Was der Traum zeigt, ist der Schatten dessen, was an Weisheit im Menschen vorhanden ist, selbst wenn er im Wachzustand nichts davon wissen mag...Wir wissen nichts davon, weil wir unsere Zeit mit äußerlichen und vergänglichen Dingen vertrödeln und dem, was in uns real ist, keine Aufmerksamkeit schenken.



Paracelsus

***


In einiger Entfernung von Palpa Time, einem mittelgroßen Raumflughafen auf dem Planeten New Peru, senkt sich der Rio Apurímac am hügeligen Steinufer in ein fast eingeschlossenes Flussbett und fließt an dieser Stelle tiefgrün und träge dahin. Der Abfluss ist so schmal, dass sich davor ein kleiner See gebildet hat.


Das Wasser ist um diese Jahreszeit sehr warm. Einige Meilen flussaufwärts ist es im heißen Licht der Sonne des Planeten New Peru plätschernd über den gelbbraunen, mit Kieselsteinen durchsetzten Sand geflossen, ehe es die von niedrigen Hügeln umsäumte, See artige Stelle erreichte.


An einer Seite des Flusses winden sich weiter oben über den schroffen Felsen goldene Abhänge einer waldreichen Landschaft jäh empor bis hin zu dem mächtigen Felsgestein eines namenlosen Gebirges, dessen schneebedeckte Berggipfel weit in den hellblauen Himmel ragen. New Peru ist ein erdähnlicher Planet mit ebenso viel Wasser und kontinentaler Landmasse. Das macht ihn so beliebt bei den Kolonisten.



Auf der gegenüber liegenden Talseite ist das Wasser des Rio Apurímac von hohen, grünen Bäumen umsäumt, deren braun gefärbte Blätter sich im aufkommenden Wind leicht hin und her bewegen.



Noch weiter unten beginnt das saftig grüne Grasland, das den vielen Tieren in dieser schönen Gegend ausreichend Futter bietet. In der Nähe des Sees, an seinen geschwungenen Sandufern, stehen imposant aussehende, knorrige Bäume, die ihr Laub teilweise schon abgeworfen haben. Jetzt liegt es tief und dürr unter ihnen herum, sodass es, wenn man darüber hinwegschreitet, gewaltig knistert.



Es gibt kleinere Tiere, die sich im hohen Laub der Bäume gerne verstecken und andere wiederum, die sich dafür lieber am sandigen Ufer aufhalten, weil sie keine Feinde fürchten müssen, wie beispielsweise jene äußerst seltsam aussehenden, bärenartigen Kreaturen, die sechsbeinig im träge vorbeifließenden Wasser stundenlang auf Fische warten. Und wenn sie schließlich genug gefressen haben, sind die feuchten Sandbänke des Rio Apurímac danach von einer großen Anzahl dieser zotteligen Tierwesen übersät, die, dicht zusammengedrängt, die Nacht dort verbringen.



Zwischen den skurril aussehenden Bäumen und buschigen Strauchgewächsen hindurch, teilweise parallel zum Flussbett, verläuft ein Pfad, festgetreten von den hier niedergelassenen Kolonisten, überwiegend Farmer von der Erde, die den schönen See mit ihrer gesamten Familie aufsuchen, um in den wenigen tiefen Stellen zu schwimmen. Darunter sind auch viele Kinder und Jugendliche, die sich an dem kleinen Gewässer aufhalten, um gegen Abend am Ufer mit ihren Eltern zu kampieren, was nicht selten vorkommt. Überall liegen die verbrannten Holzüberreste von den zahlreichen Feuern; die abgeholzten Äste sind abgescheuert von den vielen Kolonisten, die darauf gerastet haben.



Jetzt liegt das Seeufer allerdings verlassen da. Dass heute niemand hier war, wird schon seinen Grund gehabt haben. Vielleicht musste irgendeine wichtige Ernte eingefahren werden.



Alles ist ruhig und still. Langsam geht die Sonne unter.



Dann, etwas später.



Die Schatten der mächtigen Berge im Hintergrund waren schon längst über die hügelige Landschaft gezogen, als auf dem ausgetretenen Pfad ein Geräusch von Fußtritten auf dem dürren Laub ertönte. Die ängstlichen Kleintiere in der näheren Umgebung suchten schnell Deckung. Einen Augenblick lang regte sich nichts mehr.



