Wie so oft: es ist dunkel und ich bin auf der Autobahn. Das Radio läuft und versorgt mich mit Informationen aus der ganzen Welt. 20:10 Uhr Lesezeit. Ich höre eine Stimme mit russischem Akzent. Komisch wie mich die etwas abgehackte Intonation in den Bann der Geschichten zieht. Ich habe einen neuen Freund! Wladimir. Doch beruhte diese Freundschaft bis zu diesem Tag nur auf meinseitigen Gefühlen füreinander. Wladimir erzählte gerade eine Geschichte über einen Braunbären, welcher mit einem Fahrrad durch den, ich glaube lettischen, Wald fährt um irgendwelche Touristen zu beglücken.
Diese Fahrt ist jetzt über 10 Jahre her, aber ich erinnere mich noch ganz genau an meinen Freund Wladimir. Der Braunbär war auch noch 100prozentig da, nur die Geschichte rundherum wurde immer undeutlicher und drohte vom Frühnebel der lettischen Sumpfgebiete aufgefressen zu werden. Mein Freund Wladimir erzählte mir damals auch, dass bald ein neues Buch die deutsche Konsumlandschaft bereichert, welches die reichhaltigen Reisegeschichten meines Freundes für seine Freunde nachvollziehbar machen würde. Und die Reise begann.
Mein Problem ist, dass ich mir viel merken kann. Mein zweites Problem ist, dass ich dadurch aber auch sehr viel vergessen kann. Nicht ganz so viel, wie ich mir merke, sonst würde ich ja immer dümmer werden. Nein mein Gehirn speichert sich die Essenz des aufgenommenen und entscheidet welche Informationen für mein Leben wichtig sind. So hat sich in mein Gehirn eingebrannt, dass die Pariser U-Bahn auf Gummireifen fährt. Leider stehe ich immer im Klintsch mit meiner Denkfabrik, denn den Geburtstag meiner Freundin  kann ich mir nicht merken. So war es auch in dieser Nacht. Die gespeicherten Informationen an meinen Freund Wladimir beschränkten sich auf seinen Vornamen, eine osteuropäische Tanzveranstaltung in Deutschland und einen Braunbären, welcher mich kräftigst amüsiert hat.
Als ich dann einige Tage später wieder meine heimatlichen Gefilde befuhr und die Woche noch einmal an meinem geistigen Auge vorbei fuhr, hatte ich das Bedürfnis die lettischen Frühnebel aus der Braunbärengeschichte zu verbannen. Wladimir war meiner Freundin kein unbekannter und ich konnte meinen Wissenspool über meinen Freund ein wenig auffüllen. Also ab zum Bücherparadies und ein Buch  von Wladimir über Russischen Jugendtanz gekauft, da die Reisegeschichten offenbar noch auf sich warten ließen.
Wladimir unterhielt mich die nächsten Tage vorzüglich und ich konnte mich von den Nebelfeldern ablenken. Glücklicherweise hält die Arbeit der Woche und die übermächtige Müdigkeit am Wochenende einen davon ab Bücher wie früher während unbeschwerter Studienzeiten innerhalb von einer Nacht bis auf die letzte zu verschlingen. Damit war ich mit Lektüre von Buch1 einige Tage beschäftigt. Als der Nebel sich wieder in mein Gedächtnis schob kaufte ich mir ein wladimirsches Meisterwerk über eine Berliner Straße. Der Titel hat zwar durchaus was mit Reisen zu tun, da Straßen mit Namen zum Reisen benutzt werden können, aber es reichte noch nicht für ganze Reisegeschichten welche mir mein Freund Wladimir damals des Nachts auf der Autobahn versprochen hat.
Auch diese Lektüre beschäftigte mich einige Zeit und lenkte mich von meinem Problem würdevoll ab. Als wir dann einjähriges Jubiläum in unsrer noch immer einseitig zu scheinenden Beziehung hatten, schenkte mir mein Freund Wladimir endlich das Erscheinen der Reiseimpressionen und meine Hoffnung auf ungetrübten Sonnenschein ließ mich wie ein hungriger Bär den Buchladen meines Vertrauens stürmen. Keine Stunde und ein Parkticket später hielt ich mein Geschenk von Wladimir in den Händen.
