Das Haus der 7. Straße
Sie saß alleine. Wie immer. Das ging jetzt schon seit einem Jahr so.
Es ging los in der 8. Klasse. Es klingelte und wir gingen wieder in unsere Klassen. Dort saß sie ganz hinten. Alleine. Sie trug coole Klamotten. Sie wusste was zurzeit „In“ war. Ihre Haare glänzten jeden Tag. Nach dem es zum Schulschluss klingelte, rannte sie raus und versteckte sich hinter den Containern. Nur ich konnte das wissen, sie war doch schließlich meine Freundin. Ich überlegte zu ihr zu gehen, doch ich konnte nicht. Also verschwand ich wieder in der Schule und ging in ihren Klassenraum. Als ich die Tür öffnete, stand eine kleine Gruppe an ihrem Tisch. Sie hatten Stifte in der Hand. Sie malten auf ihrem Tisch herum. Ich lief hin und was ich dort sah, war alles andere als erfreulich. Dort stand geschrieben, „Schlampe“, „Bitch“ oder „verpiss dich von unserer Schule, er verabscheut dich eh“. Sie gaben mir auch einen Stift, aber ich schrieb nichts. Der nächste Morgen sollte schwer für sie werden.
Sie kam alleine zur Schule. Ihre Sporttasche hielt sie fest in der Hand. Die Schultasche ließ sie locker über eine Schulter hängen. Es wartete wie immer eine kleine Gruppe am Tor der Schule auf sie. Doch diesen Morgen schmissen sie ihr nicht nur Wörter an den Kopf, sondern schubsten sie auch hin und her. Sie rannte los. Richtung Eingangstür und verschwand auf dem Klo. Unauffällig lief ich ihr hinterher. Ich hoffte, dass keiner mich sah. Auch ich verschwand auf der Toilette. Ich hörte sie weinen. Mir lief es kalt den Rücken runter. Irgendwie war ich auch an ihrem Schicksal mit Schuld. Ich klopfte an ihre Tür. Sie unterdrückte ihr schluchzten, also klopfte ich noch mal und sagte ihr, dass ich es bin. Sie schickte mich weg, doch ich blieb vor ihrer Tür stehen. Sie sagte es noch einmal, aber diesmal bestimmter. Also drehte ich mich um und beschloss wieder nach draußen zu gehen.
Einige Minuten später klingelte es und ich ging in meinem Klassenraum. Durch das Fenster, konnte ich die Tür ihres Klassenraumes beobachten. Dort wurde die Tür aufgerissen und sie kam weinend raus gerannt. Sie hatte sicherlich noch die Worte ihres Tisches im Kopf. Doch diesmal rannte sie nicht aufs Klo, sondern lief an einen Ort, wo sie sich sicher glaubte.

