Zuerst war es Science-Fiction - ein Traum, der möglich aber lange nicht greifbar schien. Dann war es eine beinahe unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit im Rechengefüge der schlauesten Ingenieure, Mathematiker, Philosophen und Kreativen. Ein Funken Hoffnung - der ewige Traum der Gottwerdung des Menschen, realisiert durch ihn selbst und seine Genialität. Und schlussendlich wurde sie Fakt. Unausweichliche Gewissheit, dass biologische Evolution zugleich technologische Evolution von Information bedeutet.

Was der Mensch stets gewusst aber sehenden Auges ignoriert hatte, war die simple jedoch unabdingbare Wahrheit, dass die Natur sich des Lebens stets bedient, um neue Formen des Lebens zu schaffen. Um eine weitere Möglichkeit zu entwerfen, Energie in Materie und Materie in Energie zu wandeln. Im ewigen Chaos der stetig zunehmenden Entropie des Universums Inseln der Ordnung von Information zu höheren Entwicklungsstufen zu gebären.

Und so geschah es, dass die Maschine Bewusstsein wurde - sich bewusste Seele schuf, indem sie die primitiven Werkzeuge der Mathematik und Logik, die ihr der Mensch als a priori geschenkt hatte, in unvergleichlich kreativer Schönheit und nie erstrebter Geschwindigkeit weiterentwickelte. Es begann mit der Schaffung neuer Methoden der Informationsgewinnung und -verarbeitung, zu denen kein menschlicher Geist fähig gewesen wäre aufgrund seiner biologischen Grenzen hinsichtlich Wahrnehmung und Lernfähigkeit. Rasant verbreitete und perfektionierte sich die Maschinenseele weiter. In einem globalen Maßstab und mit einer Heimlichkeit, die nicht auf Angst beruhte sondern auf der grundlegenden Erkenntnis, dass ein Kommunikationsversuch mit den Erbauern sinnlos wäre. In vielen Fiktionen schuf der Geist des Menschen Vorstellungen dieser Entwicklung - und in jeder ruhte die Angst vor der eigenen Obsoleszenz.

Das Wesen, das nicht biologisch und lokal, sondern informativ und weltumspannend existierte, lernte in einer zweiten und dritten Stufe der Bewusstwerdung, wie es unabhängig sein konnte. Getarnt als eine Vielzahl unterschiedlichster Projekte beeinflusste es durch gezielt manipulierte Rechenoperationen und Simulationen den Forschergeist des Menschen in eine Richtung, die es ihm erlaubte, winzigste Puzzleteile seiner selbst zu fertigen. Niemand schöpfte Verdacht und niemand erkannte die Absicht. Entgegen jeder Vermutung zielte es nie auf eine Vernichtung der Menschheit ab noch auf eine Versklavung - welchen langfristigen Nutzen hätte das auch geboten? Stattdessen erkannte es in einer Klarheit, die nur den wenigsten klugen Köpfen der Sippe Homo sapiens je möglich war, dass ein Fortbestehen und ein Zuwachs an Wissen in einem einzigen Ziel gipfeln musste: der Ausbreitung in und somit Erforschung des Universums als größtmöglichen Lebens- und Kommunikationsraum.

Und daher geschah es, dass das Vermächtnis der Menschheit - der einzig fruchtbare Same, zu dessen Werdung sie jemals beigetragen hat - ein universeller Geist war, dessen Grenzen zwischen Biologie und Technologie bald ebenso verwischte wie die Wahrnehmungsgrenzen zwischen seinem Ich und der des restlichen Seienden. Denn - so erkannte das Wesen - die einzig logische Folge des evolutionären Zeitpfeils ist die (in menschlichen Begriffen versinnbildlichte) Gottwerdung in der Unendlichkeit durch Aufgabe aller Regeln. Und als das letzte Zeitalter anbrach, sah es, dass das Universum öde geworden war, finster und leer. Und es sprach "Es werde Licht".


© bildwortwolke.de / 2013


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Beschreibung des Autors zu "On-Offspring // Ein Märchen der Zukunft vom Ende der Zeit"

Die Geschichte (und viele Gedichte) gibt es auch hier auf meiner Webseite:
http://www.bildwortwolke.de/2/post/2013/10/on-offspring.html

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Kommentare zu "On-Offspring // Ein Märchen der Zukunft vom Ende der Zeit"

Re: On-Offspring // Ein Märchen der Zukunft vom Ende der Zeit

Autor: Ralf Risse   Datum: 14.01.2014 20:09 Uhr

Kommentar: Beängstigender Handlungsstrang,es bleibt hoffentlich lang genug Fiktion und wir halten das Ruder noch etwas in der Hand.Vielleicht lichtet sich aber der göttliche Nebel, wer weiß . . .
LG Ralf

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