Doch ganz plötzlich tauchten die Gestalten zweier junger Männer auf dem Trampelpfad auf und kamen direkt auf den kleinen See zu. Sie gingen hinter einander im Gänsemarsch. Endlich konnte man sie besser sehen. Beide hatten zerknitterte Hüte aus braunem Leder und über den Schultern trugen sie lange Wolldecken, die fest zusammen gebunden waren. Die Nächte am nahen Wasser konnten nämlich hier im Tal sehr kalt werden.



Der erste der beiden jungen Männer war von kleinwüchsiger Statur. Mit federnden Schritten kam er daher. Sein Gesicht war scharf geprägt und dunkel, die Augen wanderten unruhig nach allen Seiten, als suchten sie nach etwas. Alles an ihm passte zusammen. Die Hände waren klein aber kräftig, die Arme kurz und von stark ausgeprägten Muskeln deutlich geformt. Hinter ihm schien sein Gegenbild zu laufen: ein ziemlich hochgewachsener Mann mit ausdruckslosem Gesicht, großen farblosen Augen und breiten, herabhängenden Schultern; er ging schleppend, ja fast schwerfällig, als hätte er Blei an den Füßen oder wie ein Lasttier mit zu viel Gepäck auf dem Rücken.



Der Vordermann hielt kurz inne, als er das sandige Ufer des Sees erreichte. Fast hätte ihn sein Hintermann dabei überrannt. Der Kleine nahm seinen schmierigen Hut vom Kopf und wischte mit dem Zeigefinger über das Schweißband. Das Schwitzwasser sammelt sich in seiner Hand, das er mit einer ruckartigen Bewegung von sich schleuderte.



Sein großer Gefährte warf währenddessen die zusammengebundene Decke mitsamt der übrigen Ausrüstung ab, stürzte sich der Länge nach hin und trank von der ruhigen Oberfläche des ufernahen Seewassers. Mit lange Zügen sog er es schnaufend und prustend in sich hinein.



Der Kleinere trat hastig neben ihn.



„Ernesto“, sagte er mit einem scharfen Ton in der Stimme, „trink’ nicht soviel auf einmal, sonst wird dir wieder schlecht davon.“



„Schmeckt ganz ordentlich. Wie das Wasser auf der Erde. Ich kenne diesen Geschmack.“



Ernesto legte seinen Hut ab und tauchte seinen Kopf tief unter. Dann setzte er sich ans Ufer in die Hocke und sah über den kleinen See. Das Wasser tropfte von seinen Haaren auf die robuste Lederjacke und lief ihm über den offenen Kragen den Rücken runter. Offenbar empfand er das als Wohltat, denn aus seinem geöffneten Mund kam ein kehliges, fast Bass artiges Ahhh...“



Der kleine Mann neben Ernesto hieß Pablo. Auch er hatte mittlerweile sein Bündel Habseligkeiten abgelegt, kramte anschließend in seinem offenen Rucksack herum, bis er schließlich eine metallene Schöpfkelle in der Hand hielt mit der er das kühle Wasser aus dem See holte, um es genüsslich Schluck für Schluck zu trinken.



„Mm, schmeckt wirklich nicht schlecht“, gab er zu. „Es fließt ein wenig. Deshalb ist es so sauber und frisch. Man sollte übrigens kein Wasser trinken, das nicht fließt, Ernesto. Würdest du vielleicht die trübe Brühe eines stinkenden Tümpels trinken, wenn du durstig wärst? – Na, was ist? Sag’ schon!“



Der hagere Mann neben ihn schaute etwas beleidigt drein und schüttelte abwehrend den Kopf. Ihm gefiel diese komische Frage nicht. Aber vielleicht wollte ihn sein Freund damit nur ärgern.



„Du vielleicht, Pablo?“ fragte er deshalb vorwurfsvoll zurück und fuhr fort: „Ich bestimmt nicht! Ich könnte noch soviel Durst haben. Mich wundert es schon ein bisschen, dass du mir solche absurden Fragen stellst, mein Freund. Wundert mich wirklich...“



Im nächsten Augenblick warf Ernesto sich eine Handvoll des köstlichen Nasses ins Gesicht und verteilte es mit gleichmäßigen Bewegungen auf der Haut bis runter zum Kinn und rüber zum Nacken. Abermals kam ein erfrischendes Ah aus seinem Mund.



