Der Anfang eines seltsamen Endes 6


Die folgenden Tage irrte ich auf dem Holodeck herum wie ein Verrückter in einem abgeschlossenen Zimmer. Nirgends schien ein Ausweg zu sein. Natürlich nicht, wenn man sich in Wahrheit nur auf der Stelle bewegt und höchstens glaubt man würde viele Kilometer zurücklegen. Und nirgends war jemand anzutreffen...
Mir kam meine Einsamkeit, die durch das Wegbleiben von Dings...äh Wunderle entstanden war wie ein großes Schwarzes Loch vor, das ich umkreisen musste wie ein von ihm eingefangener Stern. Vermisste ich die Schwierigkeiten die sie mir jede Minute zu machen verstand? Ja! Ich war es einfach nicht mehr gewohnt mich nicht zu ärgern, zu grämen.

Zudem grübelte ich an komischen Eventualitäten herum, wie z.B. „Wer hat die Misere eigentlich angerichtet?“ Dabei kam ich immer wieder auf die Oberhexe Nimmich, bei der ich jetzt jedoch annahm, daß sie sich mit ihrem Einsatz ein wenig verschätzt hatte. War es wirklich ihre Absicht gewesen ihr Wunderle so sehr zu verletzen?
Ein viele Wochen langer Heilungsprozess stand bevor! Das Schienbein war 5 mal gebrochen, das Wadenbein 3 mal. Daran würde Wunderle zu knabbern haben. Wunderte sie sich mittlerweile über ihre eigene Entschlossenheit?

Die einsamen Tage und die Nächte ohne Wunderles Röcheln und Schnarchen wurden so langsam trister, doch Schmarri kam mit einem lukrativen Auftrag daher und die Restöv zeigte eine wundersame Verbesserung ihres ehemals Besorgnis erregenden Zustandes.
Herr-Mann Schmied allerdings, der schmächtige Überoptimist war inzwischen verstorben! Ich würde ihn und seine furchtsamen Äußerungen, wie auch seine unglaubliche Lebensnaivität vermissen, denn er war immerhin ein guter Mensch gewesen.
Die Ärzte hatten noch 2 Kopfoperationen vorgenommen, dann brachte man ihn leider nicht mehr zurück ans Licht der Welt, wo er doch so gerne verweilte, trotz (oder wegen) seiner herrischen Frau und seiner alles kontrollierenden Mutter. Ich werde sein Andenken in Ehren halten.

Schmarri, deren Andenken ich ebenfalls, wenn auch in zweifelhaften Ehren behalten werde, kam mit einem erstaunlichen Sonderwunsch daher. Für ihr Küchen-Esszimmer ( das so groß war wie meine ganze Wohnung) „brauchte“ sie einen Klassiker: Rembrandts Nachtwache! Ich sollte sie im Format 4m x 2m für sie kopieren! Was für ein Auftrag?! Er sollte mich ganz in Anspruch nehmen...

Wie sehr konnte ich noch gar nicht ahnen, denn auf einmal war das gesamte, von mir überschaubare Holodeck voll mit schwarzen Kügelchen! Diesmal veränderten sie sich! Sie ballten sich zu größeren Konglomeraten zusammen und verformten sich schließlich zu den unglaublichen Vampirgestalten aus diesem Material von Einbildung und winzigen Bestandteilen des Universums, die Seelen gleich durch den Überraum huschen.
Ich erschrak, denn ich dachte meine Lebensgeschwindigkeit hätte ausgereicht sie zurückzulassen. Aber nicht nur sie kamen drohend auf mich zu – ich hörte auch plötzlich wieder die Stimmen der Toten und der Ungeborenen, die ja nur aus unsrer Sicht (=Jetzt-Zustand des Holodecks) tot oder noch nicht lebendig waren.