Zu Hause fing ich an auf die Suche nach meinem Bären zu gehen. Geschichte für Geschichte verschlang ich Tag für Tag und meine Hoffnung quälte meinen unerschütterlichen Optimismus bis auf die Haut. Aber die Enttäuschung als ich die Literaturhinweise des Verlages erreichte ohne einem Braunbären zu begegnen oder auch nur in die Nähe des lettischen Waldes zu kommen war so groß, dass ich kurzzeitig fest entschlossen war meine Freundschaft zu Wladimir zu beenden.
6 Jahre später kam ein Anruf im Büro meines kleinen Leipziger Kulturhauses an. Das ganze Leid der letzten Jahre entlud sich mit einem Knall und ich stellte fest, dass ich meinem Freund Wladimir gar nicht mehr böse war. Und jetzt sagte mir mein Gegenüber, dass er mich endlich neben 500 Anderen besuchen kommen würde. Aber egal! Mein Freund kommt endlich zu mir nach Hause. Jeden Tag sah ich Plakate von Wladimir in meinem Treppenhaus die mir sagten, dass nur noch 4 Wochen zwischen mir und dem Bären stehen.
Der große Tag ist da. Ich stelle 500 Stühle in den Saal, räume die Künstlergarderobe auf und bereite die Bar vor. 19:00 Uhr Lesezeit. Mein Freund Wladimir sitzt auf der Bühne. Eine gemütliche Couch, ein kleiner Tisch mit einem Glas stillem Wasser und in der Hand hat er ein kleines Buch. Ich sitze auf der Empore und lausche den Worten mit dem unverkennbaren russischen Akzent und der etwas abgehackten Aussprache. Ich komme meinem Ziel Sekunde für Sekunde näher und glaube fest an nebelfreien lettischen Wald mit seinem fahrradfahrenden Braunbären. Pause! Kein Bär. Wir verkaufen Bier, Wein, Wasser und Wodka. Die Show geht weiter. Ich lausche und vermisse weiterhin auch nur ein Wort über meinen brummenden Star einer Geschichte, welche es schaffte mich über Jahre zu beschäftigen.
Das Publikum applaudiert und bejubelt meinen Freund Wladimir und ich weiß, dass ich ihn ab diesem Tag wieder mit mehr Freunden teilen muss als mir lieb ist. Hallo! Er ist mein Freund schreit es in mir. Aber jetzt kommt meine Zeit. Wenn die Künstler die Bühne verlassen haben gehen auch die Gäste des Abends nach Hause oder auf ein Bier in die kleine Bar um die Ecke. Ruhe kehrt ein in den durch die Kronleuchter erhellten Saal. Nur an der Bar herrscht noch reges Treiben. Die Gläser werden gespült, Flaschen verschraubt und in die Kühlschränke geräumt und zu guter Letzt die Belohnungsflasche Sekt geköpft um den Abend erfolgreich zu beenden. Die Künstler verlassen ihre Garderobe und wollen meistens auch etwas von unserer leckeren Belohnung abhaben. Meisten teilten wir auch freiwillig. So auch mein Freund Wladimir. Er kam aus seinem Kabuff und kaute an einem Rest einer Brötchenhälfte vom immer überdimensionierten Künstlercatering, welches unser Koch mit rasender Geschwindigkeit gezaubert hatte. Meist ernährte ich mich noch zwei Tage von den Resten, um dann den letzten Rest an die Biotonne zu verfüttern.
„Hallo“ verkündete mein Freund in die allgemeine Runde und er wurde gnadenlos integriert. 2. Flasche Sekt, ein Bier, eine Runde eiskalten Wodka. Und aus der bis dahin einseitigen Freundschaft wurde zumindest temporär eine richtig gute Männerfreundschaft. Ein zweiter Wodka.
„Du Wladimir? Wo finde ich den Bären?“
„Welchen Bären?“
„Den lettischen Bären!“
„Welchen lettischen Bären?“
„Den lettischen Bären auf dem Fahrrad!“
„Ah“
„Was Ah?“
„Wurde noch nicht gedruckt! Ich fand sie passte nicht in mein Buch mit den Reiseerzählungen.“
„Kannst du sie mir noch mal erzählen?“
„Nein! Habe sie nicht vollständig im Kopf.“
„Schade!“
„Ja Schade!“


© Axel Pätzold


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