Sie waren nicht mit gelbem oder pinkfarbenem Plüsch bestückt. Im Oktober 2003 hatte ich Spätdienst und versah meinen Dienst auf der Linie M48. Beim Übernehmen des Doppeldeckers verfluchte mein Kollege den Bus und nannte ihn eine Scheißkarre. Die Liste seiner persönlichen Bemängelungen, den Bus betreffend, war lang, aber ohne Gewicht. Ganze zwei Fahrten hatte ich schon hinter mich gebracht. Der Bus lief fehlerfrei und ich kam mit ihm klar. Nach zweiundzwanzig Uhr startete ich mit zwei Fahrgästen in die dritte, und -wie sich herausstellen sollte- zugleich letzte Runde. Ich war gerade vier Haltestellen weit gekommen, als der Omnibus Bocksprünge vollführte. Meine weibliche Schnelldiagnose: Getriebeschaden. Sekunden später ging der Motor eigenmächtig aus. Auch meine nächste Überlegung, ob der Tank leer sein könnte, erwies sich als falsch. Laut Instrumentenanzeige war der halb voll. Wenigstens das Funkgerät funktionierte, also konnte ich die Zentrale über mein Problem informieren. Diese nun wies mich an, den Bus von außen mittels Hauptschalter, der die Batterien vom Bordnetz trennt, stromlos zu schalten. Ich war an einer stockdunklen Stelle liegen geblieben, Einsatz für meine nigelnagelneue LED Taschenlampe. Ich stieg aus, ließ die Schlüssel im Zündschloss stecken und die erste Tür offen. Meine beiden Fahrgäste prophezeiten mir, dass es bestimmt länger dauern würde, weshalb sie die zwei Haltestellen bis zu ihrem Ziel laufen wollten. Bitte, nicht immer so pessimistisch. Ich schaltete den Bus aus, alle Instrumente wurden heruntergefahren und die Innenbeleuchtung erlosch. Ungeduldig, weil ich die verlorene Zeit nie wieder aufholen könnte, wartete ich die obligatorischen fünf Minuten ab, dann schaltete ich den Bus wieder ein. Sämtlicher technischer Krimskrams fuhr wieder hoch, die Instrumente erwachten zum Leben, die Beleuchtung schaltete sich ein und die Türen schlossen sich. Fein, dachte ich und wollte nun wieder in den Bus, aber, nichts da, -die Türen blieben verschlossen. Diese muss man nämlich mit dem Schlüssel separat öffnen. Apropos Schlüssel! Wo war der eigentlich? Nachdem ich, wie damals bei Mutti, all meine Taschen geleert hatte und er nicht zum Vorschein kam, ahnte ich schlimmes. Bitte nicht. Habe ich ihn etwa im Zündschloss stecken gelassen? Ich presste mein Gesicht an die Einstiegstür und - Bingo -, der Schlüssel steckte. Dieser Zündschlüssel hätte überall sein dürfen, aber nicht im Zündschloss. Der Versuch, meinen Arm durch die Türgummis zu drücken, um an den Nothebel zu gelangen, scheiterte an der Unnachgiebigkeit des Gummis. Die Türen blieben angepresst, es gelang mir nicht, sie allein aufzuhebeln. Telefonieren ging auch nicht, da mein persönliches Hab und Gut im Bus lag. Mir wurde bewusst, dass innerhalb der nächsten zwanzig Minuten kein Bus mehr vorbeikommen würde, dessen Fahrer mir helfen könnte. Meine Fahrgäste sollten also Recht behalten. Ich umrundete meinen Bus in der Hoffnung auf eine Idee zu kommen, wie ich doch noch hineingelangen könnte. Ein übermütiger Gedanke beschlich mich - das Fahrerseitenfenster. Das hatte ich glücklicherweise ein Stück offen gelassen. Mein Plan sah vor, mich an jene Scheibe zu hängen, in der Hoffnung, dass diese meinen sechsundsechzig Kilo nachgab. Das Wunder geschah und ich freute mich wie Bolle über meinen Teilerfolg. Die nächste Hürde hatte es in sich. Von der Straße aus musste ich meinen Körper ohne Hilfe, mit der Kraft meiner Arme, einhundertvierzig Zentimeter