Doch mitten aus dem Tohuwabohu kam ein Lichtstrahl auf mich zu: Es! Ein Mitglied der Herrenrunde brachte Es mit. Er hatte Es folgendermaßen angekündigt: „Haft du fon ma gegen Gewd ein F'au fotog'afiewt?“ Natürlich hatte ich! Da hatten sich doch erst kürzlich – kaum der Rede wert – 2 Damen gemeldet, von denen eine Bilder von sich für einen Kalender für ihren Liebsten haben wollte. Mein Ruf war schlecht genug, daß frau sich mir anvertrauen wollte, doch ich war gnädig und verlangte nur einen Fuffi für meine Bemühungen.
Trotz des leichten Sprachfehlers meines Bekannten aus der Herrenrunde sagte ich also unbedarft zu. Wird schon schiefgehen dachte ich, ohne zu wissen daß etwas auch ganz anders schiefgehen kann als man denkt.
Meinen Lohn gedachte ich an der Attraktivität des Models festzumachen.: Wenn sie schön ist kostet es nichts, wenn es sich um einen hässlichen Besen handelt, dann verlange ich 100 Mark. Sie wollte mit ihrer Freundin kommen...vielleicht waren sogar Girl-Girl Aufnahmen drin.

Doch vorläufig beschränkte ich mich auf die Ausführung der „Nachtwache“. Die Arbeit erledigte ich hauptsächlich mit Hilfe der Vorstellungsgabe, denn das Original hatte ich ja nicht zu meiner Verfügung. Doch immer wenn ich ein leuchtendes Abbild des Werkes in meiner Phantasie erzeugt hatte kamen die Vampire der Vergangenheit und zerrissen es in tausend Fetzen. Die Toten, die Untoten, die Ungeborenen, die nie geboren Werdenden, sowie auch noch die niemals Sterbenden, weil irgendwann einmal zwischen allen Dimensionen Existierenden, standen sich gegenseitig bei mich in meine Bestandteile zu zerlegen. Nebenbei träumte ich jede Nacht von Wunderle – daß sie plötzlich im Schlafzimmer stünde, um mir mit dem Kopf unterm Arm den Laufpass zu geben. Das war kein gutes Gefühl!
Ich wusste da ging gerade etwas Geheimnisvolles vor, denn sie befand sich nun schon wieder seit 14 Tagen auf Reha in Füd Bassing!
Zwischen ihrem Krankenhausaufenthalt und der Abreise zur Reha war sie 3 Tage, keifend und mosernd, zuhause gewesen, um mich mit wichtigeren Dingen als Rembrandts Nachtwache zu beschäftigen. Aber in meiner größten Not war ich wieder allein.

Nicht nur im Hause gingen seltsame Dinge vor. Unten auf der Straße (ich wohnte damals im 2. Stock) trieben sich geradezu groteske Figuren herum. Es herrschte, ohne daß irgendwer den Karneval ausgerufen hatte, Maskentreiben. Dunkle Scheichs wanderten in Sandalen zwischen den geparkten Autos herum, ein kleines Teufelchen war dabei und zuguterletzt überquerte auch noch ein mittelalterlicher Mönch die Fahrbahn. Als er sah, daß auf dem Balkon meiner Wohnung jemand stand (mein Troll) machte er sich eilends davon!

Aus den Träumen in die Träume! Der Foto-Abend mit meinem Bekannten und seinem Es stand bevor. Sicherheitshalber (weil ich sehr nervös war) hatte ich Nassune mit eingeladen. Sie sollte etwas Ordnung in die Szene bringen, bei der ich nicht wusste was genau ich damit anfangen konnte.
Nassune war bereits erschienen, als mein Bekannter, der ein bisschen an einen Urmenschen erinnerte, mit seinem Anhängsel erschien. Ich staunte, denn das Anhängsel war bezaubernd. Groß und mit goldenen Haaren ausgestattet flötete sie solange schüchtern herum, bis mir schwindlig wurde. Gut, daß Nassune, das „alte“ Profi-Model auch anwesend war.