Danach setzte er seinen Hut wieder auf, rückte ein Stück weg vom See, zog die Knie hoch und stützte sich nach hinten rücklings ab.



Pablo machte es ihm nach, blickte zu seinem Kameraden hinüber, um zu nachzusehen, ob alles stimmte. Dann starrte er ins Wasser. Der Blick seiner Augen schienen irgendwie trübsinnig geworden zu sein. Oder dachte er nur nach? Doch worüber?



Das flammende Licht des Sonnenuntergangs verschwand nach und nach hinter den weißen Berggipfeln, und die Dämmerung schlich sich ins Tal. Die kleinen Wellen des Sees glitzerten jetzt wie feine Silberstreifen.



Den Blick immer noch aufs Wasser gerichtet, fing Pablo plötzlich an zu reden.



„Ich habe gehört, die Farmer haben mal vor langer Zeit Fische von der Erde hier in diesen See ausgesetzt. Ich werde welche für uns fangen und du gehst mittlerweile Holz holen, Ernesto.“



„Klar doch..., mache ich sofort. Ich esse gebratene Fische für mein Leben gern. Hoffentlich fängst du auch welche, die groß genug sind und mich satt machen können. – Ich gehe jetzt mal los, mein Freund..., fang’ du mal die Fische!“



Der hagere Ernesto stand auf und ging. Es dauerte eine Weile, da kehrte er mit einer ziemlichen Menge trockener Blätter und einem dicken Bündel dürrem Knüppelholz zurück.



Er schichtete das ganze Zeug auf einen Haufen, ging nochmals los und holte immer mehr trockenes Brennholz. Die Dunkelheit hatte mittlerweile stark zugenommen. Zeit also, das Feuer zu machen. Der schlaksige Mann ging zur vorbereiteten Feuerstelle und zündete mit einem uralten Benzinfeuerzeug die dürren Blätter an. Schon bald prasselten die Flammen durch die verdorrten Zweige und breiteten sich darin aus.



Pablo schnürte mittlerweile wortlos ein weiteres Bündel auf, zog schließlich eine ausziehbare Angel daraus hervor und ging tief ins Wasser hinein. Hin und wieder sprach er ein paar seltsame Worte, als beschwöre er etwas. Schon bald lagen einige äußerst prächtige Fischexemplare zappelnd im sandigen Seeufer, die aussahen wie Karpfen. Nach dem vierten gefangenen Fisch ging er rüber zum lodernden Feuer und legte sie alle fein säuberlich nebeneinander auf das darüber aufgestellte Metallrost. Dann machte er es sich in der Nähe der Bratstelle bequem.



Mittlerweile war es stockdunkel, aber das offene Feuer erleuchtete mit flackerndem Schein die nähere Umgebung.



Während die Fische vor sich hin brutzelten, unterbrach Ernesto die schweigsame Stille.



Er schaute dabei gedankenverloren zum See hinüber ins Dunkel.



„Pablo, manchmal habe ich den komischen Eindruck, dass du mich nicht magst. Warum bist du immer so abwesend? Möchtest du vielleicht, dass ich dich allein lasse?“



„Mensch Ernesto, zum Teufel noch mal! Geht deine sinnlose Fragerei schon wieder los? – Wo könntest du denn schon hingehen? Zurück zur Erde etwa? Weist du eigentlich, was so ein Rückflug mit einem dieser interstellaren Raumschiffe kostet? Soviel Geld hast du gar nicht. Und frag’ mich bloß nicht, ob ich dir was leihen kann. Auf gar keinen Fall! Das geht nicht. Ich muss meine Kröten zusammenhalten.“


„Wie kommst du bloß darauf, dass ich so etwas vorhabe?“ fragte Ernesto unwirsch. „Ich will doch gar nicht zurück zur Erde. Was soll ich da? Meine Familie ist tot und alle meine Freunde sind Kolonisten geworden – überall verteilt im Universum. Keinen werde ich in meinem Leben je wiedersehen. Das Thema ist damit also gefressen. – Aber ich war vor einiger Zeit da oben in den Bergen – ganz allein. Ich könnte dort leben, denn ich liebe die Einsamkeit.“



„Was redest du da für einen Unsinn? Was würdest du denn essen? Du hast ja nicht mal den Verstand dazu, richtig zu jagen, Ernesto.“



Pablo guckte ihn dabei ruhig und forschend an. Irgendwie tat ihm sein Freund plötzlich leid, weil er trotz seiner Größe hilflos wie ein kleines Kind war.



