Das gewaltige Raumschiff zog auf seiner Bahn einsam dahin.



Die ungeheure Geschwindigkeit ließ sich an nichts erkennen, denn es durchquerte ein schwarzgraues, unheimlich stilles Universum, ohne Konturen und ohne irgendwelche Planeten, Sonnensysteme oder Galaxien.



Dieser finstere Kosmos lag jenseits von Raum und Zeit und allem Begreiflichen.



Es gab nur dieses kugelförmige Sternenschiff – und die schwarzgraue Unendlichkeit eines schrecklich leeren Nichts.



Innen im Raumschiff deutete Lee Energie, ein schlanker, kahlköpfiger Mann, mit dem ausgestreckten Zeigefinger seiner rechten Hand auf einen riesigen Wandbildschirm, der die Angst einflößende, unendlich erscheinende Einöde da draußen realitätsgetreu wiedergab.



„In diesem Universum sollten die Menschen ihr Dasein fristen. Diese aufrecht gehenden zweibeinigen Homiden, die sich intelligent wähnen, sind wie eine schlimme, tödliche Seuche. Sie haben es nicht verdient, auf einem grünen Planeten unter einem blauen Himmel zu leben. Wenn es je einen Organismus gegeben hat, der es verdient, an einem öden Ort wie diesen hier zu existieren, dann sind es die Menschen. Sie haben vor nichts Respekt und neigen von Natur aus zur Perversion“, sagte Lee Energie mit viel zu hoher Stimme. Man merkte, dass er aufgeregt war und sich nur schwer beherrschen konnte.



Steve Hillmann grinste etwas. Er wusste, dass Lee ihn reizen wollte, aber er würde es nicht zulassen. Er drehte den Spieß einfach um.



„Du bist irgendwie eine komische Nummer, Lee. Du solltest dir deinen Sinn für schwarzen Humor und beißenden Sarkasmus hoch versichern lassen, damit du immer so schönen Sonnenschein in unser Leben bringen kannst. Für Typen deiner Sorte ist selbst das Nichts und Nirgends noch zu gut. Was wir für dich brauchen, ist irgend ein Ort, wo es noch grausiger ist als im Nichts.“



Lee Energie hatte sich mittlerweile von Steve Hillmann wütend abgewandt. Dann drehte er den Kopf zur Seite und sagte: „Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen, Steve. Mit dir rede ich bald kein einziges Wort mehr. Du verstehst mich sowieso nicht.“



„Das mit dem ‚Kein-Wort- mehr-reden’ finde ich gut. Setz das endlich mal in die Tat um, Lee oder quatsch nicht immer so einen Unsinn. Ich finde, du verbreitetst zu wenig Optimismus. Lass’ nicht immer den großen Zyniker raushängen. Werde endlich mal erwachsen“, antwortete ihm Hillmann.



„Ich will dir mal was sagen...,“ stotterte Lee. Dann brach er den Satz abrupt ab und verhielt sich auf einmal ganz ruhig.



Ein plötzliches Zittern durchlief den gesamten Raumschiffkörper; ein hohes Summen setzte ein, das sich zu einem unangenehmen Singen steigerte.


Eine Tür öffnete sich, und Linda Stellwort, die Assistentin des Steuermannes, betrat den samtgrün gestrichenen Raum. Sie ging aufrecht und ruhig, ihre schwarzen Augen glitten über die beiden Männer hinweg, sie drückten eine gewisse Gleichgültigkeit aus.



Die PEGASUS kommt jede Minute heraus“, sagte sie. „Es ist besser, ihr schnallt euch fest.“



„Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?“ fragte Hillmann.



„Das Feld macht einige Probleme“, gab sie zur Antwort.



Lee Energie mischte sich ein. Seine Stimme klang etwas nervös.



„Es wird doch nichts schief gehen, oder? Sind die Vorbereitungen für den schlimmsten Fall getroffen?“



„Ja“, sagte Linda Stellwort. „Wir sind auf alles vorbereitet.“



„Augenblick mal!“ rief Steve Hillmann mit lauter Stimme und richtete sich auf.



„Du glaubst also wirklich, dass...“



„Es ist besser, ihr schnallt euch jetzt an. Ich habe keine Zeit mehr für sinnloses Gerede“, unterbrach sie Hillmann, der sich mittlerweile wieder gesetzt hatte.



