Der Anfang eines seltsamen Endes 7


In den nächsten Tagen verwirklichte sich die Kopie des Gemäldes „Die Nachtwache“ wie von selbst. Es trug mich über alle Versagensängste hinweg und auch Schmarrtina Vettele zeigte sich vom Fortgang der Arbeit entzückt. Frau Restöv offenbarte erste Anzeichen einer völligen Gesundung, so daß ich einigermaßen stolz auf mich war.

Ob der Stolz für eine bei mit eintretende, erweitere Wahrnehmung verantwortlich war, konnte ich nicht zweifelsfrei klären. Aber ich sah jetzt immer öfter kleine Blitze um mich zucken, während die Kügelchen in Weiß und Schwarz sich zusammenballten und mir ein Bild der Realität vorgaukelten, das für mich unglaublich war: ich fand mich außerhalb des Holdecks stehend und mir selber beim Malunterricht zusehend. Dort entdeckte ich an einem fremden Himmel Sterne, die es bei uns nicht gab und einen riesigen Planeten, der 2 Sonnen und 5 Monde hatte. Dazu schwirrten noch scharenweise künstliche Himmelsörper um ihn herum – es war ein einziges Leuchten und Funkeln! Das Holdoeck – mein Leben – schwebte daneben her wie ein 3-D-Fernsehbild. Es schien mehr und mehr an Intensität zu verlieren.
Ich musste irgendwie wieder zurückkommen, um mich meinen mir selbst gestellten Aufgaben zu widmen, ob ich nun ein Troll war oder nicht, ob ich mich nun zeitweise in der wirklichen Heimat der Trolle befand oder nicht, oder ob ich nun halluzinierte oder nicht!

Doch so oft ich mich auf meine Rückkehr aus dieser Zone (dem Überraum? dem Jenseits?) konzentrierte, mich bemühte wieder in die sogenannte Realität einzudringen, so oft misslangen meine Versuche diesbezüglich. Stattdessen beobachtete ich mich selbst, wie ich da vor mich hinlebte... Was würde denn geschehen wenn ich den Weg nicht mehr zurückfand? Würde mein enttrolltes Ich dann trotzdem weiter seiner Wege gehen?? Wer würde dann Ich sein? Ein anderer?

Frau Restöv war erschienen, um mir zu erzählen, daß weitere Bemühungen von meiner Seite nun nicht mehr nötig seien und sie sogar mit ihrem Mann, der nun keine Angst mehr vor ihr hatte erneut zusammenziehen würde.
Ich wunderte mich vielfach, denn mir fielen die stark behaarten Beine der guten Frau ein und ich fragte mich wovor ihr Mann, Herr Restöv, denn überhaupt Angst hatte.

Des Weiteren verwunderte mich, daß auf einmal die Zeit auf dem Holodeck im Raffer abzulaufen schien. Die Uhren rasten! Ich sah mich wie ich vor dem riesigen Gemälde „Die Nachtwache“ stand, mit dem Pinsel in der Hand...und – oh Wunder, oh Wunder – es befand sich in einem Zustand kurz vor der Fertigstellung!
Dann, wieder ein paar Rucke weiter, kam Schmarrtina durch eine unsichtbare Türe herein, freute sich, lobte mich überschwänglich und meinte „du kannst das Bild doch in den nächsten Tagen bei mir abliefern, lieber Trolli?“

In diesem Augenblick pikste mir jemand mit spitzem Finger in den Rücken: mein verstorbener Vater stand hinter mir und bat mich, mich nicht umzudrehen. Kontakt zwischen uns sei möglich, meinte er, aber kein direkter, solange ich nicht die Seiten gewechselt hätte.
Natürlich erstarrte ich sofort vor Schreck! Denn außer der Stimme meines Erzeugers (der mich mein Leben lang nie verstanden hatte) hörte ich wie sich offensichtlich ein ganzer Pulk Verwandter und Bekannter, die bereits das Zeitliche gesegnet hatten, näherte.
Da wurde mir eines klar: Je länger ich hier, zwischen Dies-und Jenseits verweilte, desto geringer wurden meine Chancen zurückzukehren...und auf einmal erschien mir mein früheres Dasein, dem ich seit ein paar Stunden nun schon abhold gewesen war, golden. Die Sonne schien in mein Herz! Ich versuchte verzweifelt Verbindungsfäden zu spinnen, an deren Strängen ich mich hinüberzuziehen gedachte ins irdische Licht.