Ernesto verzog das Gesicht. Sein Mund fiel enttäuscht nach unten. Pablo sah das und hakte sofort entschuldigend nach.



„Na ja, jetzt war ich wohl ein bisschen gemein zu dir, was? War nicht so gemeint. Ich will doch gar nicht, dass du gehst. Bleib’ einfach bei mir, und die Sache hat sich.“



„Macht dir wohl besonders viel Spaß, mich zu ärgern, wie? Aber meinetwegen. Ich kenne das von dir nicht anders. Es ist mir eigentlich auch egal. Schau’ lieber mal zu den Fischen rüber. Ich glaube, die sind schon fertig. Gib’ mir den vom rechten Rand! Der sieht eigentlich ganz passabel aus.“



Pablo tat, was sein Freund von ihm verlangte, reichte Ernesto einen gut durchgebratenen Fisch auf einem Holztablett rüber und wünschte ihm einen guten Appetit. Ernesto nickte mit dem Kopf. Der Friede war wieder hergestellt.



Dann nahm Pablo selbst einen Räucherfisch vom heißen Bratrost herunter. In dunkler Nacht am offenen Feuer zu essen fand er nicht nur besonders romantisch, sondern echt geheimnisvoll. So liebte er es.



Nach der nächtlichen Mahlzeit am See richteten sie sich im Sand ein Lager her und wie die Glut zusammenfiel, wurde der flackernde Lichtkreis des Feuers kleiner und kleiner. Die nachgeworfenen, verbrannten Blätter kräuselten sich in der restlichen Hitze, und nur noch ein schwacher Schimmer ließ erkennen, wo die einstmals dürren Äste waren. Als die letzte Glut verschwand, tönte aus der Dunkelheit plötzlich Ernestos Stimme.



„Pablo..., schläfst du schon?“



„Wenn du nicht ständig fragen würdest, schliefe ich bereits“, sagte der Angesprochene schläfrig. „Halt’ also jetzt endlich mal deinen Mund und mach’ die Augen zu! Gute Nacht, Nervensäge...“



Ernesto gab darauf keine Antwort mehr. Er war ganz plötzlich eingeschlafen und schnarchte jetzt wie ein altes Walross.



***



Allmählich erwachte die Zeit wieder und schuf eine andere Wirklichkeit.



Pablo spürte, wie der heiße Atem seine schmerzenden Lungen füllte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Um ihn herum war nichts als Dunkelheit. Er wusste nicht, was er davon halte sollte und verhielt sich so ruhig wie möglich.



Vor ihm wurde es plötzlich hell. Ein Licht leuchtete auf. Pablo sah sich verblüfft um. Dann erblickte er einen kleinen Raum mit einem Eingang, durch den sanftes Licht nach draußen fiel...



Einen Moment lang war er völlig konfus. Ich träume das doch alles nur, ich habe eine Vision, dachte er so für sich und ging mit vorsichtigen Schritten auf den Eingang zu.



„Halt!“ befahl ihm jemand.



Auf einmal stand, wie aus dem Nichts kommend, in einer weiten, schwarzen Robe gehüllter Mann vor Pablo. Die rötlich funkelnden Augen der unheimlichen Gestalt blickten kalt aus dem Schatten einer weit nach vorn über die Stirn gezogenen Kapuze.



Pablo bekam es mit der Angst zu tun. Sein kurz gedrungener Körper schüttelte sich, Angstschweiß lief ihm über die Stirn. Sein Magen krampfte sich zusammen und schien sich entleeren zu wollen.