Es hatte ein paar Schwierigkeiten sich auszuziehen und ich fragte mich was sie wohl dazu bewogen haben konnte mir einen solch pikanten Auftrag zu geben.
Nassune redete ihr gut zu und so klappte schließlich alles!
Es bewegte sich traumhaft und stellte dabei eine engelhafte Figur zur Schau, von der man schlecht wegblicken konnte...mir gingen die Ideen nicht aus! Ich wollte großzügig sein – und ihr das bestmögliche Ergebnis liefern.
Doch dann kam der Eklat: Der Urmensch fragte mich plötzlich „Und wieviel ist diw daf wert?“
Ich fiel aus allen Wolken. Mir wert, nicht ihr wert??
Wo sollte das hinführen? Aber mein Bekannter bestand darauf, daß ich zugesagt hätte ein Model zu bezahlen, nicht von ihm bezahlt zu werden. Bei dem sagenhaften Aussehen der Frau wunderte mich das gar nicht.

Trotzdem war ich perplex – ein derartiges und derart peinliches Missverständnis hatte ich schon lange nicht mehr erlebt.
Auch Nassune wunderte sich: Schließlich hatte ich noch niemals ein Model bezahlt, auch sie nicht! Allein ihretwegen konnte ich Es schon nicht bezahlen.
Mein bekannter musste sich von Es vorwerfen lassen er habe sie nur hergebracht um sie einmal nackt zu sehen. Daß es tatsächlich so war tat nun aber leider nichts zur Sache....und der Urmensch war am Verzweifeln.

Als die Geschichte endlich ausgestanden war und wir uns allseits etwas verschämt verabschiedet hatten, dachte ich erst eine Weile nach, dann fasste ich einen Entschluss. Ich wollte ihr wenigstens ein Fünfzig-Mark-Schein, der die letzte Bezahlung vom Malunterricht gewesen war, vorbeibringen, damit wenigstens Reste meiner Ehre gerettet werden konnten. Daß sich aus dieser kleinen Misere eine lange und kuriose Story ergeben sollte konnte ich leider nicht ahnen, sonst hätte ich meine Finger sowohl vom Model als auch von der unseligen Angelegenheit weggelassen.

Denn bald, nachdem ich mit ihr gesprochen und ihr das bisschen Geld gegeben hatte, meldete sie sich wieder bei mir per e-mail. Sie begann ein unverfängliches Gespräch aus dem die Bewunderung meinerseits für ihre ganz besonders appetitlichen Reize hervorgehen sollte. Dann fassten wir ein weiteres Event ins Auge.
Nassune sagte ich nichts davon, denn ich hatte vor Es erneut zu bezahlen. Doch Nassune ahnte bereits, daß ich eine Schwäche für Es entwickeln würde. Sie schmollte auf ihre Weise und tauchte nie wieder bei mir auf!
Diese Frau hatte mich jedoch immer schon verblüfft.

Auf einmal standen wir, trotz, oder wegen Wunderles Abwesenheit wieder angenehme Erlebnisse ins Haus. Ich sammelte eifrig Moos für die schöne Es, damit auch sie ein wenig an der Erfüllung ihrer Wünsche arbeiten könne.
Was für Wünsche das waren konnte zunächst jedoch weder sei noch ich feststellen. Ich bin mir sicher, wenn ich meine Seele, den Troll befragt hätte wäre mir zumindest ein schummriges Licht aufgegangen, doch ich tat es nicht, denn ich hatte ein schlechtes Gewissen – wie immer wenn ich glaubte angenehm enttäuscht worden zu sein!

Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman)  42

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 42"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 42

Autor: Sonja Soller   Datum: 15.10.2022 12:12 Uhr

Kommentar: Du weißt Geschichten zu erzählen, lieber Alf,
man meint, irgendwo in einer Ecke hinter einer Leinwand versteckt, das Geschehen zu belauschen!!

Herzliche Wochenendgrüße aus dem lauschenden Norden, Sonja

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 42

Autor: Alf Glocker   Datum: 15.10.2022 12:22 Uhr

Kommentar: Herzl Dank und herzl. Grü zurück
aus dem seltsamen Süden
Alf

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