Aber je mehr ich nachdachte, desto größer schien die Entfernung zu meinem materiellen Leib, der immer noch erfüllt war von der Energie des Holodecks, zu werden. Was also konnte mir auf die beiden Beine helfen, mit denen ich niemals so richtig mitten, auf dem sogenannten festem Boden der Realität gestanden hatte?
Die Erklärung war denkbar einfach! Sie hieß „Nichtdenken und Fühlen“ - und wozu fühlte ich mich derzeit am meisten hingezogen? Zu Wunderle natürlich, dem festen und urtümlichen Standbein meiner Existenz und – oh Wunder – zu Es, zu Schnatterta Engelland, die selbst nicht völlig real zu sein schien. Kreativität und Leidenschaft vermischten sich zu einer Leidenschaft für die Kreativität...und es machte zoom: ich war wieder ich selbst (wer immer das auch sei) und ich befand mich im Atelier, wo ich vor meiner Nachtwache stand um sie zu begutachten.
Sie war wahrhaftig phänomenal geworden. Ich konnte mit mir zufrieden sein...

Dann wurde ich zurück in die Real-Zeit gestoßen . Die verlorenen Stunden in denen ich mich selbst als Phänomen beobachtet hatte, konnte ich jedoch nicht mehr nacherleben.
Nachdem ich wieder zu mir und meiner Holo-Welt gekommen war, registrierte ich etwas das mir aus der Anderwelt geblieben zu sein schien: einen goldenen Schimmer. Und ich beschloss, daß dies ein Wink des Schicksals zu sein habe, der ungefähr so zu deuten sein sollte: Ich musste eine goldene Statue erschaffen, eine, die sich bewegt und mir in tausend Figuren zeigt wie schön es ist reale Träume zu erleben. Amen!

Ein Amen hatte ich für mich beschlossen und eines beschloss das Schicksal, welches, nein, DAS unbeeinflusst von allen unseren Bemühungen dahinfloss wie ein wilder Gebirgsbach, oder ein schlammiger Strom: Meine Mutter begann zu schwächeln!
Sie war nun schon 94 Jahre alt geworden und sich selbst und ihrem Selbstverständnis (= ihrer Unantastbarkeit) treu geblieben. Ihr Altersstarrsinn hatte den Starrsinn der reifen Frau längst abgelöst, der wiederum die Ignoranz einer jungen Frau verdrängt hatte – mit anderen Worten: sie erfreute sich unverändert ihrer Identität! Von Holodecks, Zeitverschiebungen, Nachtwachen, Vetteln und Intrigen hatte sie keine Ahnung. Sie war immer noch EinStein, aber nicht Albert sondern mehr liegend (unbeweglich und auf äußere Einflüsse angewiesen). Und es sah aus als solle es nun für immer und ewig dabei bleiben.

Denn es kam etwas mit Wucht auf sie zu: die Ewigkeit. Sie sah sie kommen, beklagte sich ein wenig, denn sie war zeitlebens stark und weise gewesen und ließ auf sich einstürmen was da einstürmen wollte. Gozilla Gottshäuser stand nun öfter mal flimmernd neben ihr, wenn ich sie besuchte und grinste mich an. Mit der alten Mutter zu reden, davon riet mir mein Troll dringend ab, denn Menschen sind wie Menschen sind...und sie können sich nur ändern wenn sie das wollen, aber wollen können sie es nur wenn sie die größeren Zusammenhänge erfassen.