Dann zog ihn der Unbekannte plötzlich in den Raum, der von mehreren großen, flackernden Kerzen beleuchtet wurde. Pablo wurde davon so überrascht, dass er keine Gegenwehr übte. Überall lagen alte Bücher und pergamentartige Schriftrollen herum. Auf einem uralten Eichentisch standen mehrere Tintenfässer mit Federkielen herum. Ein kalkweißer, menschlicher Totenkopf diente als Briefbeschwerer.



Der Unbekannte schlug jetzt die Kapuze zurück, wodurch sein skelettartiger Schädel sichtbar wurde. Jetzt konnte man auch das nackte Gesicht deutlich sehen, das nichts Menschliches an sich hatte. Die Haut war verschrumpelt und mit hässlichen Warzen überzogen.



„Ich bin Huillaj-Umu, der Seher“, sagte er mit leiser Stimme und blickte Pablo mit seinen roten Augen wie eine angriffsbereite Klapperschlange an.



Eine kleine Pause trat ein. Der unheimlich aussehende Mann dachte offenbar intensiv nach.



Dann sprach er weiter.



„Weißt du überhaupt, was ein Seher ist?“ fragte er Pablo ganz unvermittelt, der den Fremden verwirrt ansah.



„Ein Zauberer?“ antwortete ihm dieser ängstlich.



Der Seher kam jetzt auf ihn zu. Dann beugte er sich leicht vor. Die roten Augen glühten wie feurige Kohlen. Pablo machte einen Schritt zurück und schaute weg. Er wollte dem Magier nicht in die Augen sehen.



„Was ist mit dir? Hast du vielleicht Angst vor mir, Pablo? Du bist ein richtiger Dummkopf“, lachte der Seher leise.



Mit zischender Stimme fuhr er fort.



„Weißt du, es gibt nur eine einzige Macht. Es ist jene, die man für seine eigenen Zwecke gebrauchen kann. Vergiss, was man dir über Gut und Böse beigebracht hat. Das sind nur kindliche Vorstellungen. Alles Schwachsinn. – Ich bin ein Seher. Manche mögen mich, andere nicht. Nun, ich bin ein Mann wie jeder andere auch, nur mit dem Unterschied, dass ich über sehr große Zauberkräfte verfüge. Ich wurde mit dieser Gabe geboren. – Du bist hier, weil du über die gleichen Kräfte verfügst, wie ich.“



Pablo hatte keine Ahnung, wovon der ominöse Kerl in der schwarzen Robe sprach, der ihn jetzt im fahlen Schein der flackernden Kerzen von oben bis unten aufmerksam musterte.



Der Seher lachte plötzlich schallend.



„Kann es möglich sein, das du von deiner seltenen Gabe nichts gewusst hast? Keine seherischen Anfälle gehabt oder hast du noch nie Dinge einfach so verschwinden lassen, die anderswo wieder aufgetaucht sind? – Nein? Das kann doch nicht möglich sein...“



„Doch, ja“, sagte Pablo nach langer Pause des Schweigens, wobei sein Gesicht rot anlief. „Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit einigen kleinen Zaubertricks meine Freunde köstlich unterhalten habe.“



Der Seher vor ihm wurde mit einem Schlage still. Er starrte Pablo aus seinen dunkelrot gewordenen Auge an. Pablo wurde nervös. Dann, ohne es zu wollen, überkam ihn eine Woge zersplitternden Chaos. Seine Sinne schärften sich zugleich. Ein aufkommender Wirbelwind schien ihn fortreißen zu wollen. Er hatte das komische Gefühl, obwohl er sich nicht ganz sicher war, dass er von einem kompakten Energiefeld umhüllt wurde, das ihn lückenlos umgab und das zusammen mit ihm in einem eigenen Rhythmus schwang, der unglaublich viele Strukturen hervorbrachte, die, offenbar verwoben mit einem größeren Ganzen, pulsierende Bildgeflechte erzeugte.



Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, ließ alles abrupt nach.



Pablo schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich verstehe nicht, was mit mir los ist. So was ist mir noch nie passiert...“ sagte er mit weit aufgerissenen Augen.