„Ich muss zurück in den Kontrollraum und den Steuermann bei seiner Arbeit unterstützen“. Dann verschwand Linda Stellwort und ließ die beiden Männer mit enttäuschtem Gesichtsausdruck zurück, die sich schließlich einander wie erstarrt ansahen. Auf einmal fühlten sie sich näher, als in den etlichen zurück liegenden Jahren, die sie miteinander auf der PEGASUS verbracht hatten.



„Das könnte diesmal schief gehen. Ich habe keine gutes Gefühl, wenn Linda so redet“, sagte Lee Energie.



„Mir geht’s wie dir, Lee. Los, schnallen wir uns an. Tun wir lieber, was Linda von uns verlangt hat. Sie weiß es besser...“



Steve Hillmann versank fast im Andrucksessel, als er den gelbleuchtenden Sensorknopf für die Sitzverriegelung aktivierte, die sich leise surrend von der Seite über seinen Körper schob. Nur ein kleiner Sehschlitz blieb nach vorne offen. Lee Energie tat es ihm nach. Keine Sekunde zu spät. Der Sensorknopf leuchtete jetzt tiefrot auf.



Wieder erzitterte das Raumschiff.



Die beiden Männer schlossen die Augen. Die schwarzgraue Leere ringsherum schien wie eine zähe plastische Masse auf sie zuzukriechen. Sie kam immer näher, so nah, als wollte sie über den Wandbildschirm in den Raum vordringen.



Ein weiteres Mal ging ein heftiges Zittern durch das gesamte Schiff. Der Heulton hatte sich in ein hässliches Knirschen verwandelt.



„Das war’s wohl. Wir sind geliefert“, schrie Lee Energie und rutschte noch tiefer in den Andrucksessel.



Das Licht erlosch. Die Notbeleuchtung schaltete sich kurz darauf automatisch ein, die den Raum aber nur diffus erhellte.



Die Männer warteten angespannt.



Dann wurde es abermals schlagartig dunkel. Danach Stille, nichts als Stille...





***





Das riesenhafte Sternenschiff kam wieder aus dem Zerrfeld heraus. Es geschah ganz ohne Vorwarnung. Es kehrte einfach aus dem Nichts in den normalen Raum zurück, der sich der Besatzung wie einen dunklen See, in dem Millionen von Sternen winzig leuchtende Inseln bildeten, explosionsartig präsentierte. Das Ächzen und Stöhnen der Außenhaut des Raumschiffes hatte von einer Sekunde auf die andere ebenfalls nachgelassen. Alles war in eine tiefe, wohltuende Ruhe gebettet.



Das Normaluniversum war irgendwie freundlicher als das, was sie hinter sich gelassen hatten. Es war ein unendlicher Ozean aus Milliarden von Galaxien, unzähligen Sonnen- und Planetensystemen, das ihnen aber nichtsdestotrotz völlig vertraut vorkam, weil dieses Universum eben auch den Menschen hervorgebracht hatte. Sie waren die Kinder der Sterne und ihre Heimat war die Mutter Erde.



Der gewaltige Sternenraumer flog fast mit Lichtgeschwindigkeit durch die Tiefen des Alls. Die PEGASUS war wie eine gigantische Kugel geformt und wurde von einem dicken wulstigen Ring in der Mitte umschlossen, was ihre Stabilität ungemein erhöhte. Sie besaß durch diese außergewöhnliche Konstruktion eine bemerkenswert hohe Belastungsfähigkeit.



Doch das dahin rasende Raumschiff hatte noch einen weiten Weg vor sich.



Als die Andrucksessel die Sitzverriegelungen wieder öffneten, war Lee Energie der erste, der was sagte.



Hey, Hillmann! Was ist mit dir? Lebst du noch?“ fragte er mit ironisch-sarkastischem Ton in der Stimme.



„Ja“, gab dieser zur Antwort. „Ich gehe mal davon aus, dass wir wieder im normalen Raum sind.“



Das Geräusch der Antimaterietriebwerke tief im Innern der PEGASUS verwandelten sich sukzessive in ein stetiges, pulsierendes tiefes Brummen. Es wirkte äußerst beruhigend auf die beiden Männer.



Die Tür glitt plötzlich zischend auf. Linda Stellwort erschien auf der Bildfläche und erkundigte sich nach dem Befinden der beiden Crewmitglieder. Als sie eine positive Antwort bekam, ging sie sofort wieder zurück in den Kontrollraum.



„Die hat es aber eilig gehabt. Linda zeigt nie gerne, was sie hat“, mokierte Steve Hillman und sah zu seinem Kollegen hinüber.