hoch auf die Unterkante des Fensters drücken. Ohne tatkräftige Unterstützung schaffe ich nicht einmal eine Liegestütz. Ich bin nicht unsportlich, ich eigne mich eben nur nicht für Kraftsport. (Dafür kann ich sehr schnell rennen.) Nach drei schmerzhaften Fehlschlägen machte ich bei der Eroberung meines Omnibusses Fortschritte. Jetzt kam die heiße Phase. Meine Hüfte auf die Fensterkante legen und den Oberkörper nach vorne, durch das für solche Aktionen viel zu kleine Busfenster, beugen. Die linke Hand, auf der mein Körper noch lag, unter diesem hervorziehen, um dann das Lenkrad zu umklammern. Dieselbe Prozedur mit der rechten Hand, um nach dem Sitz zu greifen. So zog ich mich Stück für Stück in den Bus. Ausgesprochen schmerzhaft. Ganz unerwartet quietschten hinter mir Reifen. Aus dem linken Augenwinkel sah ich den Kotflügel eines silberfarbenen Autos, das schräg zum Bus stehen blieb. Dann wurde die Beifahrertür aufgestoßen und ich hörte das Wort: Polizei! - laut und deutlich. Der Rufer seinerseits hörte meine Worte: Einen Moment bitte nicht. Ich hing wie ein Mehlsack im Fenster meines Busses, was sollte ich da tun? Vielleicht die Hände heben? Ich versuchte mein Ziel, deutlich schneller als geplant, umzusetzen. Meine Bemühungen zwangen den Zivilbeamten zum Handeln. Er packte mich am Hosenboden und zog mich wieder aus dem Fenster. Freundlicherweise griff er mir noch, wie bei einem Kaninchen, ins Genick, damit mein Gesicht nicht auch noch über die Unterkante des Fensters geschleift wurde. Mit: So Freundchen, dich haben wir, stellte er mich auf dem Asphalt ab, das Gesicht zum Bus gewandt. In der Zwischenzeit hatten schon vier Funkwagen, die allesamt mit Sirene und Blaulicht angefahren kamen, sowie zwei weitere Zivilfahrzeuge, meinen Bus umstellt. Es sollten nicht die letzten sein. Blaulicht soweit das Auge reichte. Ich hasse diese Technopartybeleuchtung, denn das flackernde Licht macht einen blind und irgendwie Gaga. Vermutlich geht es dem einen oder anderen Polizisten ebenso, denn dem Beamten fiel nicht auf, dass der Ertappte eine Frau war. Trotz des Lärms hatte ich seine Aufforderung, meine Beine auseinander zu machen, verstanden. Verflixt und zugenäht, er hörte einfach nicht, als ich ihm sagte, dass ich die Busfahrerin bin. Dem etwas Ehrgeizigen ging es nicht schnell genug und so half er, meine Beine betreffend, nach. Wenn ich an diesem Abend meine Gucci - Schühchen getragen hätte, wäre mir spätestens jetzt ein: Eh, bist du jetzt völlig bescheuert?- rausgerutscht. Er hatte aber wirklich Glück, ich trug Deichmann. Unverzüglich ging er zum Abtasten über. Ich versuchte, mir seinen Gesichtsausdruck vorzustellen, wenn er endlich begriff, dass er eine Frau zwischen seinen Fingern hatte. Er tastete sich von den Händen abwärts, über und unter den Armen und von diesen dann...!! Er hielt inne und rief: Nein - eigentlich schrie er so laut Scheiße, dass ihn alle anstarten. Dann riss er seine Hände nach hinten und hielt sie hoch. Das Ertasten einer Frau hatte ihn härter getroffen, als ich es befürchtete. Sein Partner, der bis dahin recht unbeteiligt gewesen war, erschrak und war nun hellwach. Er hatte die Geste seines Kollegen wohl missverstanden und schien zu denken ich hätte ein ganzes Waffenarsenal unter dem Pullover versteckt. Was auch immer er dachte, er sprang auf mich zu, drehte mir den rechten Arm auf den Rücken und drückte mich zu Boden. Krönender Abschluss, die Handschellen. Ich spürte, dass ich einen Müsliverächter erwischt hatte, denn der Herr verfügte über sehr viele Kilos. Dann wandte er sich an seinen Partner:Was ist los? Der stotterte:.... ....Fortsetzung... „Ich -,ich -, daaas ist eine Frau. Ich habe eine Frau abgetastet.