Manchmal ist das Leben mehr Schein als Sein, genau wie bei Caro: Sie war ein scheinbar lebensfroher Mensch, der gern lachte und unangenehme Situationen mit einem lässigen Achselzucken wegsteckte, und ein Mensch, der Herzenswärme ausstrahlte und jeden damit einhüllt. Sie war eine starke Frau, die selbstbewusst war und ihre kindliche Neugier nie verloren hatte. 
Mit ihren goldblonden Haaren, den frechen grünen Augen und ihren vollen kirschroten Lippen zog sie oft die Blicke auf sich.
Wer würde daran denken, dass sie ein dunkles Geheimnis hatte, welches mit tiefster Traurigkeit gefüllt war?
Als Caro an jenem Morgen aufwachte, weil die Sonne sie weckte, spürte sie die pure Lust aufs Leben. Durch das offene Fenster kam ihr der Geruch von frisch gemähtem Gras entgegen und das Gezwitscher der Vögel, die in den Apfelbäumen saßen. Es war ein erfrischender Frühlingstag im Mai. Caro setzte sich auf die Fensterbank, atmete die Luft ein und sog alle Eindrücke tief in sich auf. Der perfekte Tag für einen Neuanfang, denn Caro wusste, dass nur Veränderungen helfen.
Ihr war bewusst, welch Anblick sich in ihrer Küche bieten würde. Eine mit Geschirr überfüllte Spüle. So viel Geschirr, als hätte sie Freunde zum Essen eingeladen. Caro schaute sich in der Küche um und war entsetzt, als sie das Ausmaß ihres seelischen Hungers sah, denn sie litt an regelrechten Fressanfällen, wenn sie traurig war und sich innerlich leer fühlte. Sie stopfte Lebensmittel maßlos in sich hinein und ließ die leeren Verpackungen danach unbeachtet in der Küche liegen. Auf dem Herd stand noch ein Topf mit geronnenem Pudding, den sie kochte, obwohl sie längst satt war. Aber ihr seelischer Hunger konnte kaum befriedigt werden.
Im Küchenschrank stand der geliebte Schokoaufstrich, auf den sie morgens nie verzichten konnte. Sie nahm ihn, zögerte kurz und schmiss ihn entschlossen in den Müll, als ihr Blick zum letzten Mal auf die Kalorienangaben fiel. Sie hatte alle Zahlen und Zutaten im Kopf und trotzdem kamen die Fressattacken unkontrolliert über sie. Nun war sie bereit, einen Schlussstrich zu ziehen, denn jeder Tag konnte ein Neuanfang sein.
Caro stellte ihre Wohnung völlig auf den Kopf, räumte auf und entfernte alles, was ihr nicht guttat.
Danach ging sie einkaufen und füllte ihre Küche mit Vitaminen. Der erste Schritt war getan. Caro war glücklich und stolz.
Sie machte einen erholsamen Spaziergang in den Park und setzte sich auf eine Bank neben einen Blumenkübel mit weißen Rosen.
Die Rosen lösten Kindheitserinnerungen in ihr aus. Früher war sie mit ihrem Vater oft im Park und sie hatten viel gemeinsam unternommen, wie auch das Bootfahren im Sommer. Sie hatten immer großen Spaß, als sie abends bis zum Sonnenuntergang am See grillten und die Grillen zirpten.
Caro hatte ihren Vater damals sehr geliebt, er war etwas Besonderes für sie und er zeigte ihr, wie schön das Leben war.
Alles änderte sich, als eines Tages dieser Anruf kam. Ein Anruf mit der Nachricht, dass ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das hatte Caro nie verkraftet. Als Kind konnte sie tagelang nichts essen und zog sich zurück. Als sie sich an die Sprüche ihres Vaters und an seine sprudelnde Lebensfreude erinnerte, rappelte sie sich jedoch bald wieder auf. Ihr Vater hatte immer gesagt: "Niemand soll hungern und frieren“, und Sätze wie: "Essen ist Liebe". Denn ihr Vater war ein Genussmensch, der alles genoss, vor allem aber das Leben.
Seitdem  versuchte sie, ihr Leben mit Essen zu füllen, denn das gab ihr Wärme und das Gefühl von Liebe, wenn sie sich traurig und allein fühlte. Besonders warme und süße Mahlzeiten vermittelten ihr für kurze Zeit Wohlbefinden. Nach dem Essen kamen meist die nagenden Schuldgefühle, weil sie wusste, dass sie viel zu viel gegessen hatte. Oft fühlte sie sich danach voll und hässlich. Der Magen war gefüllt, aber ihre Seele war es nicht. Irgendetwas fehlte – nur, was genau? Es konnten viele Dinge sein.
Caro rief ihren Arzt an und vereinbarte einen Termin, um mehr Klarheit in ihr Leben zu bringen und den Ursachen auf die Spur zu kommen. Danach  pflückte sie vorsichtig eine Rose ab, stand auf und ging zum See, wo sie sich ein kleines Holzboot vom alten Bootsverleih mietete. Sie paddelte langsam auf den See hinaus und genoss das erlösende Gefühl, frei zu sein. Denn heute begann ein neues Leben, in ihrem Boot auf dem Weg aus der Vergangenheit. Caro nahm die Rose und ließ sie auf dem See sanft davontreiben, denn ihr Vater hatte Rosen geliebt. Caro schaute hinauf in den Himmel und war glücklich. Ihr Vater wird würde in ihrem Herzen weiterleben und ihre Seele nicht mehr mit Trauer erfüllen.


© Frida Mai, alle Rechte vorbehalten.


3 Lesern gefällt dieser Text.




Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Unter blauem Himmel"

Re: Unter blauem Himmel

Autor: noé   Datum: 10.05.2014 17:30 Uhr

Kommentar: Ein Lehrstück, und der Zeigefinger ist nur ein ganz, ganz klein wenig erhoben. Gefällt mir gut!
noé
(Schau mal: "...Ihr Vater wird würde ..."

Re: Unter blauem Himmel

Autor: Frida Mai   Datum: 15.05.2014 20:58 Uhr

Kommentar: Hihi, danke Noé ;) Wie immer sehr aufmerksam ;)
Liebe Grüße!

Kommentar schreiben zu "Unter blauem Himmel"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.