„Ach was, du redest Unsinn“, sagte Lee. „Schau lieber nicht soviel auf ihre natürlichen Üppigkeiten. Sie trägt zusammen mit dem Steuermann eine große Verantwort für das Schiff und seine Besatzung. Außerdem muss sie jetzt wieder nach Planeten suchen, die wir ansteuern können. Was meinst du, ob wir diesmal etwas finden werden?“



Steve Hillmann hob langsam den Kopf.



„Ich hoffe es, Lee. Du weißt doch selbst, wie viele Planeten wir schon angelaufen sind und wie viele Raumschiffe von uns schon den Versuch unternommen haben, eine neue lebensfreundliche Welt zu finden, die unsere Kolonisten dann besiedeln können. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt, mein Freund. Denk’ immer daran!“



Lee Energie lächelte jetzt etwas gequält. Dann ging er spontan auf Steve Hillman zu.



„Kommst du mit in den Kontrollraum? Wir schauen uns einfach mal ein bisschen um.“



„Ok, Lee. Gehen wir. Hauptsache ist, dass keine Langeweile aufkommt...“



Die beiden Männer verließen den Entspannungsraum und gingen langsam den tunnelförmigen Korridor entlang zum Kontrollraum – und während der ganzen Zeit durchschwebte die PEGASUS mit annähernder Lichtgeschwindigkeit den tiefschwarzen Raum auf der Suche nach neuen Sonnen und neuen Welten. Vielleicht würden sie da draußen eine Antwort auf ihre Probleme finden, denen sie alle gegenüberstanden und die bald einer Lösung zugeführt werden mussten.



Sie hatten nicht ewig Zeit.



***



Im Kontrollraum der PEGASUS herrschte eine völlig andere Atmosphäre als im übrigen Schiff. Es lag eine angespannte Ruhe in der Luft, die sich sogar auf den Kapitän übertrug. Hier ruhte man sich nicht aus, sondern suchte mit hochempfindlichen Langstreckenscannern unermüdlich nach auffälligen Sonnensystem und Planeten, die erdähnlichen Charakter aufwiesen.



„Wir haben einen Planeten gefunden, dort am Rande der spiralförmigen Galaxie“, sagte der Kapitän auf einmal zu den beiden Männern und wies auf den Hauptbildschirm, der so große wie eine Kinoleinwand war.



„Ist das die ganze Ausbeute?“ fragte Steve Hillman seinen Kapitän, dessen Namen in großen gelben Buchstaben über der linken Brusttasche prangte: Kapt. Charles Palmer.



„Im Augenblick, ja“, sagte der Kapitän beiläufig und befahl, die Schutzverkleidung hochzufahren.



Das Raumschiff stieß weiter vor. Von Sternen umgeben durchschnitt es mit dreiviertel Lichtgeschwindigkeit unvorstellbare Dimensionen, immer dem Licht einer hellen Sonne entgegen, die von einem blinkenden grünen Kreis im Koordinatensystem umgeben war und Stück für Stück näher kam, sodass sie bald den ganzen Bildschirm ausfüllte.





***



Eine unbestimmte Zeit später.



Weit unter der PEGASUS drehte sich eine braungrüne Welt, die der vierte Planet eines gigantischen Zentralgestirns war. Es war eine heiß flimmernde Sonne, ähnlich die der Erde.



Im Kontrollturm blickte Kapitän Palmer auf den mittleren Bildschirm. Nach einer Weile gab er Anweisungen an seinen Steuermann, noch weiter runterzugehen.



Der gewaltige Kugelraumer ging nieder, sank aus der endlosen Nacht des Universums in ein freundliches, helldünnes Blau. Er schwebte über ein rollendes Meer weißer Wolken, durch helle Sonnenstrahlen und heftige Stürme an fernen Horizonten, die sogleich wieder davon rückten, wenn man sich ihnen näherte.



Die PEGASUS fauchte über schneebedeckte Berge dahin. Ihre riesenhaften Antimaterietriebwerke donnerten über einsame Inseln und scheuchten ganze Scharen von Vögeln auf. Sie brauste über Kontinente hinweg, flog über Wüsten, spärlich vorhandene, grüne Wiesenlandschaften und strich über die Wipfel hoher Bäume, die sich im Wirbelwind ihrer Triebwerke bogen wie elastische Gummistangen.



Kapitän Palmer starrte die ganze Zeit auf die Rundumbildschirme seines Kontrollraumes Er rührte sich nicht vom Fleck. Sein Gesichtsausdruck verriet keinerlei Gefühlsregung. Ab und zu spannten sich seine Kaumuskeln, wenn er gedankenverloren auf die Zähne biss.



