weißen Haut. Er wollte sich gerade auf den letzten freien Platz in der vierer Gruppe setzen als ein anderer Mann, der gerade zugestiegen war sich auf den Platz gegenüber hinsetzte. Die Enttäuschung des jungen Mannes war sichtlich zu erkennen. Sie war dagegen froh. Sie hatte keine Lust wieder angeflirtet zu werden, wieder diese banalen Dinge auszutauschen und immer wieder und wieder über die gleichen Sachen zu reden: „Was machst du so? Hobbies, Arbeit, Freunde und Familie.“ Eigentlich kaum zu unterscheiden von einem Vorstellungsgespräch dachte sie und musste lächeln. Sie hätte gerne den Gedanken noch weitergesponnen, aber der neue Gast riss sie heraus.
Es war nicht nur das starke Parfum was sie nun wahrnahm, sondern auch die Worte des Mannes. Okay, sie verstand die Worte nicht. Aber sein Gesicht und auch die Tonlage in dieser an und für sich schon harten Sprache liesen sie aufhören.
Sie lächelte, aus Verlegenheit, nicht weil der Mann in seiner ruppigen Art etwas witziges gesagt hätte, oder vielleicht doch? Sie konnte diese Sprache bisher nur Bruchstückweise. Sie wollte sich schon so oft bei Kursen anmelden, aber immer wenn sie da war, waren die Kurse schon belegt. Es war einfach nicht so einfach diese Sprache sich selber beizubringen. Na ja, ihr zumindest ging es nicht so leicht von der Hand Sprachen zu lernen. Sie hatte ihre Stärken in anderen Gebieten, zum Beispiel im trockenen Auswendiglernen.
Um sich der Worte des Mannes etwas klarer zu werden sah sie sich um. Vielleicht verstanden die anderen Zuggäste die Worte des Mannes und sie könnte an den Gesichtsausdrücken der anderen erkennen, um was es möglicherweise ging. Aber sowohl die Punkerdame als auch der Businesstyp hatten sich mittlerweile weggedreht oder noch tiefer in ihre Smartphone vergraben. Die ältere Dame, welche auf dem vierten Platz saß, war mittlerweile ausgestiegen.
Nun versuchte Sie mit ihrem leichten Lächeln und fragenden Augen ihrem neuen gegenüber klarzumachen, dass sie ihn einfach nicht versteht. Nur war dies eine falsche Entscheidung, dies machte den Mann noch wütender. Sein bisher fahles Gesicht wurde röter und röter bis es ein klares Zinnoberrot erreichte. Sie bereute ihre Reaktion und schaute auf die Anzeigetafel. Es waren noch 5 Haltestelle bis zu ihrem Ziel. Vielleicht würde sich der Mann wieder beruhigen. Vielleicht regt er sich gar nicht wegen ihr auf. Vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag und machte sich nun Luft und sie hatte das Unglück, sein Ziel zu sein.
Aber diese Hoffnung sollte sich bald als vergebens herausstellen. Der Mann machte eindeutige Gesten, welche sich nur auf sie beziehen konnten und lachte danach hämisch, nein bösartig. Die Punkerin und der Businessmann wirkten mittlerweile mehr wie Schaufensterpuppen als wie menschliche Wesen. Sie blieben teilnahmslos. Nur etwas weiter weg sah sie einen älteren Mann den Kopf schütteln und etwas leise flüstern. Es waren mittlerweile neue Fahrgäste eingestiegen. Es war so voll, dass alle Sitzplätze besetzt waren außer der vierte Sitzplatz bei ihr, der Punkerin und den schreienden Mann. Er blieb frei. Nicht nur das, sondern die Leute schienen zu versuchen eine unsichtbare Linie nicht zuübertreten, so dass die Leute dichter gedrängt standen als nötig, aber ein Sicherheitsabstand zu dieser Sitzgruppe entstand. In sicherer Entfernung zum Geschrei des Mannes, welches man überall im Zug hören konnte. Wer nichts zum Lesen hatte, schaute einfach in eine andere Richtung. Nur eine Frau trat über diese Grenze, sah sich kurz die Situation an und rief dann: „Jawohl!“.
Das Wort kannte sie und verstand sie auch, der schreiende Mann kannte es auch und begann wie angestachelt durch das Wort an ihr zu zerren. Er zog sie hoch und begann sie zu schütteln. Sie versuchte sich aus dem Griff und seinem Schwall von Spucke zu befreien. Nach einigen ziehen und zerren schaffte sie es auch. Der Zug hielt an der nächsten Haltestelle. Es war noch nicht ihre, aber sie rannte aus dem Zug. Keine Ahnung wo die Menschen in dem dichtgedrängten Wagon den Platz hernahmen, aber sie konnte wie durch eine menschenleere Gasse den Zugverlassen ohne mit einem der anderen Fahrgäste in Berührung zu kommen.
Sie hörte hinter sich wie die Zugtür schloss und ihre Tränen, welche langsam ihre Wangen herunterglitten. Sie sah hinter sich als der Zug den Bahnsteig verlassen hatte. Der Mann war im Zug geblieben. Zum Glück. Aber nicht nur das war im Zug geblieben, nicht nur das.
Mittlerweile stand sie auf der Rolltreppe nach oben. Nun wollte sie den restlichen Weg zu Fuß gehen, sie musste. Weitere 20 Minuten. Es war der letzte Zug für heute Abend gewesen. Unter einer Straßenlaterne nahm sie eine Reklame war und betrachtete sie genauer. Ihr Gesicht spiegelte sich in dem Fenster. Ihr schwarzes Gesicht.


© PeKedilly 2015


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