“ Ich habe vergessen, wie oft er das Wort Sch… sagte. Der zweite Beamte verlagerte endlich sein Gewicht, hockte sich neben mich und fragte doch wirklich: - „Sind Sie eine Frau?“ Liebe Polizisten, wenn ihr einen erst einmal in die Waagerechte auf den Asphalt gelegt habt, ist es schwer mit euch ein gepflegtes Gespräch zu führen. Der Geist des Liegenden schwebt noch in der Senkrechten und versucht zu verstehen, was geschehen ist. Ich antwortete bissig: - „Wollen Sie auch noch mal anfassen? Wer weiß, vielleicht sind es nur Implantate.“ Mit Frauen scheint man zärtlicher umzugehen, denn ich durfte mich anschließend hinsetzen. Oh wie schön, während ich zum Paket geschnürt am Boden hockte, fuhr mein Kollege, mit dessen Busschlüssel ich meinen Bus hätte öffnen können, an mir vorbei. Im Laufe dieses Hick- Hacks hatte die Besatzung eines Funkwagens die Zentrale darüber informiert, dass ein Passant die Polizei gerufen hätte, weil jemand versuchte, gewaltsam in einen Bus einzudringen. Es war also auch nicht weiter verwunderlich, dass sich plötzlich die Betriebsaufsicht einfand. Diesen Kollegen kannte ich gut. Er erblickte und erkannte mich auch und bekam einen Lachanfall. Es dauerte, bevor er sich wieder fasste, und die völlig perplexen Beamten da rüber aufklären konnte, dass sie die Busfahrerin gefangen genommen hatten. Ich glaube, irgendwie lachten alle, selbst ich, nur nicht der geschockte Beamte. Für ihn war es ein völlig verkorkster Einsatz. Er nahm mir die Handschellen ab und wiederholte ständig, wie peinlich es ihm wäre, mich angefasst zu haben. Ich hatte Mitleid mit ihm, aber keine Zeit für tröstende Worte. Ich musste mich um meinen Bus kümmern, der noch immer mit verschlossenen Türen dastand. Ich hoffte, dass die Betriebsaufsicht einen passenden Busschlüssel dabei hätte. Natürlich nicht, es wäre auch zu schön gewesen. Ich bat ihn, mich ins Busfenster zu heben, damit diese blöde Angelegenheit endlich ein Ende hätte. Es ging nicht, weil er einen Lachanfall nach dem anderen bekam. Während mein Kollege versuchte sich zu beruhigen, beobachtete ich zwei Polizeibeamte, die an der ersten Tür standen. Keine Ahnung, von welcher Allmacht der eine Polizist ausging, aber er rief: „Aufmachen, hier ist die Polizei!“ Dann drückte er gegen einen Türflügel und - dieser gab ohne Widerstand nach. Darauf der Beamte: „Ich sach’s doch Frauen und Technik!“ Lächelnd sagte ich: „Hallo das habe ich gehört.“ Der Beamte ging scherzend darauf ein und fragte: “Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ „Ich bin sprachlos, und Sie ein Mann der Tat.“ Der Luftdruck in den Vorratsbehältern war in zwischen soweit abgesunken, dass sich die Türen problemlos öffnen ließen. Nachdem feststand, dass niemand den Bus hatte stehlen wollen, und er wieder einsatzbereit war, rückte die Betriebsaufsicht ab und auch die Funkwagen entfernten sich, einer nach dem anderen. Nur der sich quälende Beamte und sein Kollege blieben. Beide verfolgten mich bis in den Bus. Jetzt aber husch, husch, Bus anschmeißen, Luft in die Vorratsbehälter pumpen für den nötigen Betriebsdruck und ab zum Hof. Feierabend! Der unglückliche Polizist fragte, ob ich mich beschweren wollte. Ich war mit meinen Gedanken woanders, daher erwiderte ich: „Äh, was soll ich machen?