Schließlich wandte er sich an Steve Hillmann, der immer noch neben ihm stand.



„Was schlagen Sie vor, Mr. Hillmann. Sie sind doch Anthropologe und wissen besser als ich, wo wir mit unseren Untersuchungen beginnen sollen.“



Der Anthropologe sah auf die Seite eines elektronischen Blockes, der mit dem Zentralcomputer vernetzt war. Die Außenkameras lieferten gerade einige Bilder. Dann nickte er und gab dem Steuermann per internen Sprechfunk die Koordinaten für die Stelle durch, die er als optimal für die PEGASUS und seine eigenen Nachforschungen erachtete.



Das Raumschiff brauste auf den Ort zu, den Hillmann durchgegeben hatte. Der Autopilot drehte es in Position, fuhr die wuchtigen Landestützen hydraulisch heraus und das Schiff setzte zur Landung an.



Danach herrschte absolute Stille. Jedenfalls für eine gewisse Zeit.



Die Atmosphäre wurde ausgiebig getestet und nach einer Weile stellte sich heraus, dass sie für Menschen soviel Sauerstoff enthielt, dass man sie gefahrlos einatmen konnte. Trotzdem war Vorsicht geboten.



In einem zweiten Schritt wurde die große Ausgangsluftschleuse aktiviert und der Anthropologe Steve Hillmann verließ zusammen mit seinem Helfer Lee Energie die kleine Sicherheitsdruckkammer, als sich die schwere Schleusentür zischend öffnete. Sicherheitshalber setzten sich beide vorher noch Gesichtsmasken auf, die, sollte sich die Luft des fremden Planeten als überwiegend frei von Bakterien und Sporen herausstellen, immer noch abgenommen werden konnten.



Die übrige Crew, samt Kapitän, blieben im Schiff zurück.



Die kreisrunde Transportplattform senkte sich laut surrend herab und blieb ein paar Zentimeter über dem Planetenboden stehen. Die beiden Männer entsicherten das Geländer und betraten nacheinander den hellen Wüstensand, der sich vor ihnen bis zum weiten Horizont ausbreitete. Einen Augenblick lang standen beide still und bewegungslos da. Sie lauschten wie zwei wachsame Späher. Doch da war nichts, was Annahme dazu bot, dass es gefährlich werden könnte.



Das einzige, was es hier gab, war das leise Seufzen des Windes, der über die unendlich erscheinende Wüste strich. Es war das unheimliche Seufzen eines Windes, der sicherlich schon jenes Meer gesehen hatte, das einmal diesen Wüstenboden vor längst vergangener Zeit bedeckte und nun Geräusche von rauschendem, rieselndem und gleitendem Sand verursachte.



Die Sonne hing warm und friedlich am blauen Himmel. Ein paar Wolken zogen vorbei, deren Schatten über den gelben Sand huschten wie einsam fliehende Gespenster.



Die Geräusche dieser Welt waren jene des Todes – das trockene Flüstern des Windes, der davon erzählte, dass einst üppiges Leben hier geherrscht hatte, das aber längst untergegangen war. Nur Reste der Tier- und Pflanzenwelt waren noch übrig geblieben, die sich jetzt unter den äußerst hart gewordenen Umweltbedingungen verzweifelt durchs Leben quälten.



„Wohin wir auch kommen, überall nur vom Tod gezeichnete Welten“, dachte Steve Hillmann halblaut vor sich hin und schritt vorwärts. Lee Energie folgte ihm dichtauf.



Im Gänsemarsch trotteten sie langsam vorwärts durch den heißen Sand. Hinter ihnen thronte der Kugelraumer PEGASUS in einem Land der Einsamkeit und des Verlorenseins.



Vor ihnen, im nackten heißen Wüstensand, warteten gähnend und still die Ruinen einer Stadt auf sie – oder was von ihr übrig geblieben war. Den neuesten Forschungsergebnissen nach lebten hier einmal Abkömmlinge der Menschen, wie auf allen übrigen Planeten auch, die sie auf ihrer langen Reise durch All untersucht hatten.



