DIE LETTERWIESE - des Märchens erster Teil

© Für das Foto bedanke ich mich bei Yoksel Zok (von Unsplash).

Die Letterwiese

Es war einmal …

zu einer Zeit, als Ideen auf einer bunten Blumenwiese auf dem Boden einer verborgenen Waldlichtung zum Blühen kamen.
Nur dem Bedürfnis nach Licht verdankte diese Wiese ihre Existenz und ihre prächtige Farbigkeit.

Rund um die Wiese lebten in den dunklen Waldreichen der vier Himmelsrichtungen zwischen den schattigen Bäumen unzählige Lebewesen, die dort geboren wurden, die sich von den Früchten des Waldes ernährten und dabei alt und müde wurden, bis sie eines Tages ein letztes Mal ausatmeten, liegen blieben und anderen Lebewesen als Nahrung dienten. Was für ein tristes Dasein!

Von Zeit zu Zeit aber kam immer wieder mal eines dieser in der Dunkelheit lebenden Wesen zufällig in die Nähe der Lichtung. Die magischen Strahlen der Sonne übten in solchen Momenten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das vorbeikommende Wesen aus, sodass es dieser Kraft folgte.

Sobald es den Waldrand hinter sich gelassen hatte, spürte es die heilende Wärme des Lichts, wandte sich ihm zu und ließ alles Schwere von sich fallen. Alle Mühsal, alles Kämpfen, aller Hass, alle Verzweiflung lösten sich aus seinen Poren und fielen auf den fruchtbaren Boden der LETTERwiese.

LETTER
LETT
LeICHT
LICHT

In der Sprache der Waldwesen gab es dieses Wort.

LETT
LeICHT
LICHT
LETTER
LeICHTER
LICHTER

Doch der Klang dieses Wortes verhüllte nur eine Ahnung, die in allen Zellen der Waldwesen tief verankert war und von Ewigkeit zu Ewigkeit darauf wartete, er-INNER-t zu werden. Die Waldwesen erkannten nicht, dass sie alle – ohne Ausnahme – diesen Wortsamen in sich trugen. Sie kannten ihn zwar, wussten aber nichts von ihrem Potenzial, denn im Dunkeln ist gut Munkeln. Mehr aber nicht.

Alle Wesen benutzten LETTER, die sich in vielfältigen Formen darstellten. Sie spielten damit. Aber vor allem übten sie Macht damit aus. Vor allem DAS! In ihrem Kopf bildeten sie damit Schimären der Dunkelheit. Sie verknüpften sie zu monströsen Gebilden. Vor allem DAS!

Die LETTER waren in einer bestimmten Reihenfolge geordnet, die von den höchsten Waldwesen festgelegt worden war. Niemand störte sich daran, denn an dieses uralte Diktat konnte sich auch niemand mehr erinnern. Die Reihenfolge war wichtig, damit sich alle der LETTER bedienen konnten und jeder neue Strukturen der Macht entwickeln konnte. Ein Wesen war darin raffinierter als das andere. Die LETTER waren überall bekannt. Im ganzen Dunkelwald. Ich will verraten, wie sie aussehen:

A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

Parallel dazu gab es noch andere, die nur in bestimmten Gegenden des Waldes gebräuchlich waren, die aber keinem anderen Zweck dienten – der Mehrung von Macht.

So fügten die Wesen pausenlos ihre LETTER zu immer raffinierteren Gebilden zusammen und konnten anschließend beobachten, mit welcher Gier diese Gebilde von anderen Wesen gefressen wurden.

So entstanden BRIEF und SIEGEL.

Wer das SIEGEL brach und den BRIEF öffnete, fand darin verführerische Schatten, deren Reiz darin bestand, dass sie jedem Wesen sein dunkles Leben widerspiegelten und ihm das Gefühl von Geborgenheit vermittelten.

