Ich wurde im Jahr 1869 in der englischen Stadt London liebevoll hergestellt. Die Geschichte, die auf meinen Seiten geschrieben steht, wurde allerdings schon früher geschrieben, von dem britischen Schriftsteller Charles Dickens. Ich kam in eine Londoner Buchhandlung und man stellte mich zwischen meinesgleichen. Ich hatte es sehr bequem. Das dauerte aber nicht lange. Nach zwei Wochen wurde ich aus dem Regal gezogen und von einem älteren Gentleman gekauft.
Ich wusste nicht, was mich nun erwartete. Ich wurde aber sehr gut behandelt und bekam in der Bibliothek des Gentleman einen Ehrenplatz.
Er begann gleich, die Geschichte auf meinen Seiten zu lesen und sie gefiel ihm sehr, das spürte ich. Leider konnte er sie nicht zu Ende lesen. Wenige Wochen nachdem er mich gekauft hatte, starb er ganz plötzlich bei Tee und Kuchen. Kurze Zeit später räumte man seine Bibliothek und ich wurde mit anderen Büchern zusammen in eine Kiste getan. Mein neues Zuhause sah dann etwas weniger Pompös aus. Eine junge Dame stellte mich in ein Regal, was aber in keiner richtigen Bibliothek stand. Jahre vergingen, ohne das man mich berührte. Der Mann, der die Geschichte auf meinen Seiten geschrieben hatte, war mittlerweile auch schon gestorben. Irgendwann wurde ich dann aus dem Regal geholt, samt meinen Nachbarn und an eine Buchladen verkauft.
Hier hatte ich es allerdings nicht so bequem wie in der Buchhandlung, in der ich zuerst war. Man stellte mich nicht einmal in ein Regal, sondern legte mich mit anderen Büchern zusammen unter das unterste Brett eines Bücherregals, auf den kalten Fußboden.
Jahrzehnte vergingen, ohne das mich jemand beachtete.
Erst Anfang des 20.Jahrhunderts kam ein junger Mann in den Buchladen, der sich lange und sorgfältig umsah und schließlich mich unscheinbares Stück mitnahm. Auf einer Zugfahrt zog er mich aus seiner Tasche und schlug mich auf. Er las und las und konnte mich nicht mehr aus der Hand legen. Selbst als er die Geschichte zu Ende gelesen hatte, zog er mich immer wieder aus dem Bücherregal, das in einem bescheidenden Lesezimmer stand, nur um mich in den Händen zu halten und zu betrachten. Er ging auch sehr behutsam mit mir um, da ich allmählich gebrechlich wurde. Fast 50 Jahre lang blieb ich im Besitz dieses Mannes, bis er im Jahr 1950 starb und ich seiner Tochter hinterlassen wurde. Sie hatte aber leider nicht viel für Bücher übrig und ich wurde wieder mal mit anderen Büchern zusammen in eine Kiste gesteckt. Nur diesmal verließ ich England, denn die Kiste wurde nach Deutschland verschickt. Es war sehr unbequem und alles schaukelte hin und her.
Das war nicht besonders gut für mich, da ich nicht mehr das jüngste Buch war. Ich kam in Besitz einer älteren Frau, die sich anscheinend sehr über Bücher freute. Auch wenn sie mich nur als Sammlerstück ins Regal stellte und nicht aufschlug um zu lesen, hatte ich es bei ihr sehr gut. Nach vielen Jahren musste sie in ein Pflegeheim umziehen und ich durfte nicht mit ihr kommen. Ihre Nachkommen machten sich nichts aus Büchern und warfen mich und den restlichen Bestand einfach ins Altpapier. Ein Mann mittleren Alters kam an die Altpapiertonne, um Papier zu entsorgen und sah uns dort unten liegen. Er schüttelte den Kopf und holte uns alle nacheinander aus der Papiertonne. Er konnte zwar auch nichts mit Büchern anfangen, brachte uns aber in ein Bücherantiquariat, wo wir freundlich aufgenommen wurden. Über 30 Jahre vergingen und alle anderen Bücher, mit denen ich zusammen herkam, waren im laufe der Zeit gekauft worden. Ich als englischsprachiges Buch wurde nicht beachtet. Nun war ich schon 144 Jahre alt, als mich am 10.Oktober 2013 ein junger Mann im Antiquariat in Frankfurt am Main kaufte.


© Cedric McShane


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Beschreibung des Autors zu "Ein Buch erzählt"

Wie wäre es, wenn ein Buch von sich erzählen könnte?

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Kommentare zu "Ein Buch erzählt"

Re: Ein Buch erzählt

Autor: [email protected]   Datum: 29.11.2013 7:13 Uhr

Kommentar: Ich freue mich sehr,dass das Buch "noch lebt". Bin auch ein "Bücherretter" und habe einige Schätzchen vor dem Schredder gerettet.Liebe Grüße,Nabatea

Re: Ein Buch erzählt

Autor: Olivia   Datum: 14.02.2014 21:02 Uhr

Kommentar: coole Idee

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