***





Der Anthropologe keuchte vor Anstrengung und dachte gleichzeitig darüber nach, wie sich die Traurigkeit von unzählig vielen Jahrtausenden wohl beschreiben lässt. Auf dem Friedhof der Menschheit stehen wohl unzählige Grabsteine, aber welche Inschrift soll man auf jenen gewaltigen Grabstein setzen, der im Zentrum ihres Gedenkens steht und davon heroisch künden soll, dass es sie, die Menschheit, einmal in Raum und Zeit gegeben hat?



Steve Hillmann sah zu Lee Energie rüber, der jetzt mit seinen plumpen Füßen durch die Ruinen stampfte. Der Anthropologe fragte sich, warum sein Helfer keine Geister sehen konnte, jene Geister, die einmal Lebewesen aus Fleisch und Blut gewesen waren, so wie sie beide, die jetzt hier durch die Ruinen einer einstmals blühenden Stadt streiften, um sie zu untersuchen. Lee war eben gänzlich ohne Fantasie, ein reiner Daten- und Messtechniker, dem es nur auf das Hier und Jetzt ankam. Mehr nicht.



Aber einst waren hier Menschen entlang gegangen, dachte Steve nachdenklich. Hier gab es mal grünes Gras in wundervoll angelegten Parks, hohe Bäume, geschäftiges Treiben von Menschen mit glücklichen, fröhlichen, traurigen, schönen oder hässlichen Gesichtern, eben ein immer wieder kehrendes Bild einer Menschheit, die es gewagt hatte, von der Erde aus das Universum zu erobern. Wenn die Menschen doch nur auf der Erde geblieben und nie in den Weltraum hinausgegangen wären. Wenn sie doch niemals ihrer inneren Sehnsucht nach fremden Welten gefolgt wären, eine schier grenzenlose Sehnsucht, die sie dazu trieb, mit riesigen Raumschiffen ihren Mutterplaneten zu verlassen, den sie wie kleine Kinder ihre Erde nannten und die sie niemals mehr wiedersehen würden.



Plötzlich riss Lee Energie den Anthropologen aus seinen tiefen Gedanken.



„Hey Steve, ich habe hier etwas gefunden. Sieht aus wie eine Bibliothek oder so etwas ähnliches. Komm’ her und schau dir das mal an!“ rief sein Helfer mit lauter Stimme.



„Ist ja nicht zu fassen. Eine Bibliothek? Ich komme gleich zu dir rüber und sehe mir das mal etwas näher an“, antwortete der Anthropologe und stiefelte los.



Sie kletterten über eine eingestürzte Mauer hinein in einen hallenähnlichen Raum. Als die Dunkelheit zunahm, schalteten sie ihre Helmscheinwerfer ein, die mit ihrem Lichtkegel die Umgebung gut ausleuchteten. Ihre Schritte hallten auf dem Steinfußboden durch die still da liegenden Räume und Gänge. Hinter ihnen bildeten sich bei jedem Schritt kleine Staubwolken.



„Das ist ja interessant“, sagte Steve Hillmann überrascht. „Hier liegen überall Bücher herum. Keine Merkmale für einen Brand oder so. Wahrscheinlich sind die Bewohner an einer Seuche gestorben. Es ist immer das Gleiche. Wohin wir auch kommen, die Menschen leben ein paar Tausend Jahre mehr oder weniger lange auf ihrem neu entdeckten Planeten und sterben dann unerwartet innerhalb weniger Jahre auf einmal entweder an irgendwelchen Seuchen oder werden vom Krebs zerfressen. Am Anfang dieses Prozesses wird dabei zuerst ihre innere genetische Zellstruktur zerstört und es gibt keine Rettung mehr für sie, auch dann nicht, wenn die Krankheit rechtzeitig erkannt worden ist. Irgendein wichtiger Schalter bei der Kontrolle der Zellteilung funktioniert bei den Kolonisten plötzlich nicht mehr. Die gesamte Bauanleitung, nach denen der Körper seine Proteine herstellt, wird offenbar durch eine noch nicht entdeckte biochemische Ursache fundamental gestört. Das erscheint mir irgendwie unheimlich, weil dieses Krankheitsbild bisher noch auf jede besiedelte Welt aufgetreten ist, nur auf der Erde nicht.“



Lee Energie zuckte mit den Schultern, als er sich die theoretischen Ausführungen des Anthropologen mit anhören musste. Von diesen Dingen hatte er nun wirklich keine Ahnung. Er war ausschließlich nur für das genaue Protokollieren der Untersuchungsvorgänge zuständig und hatte dafür seine elektronischen Hilfsgeräte, die mit dem Zentralcomputer der PEGASUS per Funk ununterbrochen in Verbindung standen, um die gewonnen Daten zeitgleich abzuspeichern.