Es gab BRIEFE, die das Gebilde ALKOHOL enthielten, andere boten GELD und GEWINN an, wieder andere versprachen Liebe, die aber mit dem Gebilde SEX verwechselt wurde. Die schlimmsten BRIEFE aber waren die, die MACHT versprachen, denn diese führte zu Neid, zu Kampf und zu Krieg. Was aber niemand erkennen konnte, denn das Licht der Erkenntnis drang niemals an den Boden des Dunkelwaldes.

Das Spiel von Macht, Gewinn und Niederlage spielten alle Wesen des Dunkelwaldes mit. Jedes Wesen verBRIEFte sich für seine eigene Wahrheit, verSIEGelte sie und schickte sie im ganzen Wald herum. Dazu nutzten sie immer verführerischere Wege. Sie entwickelten speziell zu diesem Zweck sogar komplizierte Einrichtungen, die jedem Wesen zur Verfügung standen. Und alle, ja ausnahmslos alle wurden süchtig. Sie kannten nichts anderes und sie brauchten immer mehr davon.

Aber im Zentrum des Waldes gab es ja diese Lichtung. Diese Oase des Lichts, an der immer wieder ein Wesen zufällig vorbeikam. Die Oase, die Wärme ausstrahlte, deren Licht aber niemals in die Tiefen der Waldreiche der vier Himmelsrichtungen gelangte.

Eines Tages nun kamen vier Wesen gleichzeitig an den Rand des Waldes der vier Himmelsrichtungen. Neugierig waren sie dem Licht gefolgt, das sie so magisch anzog. Beim Betreten der Lichtung öffneten sich ihre Poren. Sie brauchten nichts, nein gar nichts zu tun, sich nur der Wärme hinzugeben. Ah, wie gut das tat! Alle vier wurden beweglicher, lockerer und fröhlicher. Ja, sie spürten sogar zum ersten Mal in ihrem Leben, was LEICHTIGKEIT war.

Den LETTER E ließen sie zuerst fallen. Jedes den seinen. Erstaunlich, was dann passierte! Gemeinsam konnten sie beobachten, was auf der Wiese geschah, die sie gerade erst betreten hatten. Das Wunder der Keimung ereignete sich an jedem Waldrand. Denn aus jedem E, das die vier hatten fallen lassen, keimte die BLUME EWIGKEIT, vor jedem Waldrand eine.

Die vier Wesen, die nun am Rande der Lichtung standen, waren ein tanzendes Einhorn, eine wunderschön gemusterte Schildkröte, ein kräftiges Pferd und – ja, man mag es kaum glauben – ein Regenbogenfisch. Wie hatte er es nur hierher geschafft?

Auch er war ganz zufällig hier gelandet, denn als neugieriges Wesen war er im Waldreich immer gegen den Strom des Fließgewässers geschwommen, das dem Boden des Waldes als riesiges Netz eingeprägt war. So zappelte er jetzt an der gerade entdeckten Quelle des labyrinthartigen Wassernetzes herum, glücklich darüber, dass er sie endlich gefunden hatte. Während er sich an der Frische des Ursprungswassers nährte, entdeckte er die anderen im Licht erschienenen Wesen.

Wie verabredet waren sie hier nun alle zusammengekommen und sahen erst einmal ihrer eigenen BLUME DES LEBENS beim Wachsen zu.

Sie sollte die schönste unter all den Wiesenblumen werden. Bald hatte sie sich zur Sonne emporgehoben und streckte ihre zauberhaften Blüten zum Licht hin. So entstand an jedem Waldrand ein Portal, das weitere Wesen des Dunkelwaldes anziehen würde. Ihr LETTER E hatte sich in den Gestalten des Waldes als Bauplan verewigt, der aber in der Dunkelheit nicht gesehen werden kann.

Die BLUME EWIGKEIT, die in den Träumen der Waldwesen verborgen bleibt und die nur von einigen erwähnt wird, die aus der Lichtung wissend in den Wald zurückgekehrt waren, um von der Lichtoase zu künden, wird auch BLUME DES LEBENS genannt. In ihr ist die Matrix der Schöpfung codiert, die allen Lebewesen zugrunde liegt.