„Pablo, du bis ein richtiger Einfaltspinsel. Du glaubst doch tatsächlich ein ganz normaler Mensch zu sein, der sich als Kolonist auf einem Planeten namens New Peru herumtreibt. Dabei verfügst du über Kräfte, die du scheinbar selbst nicht für möglich hältst oder einfach bisher noch nicht an dir bemerkt hast. Wie ein kleines Kind bist du, das Dinge macht, von denen es keine Ahnung hat. Das ist mir bisher auch noch nicht unter gekommen“, sagte der Seher nachdenklich.

Diesmal lächelte er matt.



Er schaute Pablo dabei an und forderte ihn auf, ihm zu folgen.



Als der den Raum verließ, ergriff er eine kleine Laterne, die neben der Ausgangtür an einem eisernen Wandhaken hing, blieb kurz stehen, blickte nach hinten und winkte dem immer noch völlig verängstigt aussehenden Pablo vertrauensvoll zu.



Wieder lächelte der Seher, dessen Name „Huillaj-Umu“ Pablo nicht aussprechen konnte, weil er seltsam und fremd klang.



Eine andere Tür tat sich auf, die wie aus dem Nichts plötzlich erschienen war. Der Zauberer öffnete sie mit einer leichten Handbewegung und führte Pablo durch ein Folge leerer Korridore. Dabei hielt er ihn mit seiner knochigen Hand am Unterarm fest und zog ihn hinter sich her. Das Licht der Laterne knisterte leise vor sich hin. Pablo schätzte, dass es mitten in tiefschwarzer Nacht sein musste, denn alles war menschenleer, dunkel und unheimlich still. Die einzigen Geräusche waren ihre klappernden Schritte auf dem harten Steinboden und das schlürfende Rauschen von Huillaj-Umus weiten Umhang.



Nach einer Weile traten sie abermals durch einen Eingang und befanden sich im nächsten Augenblick in einer großen, geräumigen Kammer. Der Seher ließ Pablo los, der jetzt vor Anstrengung keuchend an der Mauer lehnte und den komischen Eindruck hatte, Meilen gegangen zu sein.



„Schau her, ich will dir was zeigen“, befahl der Magier.



Genau in der Mitte des Raumes befand sich ein drei Meter hoher, kreisrunder Spiegel. Pablo staunte nicht schlecht über seine Größe, die ihm für so ein Gerät ungewöhnlich vorkam. Er hatte darüber hinaus keine Vorstellung davon, warum dieses Ding ausgerechnet hier in der Mitte der Kammer stand.



Huillaj-Umu deutete mit einem Nicken darauf.



„Stell’ dich direkt vor den Spiegel und schau hinein“, sagte er zu Pablo, der schweigend ein paar Schritte darauf zu ging. Der Seher hielt die Laterne in die Höhe und leuchtete die direkte Umgebung damit aus.



Seltsamerweise konnte Pablo zuerst nichts erkennen außer einem undeutlich wabernden Dunst. Doch dann tauchten nach und nach die ersten Einzelheiten auf. Im Spiegel erkannte er plötzlich eine Art Miniaturlandschaft, Wasser, Berge, einen Fluss und einen verträumten See mit sandigem Strand, der von knorrigen Bäumen umgeben war. Manchmal schienen die Dinge kleiner, manchmal größer zu werden.



Pablo richtete seinen Blick nach unten und entdeckte am Ufer des kleinen Gewässers zwei junge Männer, die dort offenbar schliefen. Obwohl es Nacht war, konnte er alles genau erkennen, was ihn ziemlich verwunderte.



Pablo wich zurück. Er verstand zuerst nicht, doch dann dämmerte es ihm langsam.



„Schau nur genauer hin“, sagte der Seher zum ihm.



Nach sekundenlangem Zögern beugte sich Pablo vor und sah erneut nach unten. Der kleine See dort kam ihn irgendwie bekannt vor. Es war ihm auf einmal so, als schwebte er oben darüber. Und als er noch näher nach unten blickte, erkannte er die Gesichter der beiden Männer, die dort friedlich in der Nacht schliefen.



Im ersten Moment erschrak er, weil er die Gesichter kannte. Es war das von Ernesto und das daneben seines.



„Genug“, meinte der Magier. „Komm! Wir müssen wieder gehen. Wir haben nur wenig Zeit. Die anderen Zauberer sollen nichts davon mitbekommen, dass wir hier gewesen sind.“



Mit diesen Worten wurde Pablo ein weiteres Mal durch die finsteren, leeren Korridore gezerrt.