Dann fiel Lee Energie etwas auf, das direkt vor seinen Füßen lag.



Es war ein dickes, verstaubtes Geschichtsbuch, das in einer luftdicht abgeschlossenen, transparenten Metallkiste lag.



Sofort rief er seinen Kollegen Steve Hillmann zu sich, der den kompakten Behälter an sich nahm, den Verschlussmechanismus entriegelte und das Buch vorsichtig herausnahm.



Er hatte ein wenig Sprachforschung betrieben, genug jedenfalls, um beurteilen zu können, was er vor sich hatte. >Das ist die Geschichte des Planeten LAMHUR-LAH, der von den Menschen im Jahre 4125 nach Christi Geburt besiedelt wurde.<



Das Buch selbst, mit dem massiven Seitendeckel aus einem für Hillmann noch unbekannten, verrottungsfreien metallischen Material, war nur rein äußerlich ein Buch, in dessen Innern sich ein kleiner aber äußerst leistungsstarker Holocomputer im Miniformat befand, der beim Öffnen des Deckels in Betrieb gesetzt wurde. Er kannte vieler solcher Holocomputer, die es in großer Zahl und in den unterschiedlichsten Bauweisen überall im Universum auf den weit verstreuten Kolonistenplaneten gab. In ihnen wurde die gesamte Geschichte eines Planeten in kristallinen Datenspeichern konserviert. Da war so üblich.



„Wir sollten das Ding mitnehmen und untersuchen lassen. Wenn du den Buchdeckel öffnest, könnte die holografische Darstellung Schaden nehmen“, sagte Lee zu dem Anthropologen.



„Das Gerät wird von einer komprimierten Materiebatterie betrieben. Die hält viele hundert Mal solange wie ein Menschenleben. Ich möchte wenigsten einen kleinen Blick hineinwerfen. Das Ding wird mit Sicherheit noch funktionieren“, sprach der Anthropologe, hob sogleich den metallenen Buchdeckel an und legte ihn behutsam um.



Im gleichen Moment baute sich ein zuckendes Bild in heller weiß-bläulicher Farbe auf, das ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht eines alten Mannes mit grauweißen Haaren darstellte. Seine müde gewordenen Augen schweiften wie abwesend in die Ferne, seine trockene Zunge mühte sich mit Worten ab, die bestimmt nicht seinem Wesen entsprachen und wohl auch nicht seiner Sprache angehörten. Sie klang ein bisschen wie das Englisch, das man auf Terra schon seit Abertausenden von Jahren sprach. Er versuchte eine traurige Geschichte zu erzählen, die jenseits allen Erzählbarem lag, die sich über einen unendlich tiefen Abgrund hinweg streckte, der nicht überbrückt werden konnte.



„Wir sind Kinder des Planeten Terra und landeten mit drei Sternenschiffen auf dem Planeten LAMHUR-LAH im Jahre des Herrn 4125. Vorausgegangen waren intensive Untersuchungen aus dem Orbit heraus, die sich mit der gesamten Biosphäre unserer neuen Welt befassten. Der Planet besaß einen erdähnlichen Charakter. Wir freuten uns natürlich sehr darüber, verhieß LAMHUR-LAH doch eine großartige Zukunft für uns. Schließlich setzte man uns mit allem ab, was nötig war, um in einer neuen Welt überleben zu können. Die drei Raumschiffe verließen uns bald wieder. Unsere neue Zivilisation entwickelte sich anfangs außerordentlich gut. Die Zahl der Kolonisten erhöhte sich in den ersten dreihundert Jahren nach der Besiedlung des Planeten ungemein stark. Bald überschritten wir die zwanzig Millionen Grenze, trotz der Anhäufung seltsamer Todesfälle, die uns immer mehr beunruhigten. Wir hatten zuerst keine Ahnung, woran unsere Leute starben und untersuchten schließlich ihre toten Körper, die aber schnell von einem unheimlichen Virus regelrecht aufgefressen wurden, obwohl wir sie tiefgefroren hatten. Die unbekannte Seuche griff aber dann schnell um sich, bevor wir gegen sie etwas unternehmen konnten. Die Bevölkerung auf LAMHUR-LAH geriet bald in Panik und versuchte sich in abgeschotteten Bunkern zu retten. Aber das Virus war intelligent und drang durch die Belüftungsschächte ins Innere der unterirdischen Stationen ein. Auch ich, Mental Surrok, habe mich in einem hermetisch abgeriegelten Raum begeben. Ich habe nur noch wenig Proviant und werde bald an Hunger und Durst sterben. Ich habe aber vorher noch diese Zeilen geschrieben, in der Hoffnung, dass sie eines fernen Tages von jemanden gefunden werden. Das unbekannte Virus ist äußerst gefährlich, aber wir hatten keine Chance, gegen diese aggressive Seuche schnell ein Gegenmittel zu finden. Vielleicht kommen nach uns Raumfahrer, die den Planeten LAMHUR-LAH betreten werden, um das unbekannte Virus zu bekämpfen. Ich hoffe...“