Was hatte die weise alte Menschenfrau nicht schon alles erlebt?! Einen unglaublichen Krieg, Hunger, Elend, Schwangerschaften, die Ignoranz eines dominanten Mannes, glückliche Stunden auf Reisen mit ihrer Freundin Niel, ihre von ihr nicht austrainierte künstlerische Begabung (sie malte hauptsächlich um sich selbst gut zu finden), den grauenhaften Tod ihres Gatten, eine Währungsreformen 1948 und eine 1999, den Wiederaufbau eines verlorenen Landes, ihre eiserne Gesundheit und schließlich die unumschränkte Herrschaft über ihr kleines Refugium (Haus und Garten) wo sie sich nicht dreinreden ließ!

Seit Kurzem bezahlte man nicht mehr mit D-Mark, sondern mit Euros und ihr kleines Anwesen sei eine Million davon wert...meinte sie. Was auf der Welt vorging kapierte sie nicht ( wie die meisten ihrer Artgenossinnen und Genossen), aber dieser Zustand war ihr seit Jahrzehnten geläufig, ohne daß sie ihn wahrnehmen konnte. Und schließlich war da noch ihr Sohn, den sie von allen „Dingen“ der Erde am wenigsten verstand. Doch ihre Großzügigkeit duldete ihn in ihrem Umfeld gelegentlich. Daß er sich für einen Troll hielt bedrückte sie immer wieder mal sporadisch, aber da sie sich vorrangig mit sich selbst beschäftigte hinterließ dieser Umstand keinen nachhaltigen psychischen Schaden bei ihr.

Sie musste nur nichts wirklich ernst nehmen und schon lösten sich selbst die schlimmsten Wahrheiten in Wohlgefallen auf!
Dann stürzte sie und begann sich selbst in (leider kein) Wohlgefallen aufzulösen. Eine späte „Horizonterweiterung“ suchte sie heim! Die Realität verzerrte sich bei ihr, der absoluten Realistin, ins Surreale. Den Oberschenkelhalsbruch hatte sie in einer längeren Operation glücklich überstanden. Doch ihr Wiederauftauchen in der realen Welt hielt kuriose Überraschungen für sie bereit: Sie sah Menschen mit drei Ohren, zwei Nasen, sechs Augen und unzähligen Beinen. Das war doch nicht ihre Welt? Hatte sie das über 90 Jahre lang übersehen? Oder konnte sie und nur sie die alleinige Wahrheit der Welt erkennen? Das sähe ihr ähnlich...

Was sie auch gesehen hatte während sie die Welt mit bevölkerte, um nichts mehr oder nichts weniger als mich in sie zu setzen, was sie auch von sich gab während sie hier anwesend war und was sie gehört zu haben glaubte...ich würde all dies vermissen, wie ich auch ihre unglaublichen Kommentare vermissen würde, die sie geruhte abzugeben!
Was würde dieses Holodeck ohne sie für mich sein?!
Obwohl ich nicht die kleinste Lust hatte das herauszufinden, wie ich auch keine Lust hatte hinter ihrem Sarg herzugehen, ich musste es einfach tun!

Am Tag nach ihrer Beerdigung erschien mir die Erde zu groß für mich, zu weit und gleichzeitig zu bedrückend. Andererseits fühlte ich mich aber auch ein wenig befreit von ihrem einfach-sensationellen Geist, der mich so lange in Atem gehalten hatte – dann kam das Zeichen:
Wunderle und ich gingen im Wald spazieren, in einer „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein-Gegend, als die Wolken über uns plötzlich einen riesigen fliegenden Engel bildeten, dann hörte ich meine Mutter ganz ungewohnte Worte zu mir sagen: „Von nun an werde ich auf dich aufpassen“. Ich weinte innerlich, ging weiter und bereitete mich auf meine ungewisse Zukunft vor.

Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  44

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 44"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 44

Autor: Sonja Soller   Datum: 22.10.2022 19:38 Uhr

Kommentar: Gerne gelesen!
Faszinierend und auch berührend geschrieben!!

Herzliche Abendgrüße aus dem trolligen Norden, Sonja

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 44

Autor: Alf Glocker   Datum: 24.10.2022 9:00 Uhr

Kommentar: Danke dir herzlich!

LieGrü aus dem trollige Süden
Alf

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