Wieder zurück in dem von flackernden Kerzen erleuchteten Raum, ließ Pablo sich dankbar auf einem kleinen, weichen Hocker nieder. Er war plötzlich müde geworden und bis ins Mark erschüttert. Was waren das nur für unheimliche Mächte, die über solcherlei Kräfte verfügten? Er konnte es einfach nicht fassen und schüttelte immer wieder den Kopf.



Der Seher saß jetzt hinter dem schweren Eichentisch und blickte zu Pablo hinüber.



„Tja, mein lieber Pablo“, sagte er mit sinnierenden Worten, „die Welt ist nicht das, wofür die meisten Menschen sie halten. Die Realität ist nur oberflächlicher Schein. Sie täuscht den Menschen meisterlich, ohne dass sie in der Lage sind, mit ihren Sinnen auch nur ansatzweise ein Zipfelchen von den dahinter liegenden Tiefen erkennen zu können. – Alles beruht auf Täuschung und Einbildung. Doch es gibt unter ihnen welche, die über besondere Gaben verfügen und mehr sehen, als andere. Ihr Herz ist offen für das, was ich als die verborgenen Strukturen des Seins bezeichne. Ihre Sinne empfangen Signale der tief im eigentlichen Sein um uns herum eingebetteten Welt. Sie ist unsichtbar, aber dafür ist sie die wahre Wirklichkeit, jene Wahrheit also, die alles bestimmt und beeinflusst was der Mensch mit seinen Sinnen vermeintlich zu erkennen glaubt. Ich bin einer von ihnen, Pablo..., und du auch. Aber ein Seher zu sein, bedeutet nicht nur, die verborgenen Strukturen richtig zu erkennen, sondern auch, dass man in der Lage dazu ist, sie machtvoll zu verändern. Der Geist ist es, der die Materie beherrscht, sie formt und gestaltet, z. B. um neue Welten zu erzeugen, die es gar nicht gibt, wenn du verstehst, was ich damit sagen will...“



„Ich...ich verstehe nicht...“, stammelte Pablo. „Ich halte mich nicht für einen Seher, Zauberer oder mächtigen Magier.“



Er befeuchtete sich nervös die Lippen mit seiner Zunge und blickte den Mann mit den roten Augen am Eichentisch verständnislos an. Er wollte nichts zu schaffen haben mit diesem Aberwitz von Sehern, Zauberern, Hexen und Magiern, die mit ihren unglaublichen Kräften und einem schier unbeugsamen Willen ganze Welten entstehen und wieder vergehen lassen konnten. Allein nur der Gedanke daran ließ ihn erschaudern.



„Ich besitze keine von diesen Gaben“, beharrte er. „Ihr irrt Euch. Ich bewege mich nur in der Welt, erschaffen kann ich sie nicht.“



„Nun ja,“ sagte Huillaj-Umu, „mir erging es nicht anders, bis ich diese Kräfte selbst ausprobiert habe. Du wirst schon noch dahinter kommen, mein lieber Pablo. Es wird dein Schicksal sein. Die Dinge sind eben so, wie sie sind. Dein Begleiter, dieser Ernesto, ist ein Homunkulus. Du hast ihn unbewusst erschaffen und als Freund und Begleiter in deine Welt gesetzt. Du bist für sein Leben verantwortlich, wie alles, was du um dich herum erschufst. Selbst der Planet New Peru mit seinem Raumflughafen ist eine stabil gewordene Illusion, die du unbewusst erzeugt hast – bereits über einen großen Zeitraum hinweg, den du selbst nicht mehr erahnen kannst.“



Pablo erschauderte. Er fühlte sich irgendwie hilflos und dachte darüber nach, dass er alles nur träumte. In Wirklichkeit lag er mit seinem Freund Ernesto am Ufer eines kleinen Sees und schlief friedlich vor sich hin.



Aber Pablo hatte ein höchst beklemmendes Gefühl bei diesem Gedanken, denn er wusste in der Tat schon lange nicht mehr, was Traum und Wirklichkeit war.



Der Seher machte plötzlich eine seltsame Handbewegung und deutete anschließend mit Bestimmtheit zur Tür.