Steve Hillmann klappte den Metalldeckel abrupt wieder zu und verstaute das Buch in seinen wasserdichten Rucksack, den er neben sich aufgestellt hatte.



„Gehen wir, Lee! Ich nehme das Buch als wichtiges Dokument mit. Es wird uns über den Ablauf der Geschichte der Kolonisten auf diesem Planeten umfassend aufklären. Ich bin froh darüber, dass uns dieser Fund gelungen ist. Außerdem werden wir verschiedene Bodenproben mitnehmen, um das Virus ausfindig zu machen, damit wir es untersuchen können. Bisher haben wir noch alle Seuchen unter Kontrolle bringen können.“



„Wir haben noch ein wenig Zeit, Steve. Wir könnten uns noch etwas umsehen, bevor wir den Rückweg antreten müssen. Hast du das Denkmal draußen auf dem Platz gesehen. Es sieht fast unberührt aus. Ich...“



„Wir gehen zurück zum Schiff. Wir haben die Stadt von der PEGASUS aus fotografiert. Alles in dreidimensionaler Qualität. Du kannst es von mir aus dann solange lange betrachten, wie du willst. Aber jetzt beenden wir hier unsere Mission und ziehen ab“, antwortete Hillmann kühl.



Lee Energie zuckte auch diesmal wieder mit der Schulter, wie immer in solchen Fällen, wenn sein Kollege das letzte Wort hatte. Er war nun mal der Chef.



Als sie fertig waren, kehrten sie auf dem gleichen Weg durch die zerstörten Straßen, Wege und Plätze der Ruinenstadt in den gelben Sand der trockenen Wüste zurück. Ein heftig aufkommender Wind spielte um ihre nachdenklichen Gesichter, blies durch die eingestürzten Mauern, wimmerte wie ein heulendes Kind in den zerfallenen Gebäuden und pfiff durch die schwarzen Löcher, die einst vor langer Zeit Fenster gewesen waren.



Als sie endlich wieder vor der PEGASUS standen, eilten sie zur Luftschleuse, denn es wurde schon Nacht auf dem Planeten LAMHUR-LAH, die sehr schnell hereinbrach.



In der geschlossenen Schleuse entledigten sie sich der Spezialanzüge, die sandige Luft wurde hinaus gepumpt und ihre nackten Körper mit einer desinfizierenden Flüssigkeit eingesprüht und schließlich alles aus dem Raum nach draußen durch eine kleine, röhrenartige Panzerschleuse einer menschenleeren Welt zurückgegeben, die sie nicht mehr benötigte. Die saubere, etwas angefeuchtete Luft im Innern des Schiffes empfing sie mit einer wohltuenden Wärme. Mit einem der zahlreich vorhandenen Fahrstühle ließen sie sich nach oben in den Kontrollraum der PEGASUS befördern.



***



Als Steve Hillmann und Lee Energie auf den Raumschiffkommandanten Charles Palmer zugingen, gab dieser gerade den Startbefehl für die PEGASUS an den Steuermann durch. Kaum war er damit fertig, drehte er sich auch schon um und sagte zu ihnen: „Wir starten in ca. dreißig Minuten. Übrigens, sie haben gute Arbeit geleistet, meine Herren. Ich kann sie nur beglückwünschen. Das Artefakt wird uns bestimmt eine Menge lehrreicher Informationen liefern. Schade ist nur, dass wieder eine Welt der Kolonisten zerstört worden ist. Ich frage mich immer wieder, wie die Chancen für unser eigenes Überleben stehen, hier draußen in den unendlichen Weiten des Universums. Mutter Erde ist anscheinend nicht damit einverstanden, dass sich ihre Kinder auf Nimmerwiedersehen auf und davon machen und andere Planeten besiedeln. Aus diesem Grunde werden wir uns jetzt auf den Nachhauseweg machen“, fuhr der Kapitän fort. „Ein großer Irrtum tut sich hier anscheinend auf. Die Frage ist meiner Meinung nach, ob wir weiterhin Planeten kolonisieren sollen oder nicht? Aber das überlasse ich unseren zuständigen Experten, den Exobiologen. Die sollen sich mit diesem Problem herumschlagen. Nun, bisher haben sie allerdings immer eine Lösung gefunden.“



Der Kapitän entließ die beiden Männer und nahm Platz in dem Kommandosessel. Der Start stand kurz bevor. Die gesamte Crew traf ihre Sicherheitsvorbereitungen und verfolgten aufmerksam die Startsequenz.