Nachdem sie sich tüchtig aufgewärmt hatten, befiel das fröhliche Einhorn die Langeweile. Es brauchte etwas zu tun, es wollte kreativ sein. So animierte es die anderen Wesen zum Mitmachen.

„Ich habe eine Idee!“, rief es heiter in die anderen Himmelsrichtungen.

„Erzähl!“ „Was denn?“ „Na komm schon!“, riefen die anderen Wesen zurück.

„Wir bringen die Wiese frisch zum Erblühen. Es ist Sommer. Und es ist bestimmt toll, wenn wir unsere anderen LETTER nach und nach fallen lassen und dann sehen, wie die LETTERsamen aufgehen und bunte Blumen daraus werden. Macht ihr mit?“

Das ließen sich die anderen Wesen nicht zweimal sagen. Sie rüttelten und schüttelten sich jedes auf seine Weise.

Das Pferd wieherte und warf dabei freudig seinen Kopf hin und her, sodass seine Mähne leicht den Oasenwind durchpflügte. Dabei wedelte es mit seinem glänzenden Schweif, der das Sonnenlicht reflektierte. Als das Licht auf diese Weise in Bewegung kam, brachte es die Wasserquelle zum Schimmern und der bunte Fisch, der mit seinem Schwanz das Wasser zum Spritzen brachte, erzeugte damit an allen Waldrändern auf den Blättern der Bäume glitzernde Lichtreflexe. Die wiederum brachten die Schildkröte mit ihren faszinierenden Panzermustern in Bewegung. Sie drehte sich auf ihren kurzen Beinen von rechts nach links, von links nach rechts und folgte mit ihrem Blick den lustig flatternden Blättern. Dabei wurden ihre einzigartigen Strukturen ins beste Licht gerückt.

Strukturen, die ihren Panzer nicht nur schmückten, sondern auch fest und sicher machten und die sich im klaren Denken des klugen Tieres widerspiegelten. Das wiederum versetzte das Einhorn in Staunen, denn welche Urkraft musste sich hinter einer solch heiligen Zeichnung verbergen!

Was nun allen Wesen gemeinsam war, das war die berauschende Erleichterung, die sie empfanden, als ein LETTER nach dem anderen aus ihren Poren fiel und auf der LETTERwiese zu keimen begann.

Das Pferd verlor ein D. Aus diesem LETTER wuchs die BLUME DANKBARKEIT. Die Schildkröte verlor ein L, aus dem die BLUME LIEBE wuchs. Der Regenbogenfisch wurde um den Samen G leichter, der zur BLUME GLÜCK emporwuchs. Das Einhorn verlor das R. So kam bald die BLUME RUHE zum Erblühen. Das Pferd war wieder dran. Aus seinem LETTER F wuchs die BLUME FRIEDEN. Die Schildkröte verlor das T und staunte, dass die BLUME TALENT daraus entstand. Sie hatte ganz vergessen, dass es zu ihr gehörte. Hier hatte sie endlich die Möglichkeit, diese einzubringen.

So ging es immer weiter und weiter. Immer in der Runde. Alle vier genossen ihre Fröhlichkeit und labten sich an der Farbigkeit der immer bunter werdenden Wiese.

Und so hätte es immer weiter gehen können.

Hätte es?

Nein.

Alle vier hatten am Anfang geglaubt, mit den BLUMEN DES LEBENS, die aus ihren vier E gewachsen waren, hätten sie an allen vier Waldrändern die EWIGKEIT installiert.

Oh ja! Das hatten sie!

Nur etwas ganz Entscheidendes hatten sie dabei vergessen:
Ewigkeit umfasst den Wandel. ∞ Ewigkeit ist Werden und Vergehen. ∞ Ewigkeit garantiert die Zeit und alles, was in ihr west. ∞ Ewigkeit ist Licht, das der Dunkelheit Raum gewährt. ∞ Ewigkeit ist Wachheit, die dem Schlaf Zeit schenkt.