„Du musst mich jetzt wieder verlassen, Pablo. Ich habe dir Hinweise genug gegeben. Geh’ und verlasse mich wieder. Werde endlich erwachsen! Es gibt noch andere Dinge, um die ich mich kümmern muss...“



Ein komisches Kribbeln kroch auf einmal über Pablos Rücken. Er verließ den Raum wieder und schritt nach draußen in die Dunkelheit. Als er sich umdrehte, war alles hinter ihm verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Nur die Dunkelheit war geblieben...



***



Pablo wachte schlagartig auf.



Die plötzliche Kühle der Nachtluft traf seine Haut wie ein Faustschlag, nahm ihm den Atem. Die warme Wolldecke war von seinem schlafenden Körper gerutscht, der jetzt frei und ungeschützt am Ufer des nahen Sees lag. Pablo zitterte am ganzen Körper. Er fror.



An derselben Stelle, wo er diesen seltsamen Traum gehabt hatte, hüllte er sich wieder in die wärmende Decke, rollte sich zusammen und blickte ganz sachte hinauf zum nächtlichen Sternenhimmel, wo der Mond fahl silbrig leuchtete.



Er betrachtete mit müden Augen den feinen, farbigen Ring, der den Trabanten umgab, und der, wie ein Herzschlag pulsierend, im Einklang mit seinem eigenen Herzen zu pochen schien. Es war das unschuldige Herz eines kindlich gebliebenen Magiers, der seine schier grenzenlosen Kräfte schon sehr bald kennen lernen würde. Es wurde Zeit dafür. Er musste endlich erwachsen werden. Das wusste Pablo, aber er wollte es nicht wahrhaben, dass er die ganze Zeit über in seiner eigenen Illusion gelebt hatte. Für ihn war das einfach eine schreckliche Vorstellung. Er dachte vage darüber nach, wie wohl die Welt außerhalb dieser für ihn vermeintlichen Realität aussehen würde. Irgendwie hatte er eine unterschwellige Angst davor, sie kennen zulernen.



Den Blick immer noch zum Sternen übersäten Nachthimmel gerichtet, überließ er sich langsam wieder dem Schlaf.




***



Wieder erwachte die Zeit und erschuf eine neue Wirklichkeit.



Pablo blickte hinaus über das grün bewachsene Hochland. Der Tag war nicht mehr fern. Still und geheimnisvoll lag die alte, sagenumwobene Ruinenstadt der Inkas zu seinen Füßen, die Machu Picchu hieß. Schon seit Monaten war er in ihr herumgestreift und hatte sie ausgiebig erforscht. Mit geschlossenen Augen stand er jetzt auf einer kleinen Anhöhe und konzentrierte all seine Gedanken auf nur einen einzigen Punkt.



Mit einem Mal warf er seinen weiten Umhang nach hinten, hob beide Hände beschwörend zum Himmel hinauf und sprach eine mächtige Zauberformel.



Im gleichen Augenblick veränderte sich die Ruinenstadt zu seinen Füßen im Zeitlupentempo. Sie begann sich Stück für Stück wieder zu erneuern und erwachte nach und nach zu neuem Leben. Überall liefen auf einmal Menschen in bunten Gewändern herum. Immer mehr von ihnen tauchten wie aus dem Nichts auf.



Pablo selbst verwandelte sich in den Inkakönig Pachacútec Yupanqui und schritt zusammen mit seinem prächtigen Gefolge und stolz erhobenen Hauptes die steile Treppe eines gewaltigen Observatoriums hinauf. Oben angekommen beobachtete er den beginnenden Sonnenaufgang und formte in der schwachen Dämmerung aus den benachbarten Gipfeln ein Gesicht, das Ähnlichkeit mit seinem eigenen hatte. Das Volk der Inka sollte ihn nie vergessen.



Von irgendwoher hörte er auf einmal die ferne Stimme des Sehers, die zu ihm sagte: „Endlich bist du erwachsen geworden, mein Sohn...“


ENDE

(c)Heiwahoe


© (c)Heiwahoe


0 Lesern gefällt dieser Text.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Zauberer von Machu Picchu"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Zauberer von Machu Picchu"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.