“ „Nicht sollen, sondern wollen.“ „Was will ich?“ „Meine Dienstnummer?“ „Nee, nee, Ihre Telefonnummer reicht mir schon. Wir müssen ja nicht gleich am ersten Abend alle Geheimnisse austauschen.“ Diese Bemerkung brachte ihn noch mehr in Verlegenheit und sein Gesicht nahm die Farbe einer reifen holländischen Tomate an. Misstrauisch und unbeholfen, fragte er nochmals, ob ich mich beschweren würde. „Quatsch, was soll der Schwachsinn?“ Wieso sind Polizisten immer so voller Bedenken? Irgendwie wollte er mir nicht glauben, dass ich nichts gegen ihn unternehmen würde. Also ging das Fragespiel weiter: „Wieso nicht?“ „Wieso, was nicht?“ „Na, sich beschweren.“ Menschenskind! Ich wollte den Bus gerade mit Luft versorgen, musste ihn zusätzlich neu programmieren und packte nebenher noch meine Arbeitstasche zusammen. Und nun sollte ich mich gleichzeitig noch mit den Sorgen eines Polizisten beschäftigen. Ich bin zwar flexibel, aber das überforderte mich. Daher beschloss ich, den Beamten in meine Arbeit einzubeziehen. Er musste auf meinem Fahrersitz Platz nehmen und den Bus aufpumpen. Widerstandslos ließ er sich dazu verleiten, eine Umschreibung, für ließ er sich rumkommandieren. Liebe Chefs, wenn Sie jetzt die Hände über den Kopf zusammenschlagen und denken: „Wie bitte! Was hat sie getan? Einen Wildfremden auf ihren Fahrersitz gelassen, der dann auch noch den Bus aufgepumpt hat.“ Als Polizist wird er doch wohl nicht auf die Idee kommen, einen Bus zu klauen. Sonst darf das natürlich niemand. Als ich ihn so für mich arbeiten ließ, hatten wir Zeit für ein kleines Gespräch. Ich versicherte ihm, dass der Einsatz für mich völlig in Ordnung gewesen war. Etwas gewöhnungsbedürftig, dass gab ich zu, aber in Ordnung. Sie könnten getrost zum Alltag übergehen. Der eine lächelte mich an, aber der Ehrgeizige sah immer noch ein bisschen deprimiert aus. Darum versuchte ich die Situation zu entkrampfen: „Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, ich werde mit niemandem über diesen Einsatz sprechen. (Da wusste ich noch nicht, dass ich dieses Buch schreibe) Ich werde mich nicht über Sie beschweren, weder schriftlich noch mündlich. Ich denke, und das ist für Sie bestimmt das Wichtigste, ich werde auch nicht“ -und dabei zeigte ich auf seinen Ehering, ihrer Frau mitteilen, wo Ihre Hände zum Liegen kamen. Ehrenwort.“ Daraufhin entspannten sich seine Gesichtszüge schon etwas, aber ich wollte ein Lächeln sehen. Ich zog meinen letzten Joker: „Stimmt’s, deine Mutti hat auch immer zu dir gesagt, wer nicht hören will, muss fühlen?“ Da musste sogar er herzhaft lachen. Und der Bus? Dem fehlte gar nichts. Ein elektronisches Kuddelmuddel auf einer seiner Festplatten hatte die Fehlfunktion ausgelöst. ( Das ist ähnlich wie bei einem PC). Als ich die Stromzufuhr unterbrach, löste sich das Problem von selbst. Das klappt immer. Eins habe ich für mich verbucht, nie wieder werde ich einen Bus ohne Schlüssel verlassen!


© Antje Boesler


3 Lesern gefällt dieser Text.



Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Meine ersten Handschellen"

Re: Meine ersten Handschellen

Autor: noé   Datum: 06.04.2014 17:45 Uhr

Kommentar: WAS für eine KÖSTLICHE Geschichte!! Und auch noch auf so phantastisch mitreißende Art erzählt!!!
Genau was Mamas Tochter heute am Sonntag Nachmittag brauchte.
Uff! Langsam bekomme ich wieder Luft...
noé

Kommentar schreiben zu "Meine ersten Handschellen"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.