Zeit zum Rückzug in das Reich der Träume, in dem Höllenhunde, die Zerberusse des Unterwaldes, die Blumenoase betreten und sich den frischen und zartesten Blumen nähern, um ihnen ihre junge Energie zu rauben. Manchmal gelingt es in so einem Traum, dass sich die reiferen Blumen um ihre ganz zarten Kinder stellen, wobei sie aber ihr eigenes Leben lassen müssen. Das ist ein dramatisches Geschehen, es kommt aber immer wieder mal vor, doch nur in den Träumen der Dunkelwäldler, die nicht wissen, dass die bissigen Gesellen sicher am Tor zum Unterwald festgekettet sind.

Was aber geschah nun in der Oase, als alle vier Wesen ihre LETTER ausgesät hatten?

Die Schildkröte wurde zuerst von einer bleiernen Müdigkeit befallen. Sie beobachtete auf der Wiese die immer ähnlichen Vorgänge. Keimen, Aufgehen, Wachsen, Blühen. Träge zog sie ihren Kopf ein und kehrte zurück in des Waldes Dunkelheit, um sich dort neuen Aufgaben zu stellen. Sie würde vielleicht eines Tages wiederkehren oder eine neue Waldlichtung entdecken. Wer wusste das schon?

Das Pferd ließ noch immer LETTER fallen, obwohl es scheinbar die wenigsten hatte. Scheinbar! Denn in Schweif und Mähne harrte noch mancher LETTERsame seiner Loslösung. Zu fest hatten sie sich im drahtigen Haar verhakt. Die BLUME CHRISTOSGEIST wollte noch aufgehen, die BLUME HERZLICHKEIT, die BLUME SELIGKEIT und noch einige mehr. Die beachtlichste unter ihnen war jedoch die BLUME MIT-EIN-ANDER. Das Einhorn mit seiner farbigen Mähne lieferte noch Farbwundersamen, die auf der Lichtoase wie bunte Tupfer auf einem Gemälde erschienen. Dazu ergänzte es noch die kraftvolle BLUME INSPIRATION, die Weisheit ausstrahlte und zu allen Portalen hin leuchtete, um die neu an die Lichtung herantretenden Wesen zu begrüßen.

Und der Regenbogenfisch?

Er pflückte von jeder Wiesenblume ein Blütenblatt, bat das Einhorn und das Pferd, einen unsichtbaren Schutzwall um die Wiese zu bilden, der auch den Traumhunden ihren Eintritt verwehren würde, und schwamm davon. In wendigen flinken Bewegungen glitt er an den Zerberussen vorbei, die vergeblich nach ihm schnappten. In seinem Mäulchen trug er die sorgsam verwahrten Blütenblätter, mit denen er in das weitverzweigte Netz des Dunkelwaldes zurückkehrte, wo er in leuchtenden Farben von seinem Erlebnis auf der Lichtoase erzählen wollte. Die Blütenblätter sollten davon Zeugnis geben. Ob man ihm glauben würde?

An meinem Lieblingsschreibtisch sitze ich. Mein Stift ist leer. Mein Märchen ist aus. Doch Einhorn und Pferd stehen noch immer am Rande der Oase und lassen weitere Blumen wachsen … die BLUME HEILUNG … die BLUME WAHRHEIT … … … so WAHR ich hier sitze!


© Ulinik


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Beschreibung des Autors zu "DIE LETTERWIESE - des Märchens erster Teil"

Märchen bringen archaische Wahrheiten ans Tageslicht, verstecken sie in Bildern, die uns aus Träumen bekannt sind. Dieses Märchen bezieht sich - das wird jeder aufmerksame Leser wahrnehmen - auch auf moderne Erscheinungen des Lebens, die natürlich uns allen zueigen sind, weil sie im Archaischen wurzeln.
Dem Märchen wird noch ein zweiter Teil folgen.




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