Ist das Fair? Ich meine was hat sie ihnen getan? Ich setze mich auf meinen Platz, doch auf den Unterricht konnte ich mich nicht konzentrieren. Als ich dann endlich die Pausenglocke hörte, sprang ich auf und rannte auf den Schulhof, doch bis jetzt war er leer. Ich fing an, sie zu suchen, doch ich fand sie nicht. Ich lief wieder zurück, Richtung Eingangstür und da standen sie schon alle und riefen ihren Namen. Sie kam aus den Büschen, des hinteren Teil des Schulhof heraus und ging mit gesenktem Kopf auf sie zu. Dort angekommen wurde sie wieder hin und her geschubst, bis plötzlich einer zum Schlag ausholte. Sie wehrte ihn zwar ab, aber das war ein Fehler. Denn von hinten wurde daraufhin auch auf sie eingeschlagen. Sie hielt sich gut, doch dann kam der Schlag, der sie zu Boden gehen ließ. Sie lachten und traten nach ihr. Es waren zu viele. Eine Taube flog vorbei. Ich dachte, sie würden jetzt von ihr ablassen, aber sie schlugen und traten weiter nach ihr. Ein See aus Blut breitete sich unter ihrem Kopf aus. Sie schrie. Ihre Stimme war schrill. Sie schrie nach Hilfe, doch keiner kam ihr zu Hilfe. Auf einmal schrie sie meinen Namen. Mein Herz blieb stehen. Warum tat sie so was? Alle die, die um sie herum standen, drehten sich zu mir um. Ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter mir tanzen wollte, als sie auf mich zukamen. Sie nahmen mich in ihre Mitte und stellten mich vor eine Entscheidung. Entweder ich würde genau so enden wie sie, oder ich sollte zu schlagen. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich wollte das nicht. Sie schaute mich flehend an. Ich konnte nicht mehr klar denken, also flüsterte ich: „Bitte Verzeih mir, ich habe keine andere Wahl“, und schlug zu. Nachdem ich das tat, drehte ich mich um und rannte so wie sie es immer tat, auf die Toilette. Meine Hand schmerzte vom Schlag. Ich wischte die Tränen weg und öffnete die Tür. Ich ging wieder auf den Schulhof, obwohl alle wieder in die Klassen gingen. Die Gruppe um sie, löste sich auf. Ich sah sie dort liegen, aus dem See ist ein Ozean geworden. Ich wollte zu ihr rennen, doch meine Füße konnten sich nicht bewegen. Sie bewegte sich und schaffte es gerade mal auf ihre verletzten Knie. Sie krabbelte los und verschwand vom Schulhof. Jegliche Lehrer waren verschwunden, aber die unternahmen ja eh nichts, sondern schauten nur zu, weil sie Angst hatten dazwischen zu gehen. Sie hinterließ eine Blutspur, doch der Hausmeister kam sofort und fing an sie weg zu wischen. Er schaute ihr trauernd hinterher. Ich hörte meinen Namen und drehte mich um. Die Lehrerin für diese Stunde stand hinter mir und sagte, ich solle mir keine Gedanken um sie machen. Wieso handelte sie so? Sie war sich zu gut, ihre Hände schmutzig zu machen! Danach gingen wir zusammen in den Klassenraum. Meine Hand tat mir noch von dem Schlag weh. Und wieder schossen mir die Tränen in die Augen.
Die Nacht war ein Alptraum. Mir erschienen immer wieder die grausamen Vorgänge des Tages. Ich sah sie immer wieder am Boden liegen. Ich konnte nicht mehr. Es war Samstagnacht 3 Uhr, als ich plötzlich an meiner schmerzenden Hand, Blut von ihr sah. Ich hätte sie niemals schlagen dürfen, doch ich hatte es getan. Ich wollte doch nicht auf dem Boden enden, so wie sie.
Der Junge, der ihr das angetan hatte, lachte nur über sie. Sie hatte ihn gemocht, doch er hatte sie eiskalt abserviert. Er hatte Geschichten über sie erzählt. Ich hätte alles richtig stellen können, doch ich hielt meinen Mund. Wieso? Wieso habe ich es getan? Ich hätte ihr dieses Leid ersparen können.
Am nächsten Tag stand ich früh auf und ging zu ihr nach Hause. Als ich anklingelte war ihre Mutter vor mir. Ich fragte, wo sie ist. Sie sagte, sie ist im Krankenhaus und ihr Vater wäre bei ihr. Also ging ich zum Krankenhaus und stürmte in ihr Zimmer. Ich ahnte was sie vor hatte und das bestätigte sich, als ich nur ihren Vater schlafend auf dem Stuhl neben ihrem Bett vorfand.
Und dann stand ich vor dem Haus der 7. Straße. 7 Stockwerke. Und ganz oben am Rand, des Daches, sah ich sie. Ich rannte in das Haus rein, in der Hoffnung es noch rechtzeitig zu schaffen. Auf den Stufen fand ich ihre Jacke und Schuhe. Ein Stock höher lag ihre Handtasche mit Bildern von ihm. Oben angekommen, stürzte ich nach draußen. Sie erschrak nicht, sondern schaute weiter in die Ferne.
„Warum war ich überhaupt hier?“, sagt sie.
Ich schließe die Augen. Sie füllen sich mit Tränen. Die schrecklichen Bilder in meinem Kopf, lassen mich aus meiner Starre, erwachen. Den Aufprall höre ich nicht. Aus meinen Augen laufen Bäche von Tränen an meinen Wangen herunter. Ich laufe nach unten. Ich hebe ihre Tasche auf und halte die Bilder in meiner Hand. Tat sie das Richtige? Sollte es diese Lösung sein? Ich hebe ihre Schuhe und Jacke auf und gehe zu ihr nach draußen. Ihre Haare glänzen so wie immer. Ihre Augen sind geschlossen. Mein erster Gedanke, sie schläft. Ich lege ihr die Bilder in die Hand und küsse sie auf die Wange. Ihre Augen öffnen sich, aus ihrem Mund läuft Blut. Ihr Blick ist starr.
„ Tat ich das Richtige?“ flüstert sie. Sie schließt die Augen und eine letzte Träne läuft ihre Wange herunter und fällt in das Gras. Sie wird jetzt für immer in der Erde am Fuße des Hauses der 7. Straße bleiben.

Ein Jahr verging.(Die Gewissensbisse und die Frage nach Verantwortung nicht.) Ihr Todestag.
Ich kann mich nicht mehr im Spiegel anschauen. Ich verabscheue mich. Meine Taten damals lassen zu neuem Hass gegen mich anregen. Ein berühmter Philosoph sagt: „Selbstmord ist ein falsch gebildetes Wort, das was tötet ist nicht identisch mit dem was getötet wird.“
Hatte Gott dieses Schicksal führ sie vorgesehen? Ist Selbstmord wirklich die Beste Idee? Darüber denke ich schon ein ganzes Jahr nach. Nein, das kann nicht die Lösung sein. Sie dreht sich um. In ihren Augen waren Tränen. Dann stand sie auf dem Dach des Hauses der 7. Straße…


© BellaLuna


2 Lesern gefällt dieser Text.




Beschreibung des Autors zu "Das Haus der 7. Straße"

Diese Geschichte hatte ich geschrieben für meine Freundin, die vor hatte sich das Leben zu nehmen.
Nein, in der Geschichte ist sie das nicht. Sie lebt! Ich weiß nicht, ob es durch diese Geschichte kam oder durch etwas anderes, dass sie dazu bewegte sich nicht umzubringen.
Aber das ist alle egal! Sie lebt und ist wieder glücklich.

Ich hoffe es gefällt euch...




Kommentare zu "Das Haus der 7. Straße"

Re: Das Haus der 7. Straße

Autor: RACH3ENG3L   Datum: 04.08.2013 3:58 Uhr

Kommentar: Ich habe nie, eine solch wunderbare Geschichte gelesen, wie diese

Re: Das Haus der 7. Straße

Autor: Ryvais   Datum: 17.06.2015 21:46 Uhr

Kommentar: Wirklich gut geschrieben, obwohl es auch sehr bedrückend ist. Ich fand es krass, dass von den Lehrern keiner dazwischengegangen ist - DIE sind ja schließlich die Autoritätspersonen ...

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