Die PEGASUS, deren Besatzung für kurze Zeit wieder menschliches Leben auf den Planeten LAMHUR-LAH zurück gebracht hatte, stand mit ihren wuchtigen Landestützen auf dem nächtlichen Wüstensand, eingehüllt von der stillen Dunkelheit einer warmen Sommernacht.



Draußen fegte der Wind um die Außenhülle des Sternenschiffes. Dann schossen auf einmal kochende Flammen aus den Antimaterietriebwerken des Kugelraumers und ein donnerndes Grollen erschütterte weithin den Boden und die Stille der Umgebung.



Schließlich hob das gewaltige Raumschiff ab und das Grollen dämpfte sich zu einem fernen Rauschen, das sich bald irgendwo zwischen Sternen verlor.



Das Schweigen kehrte zurück auf den Planeten LAMHUR-LAH.



Oben, am dunklen Firmament, raste ein heller Punkt mit hoher Geschwindigkeit hinaus ins All.



Dann war das gewaltige Raumschiff PEGASUS plötzlich verschwunden.





ENDE





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Kommentare zu "Die Geschichte der Kolonisten des Planeten LAMHUR-LAH"

Re: Die Geschichte der Kolonisten des Planeten LAMHUR-LAH

Autor: Michael Dierl   Datum: 13.09.2022 19:13 Uhr

Kommentar: Hallo, Du/Sie haben einen sehr plastische Erzählstil - gefällt mir. Ich habe einige Passagen gelesen. Konnte nicht alles lesen, weil ich keine Zeit dafür haben - leider! Aber wenn ihre anderen Geschichten ähnlich geschrieben sind dann muß ich ihnen ein großes Lob aussprechen. Es kommt keine Langweile auf in ihrer Geschichte auch macht sie gleich Spass zu lesen. Wenn ich jetzt viel jünger wäre und hätte mehr Zeit wüßte ich was ich jetzt täte! Ich habe selbst bisher nur Kurzgeschichten geschrieben weil ich es sinnvoller erachte. Auch mein Roman wird nicht so lang. Vielleicht nur so lang wie ein Comicheft. Also 30 Seiten. Einen riesen Schmöker will heute kaum noch jeamand lesen. Ich habe z.B. alle Winnetou Bücher gelesen. Für eines brauchte ich damals ca. 2-3 Tage. Egal wo ich war das Buch war immer dabei. Auch in den Schulpausen.

lg Michael

Re: Die Geschichte der Kolonisten des Planeten LAMHUR-LAH

Autor: Heiwahoe   Datum: 13.09.2022 19:40 Uhr

Kommentar: Hallo Herr Dierl!

Mittlerweile bin ich 73 Jahre alt, habe mit meiner Frau zusammen vier Kinder großgezogen, davon haben drei studiert und einen akademischen Grad erreicht. Für das Geld, was meine drei Jungs gekostet haben, hätte ich mir zwie Häuser kaufen können.

Doch jetzt mach etwas anderes.

Ein Kurzgeschichte hat in der Regel bis zu 30 Buchseiten (meist weniger). Ein genauere Regel dafür gibt es aber nicht. Wichtig ist die Kreativität, der z. B. in Science Fiction oder Fantasie Geschichten keine Grenzen gesetzt sind.

Ich persönlich muss aber auch zugeben, dass es nicht immer leicht war und ist, eine gelungene Kurzgeschichte zu schreiben. Daher freut es mich natürlich, wenn meine Leserinnen und Leser die eine oder andere Geschichte gefällt.

Heute schreibe ich weniger, weil mir die Covid-19-Pandemie gesundheitlich zugesetzt hat. Es wird nur langsam besser. Ich hätte nie gedacht, nach 52 Jahre harter Arbeit, mal so etwas mitzumachen. Ich bekomme manchmal eine echte Wut auf unsere verblödeten Politiker, die ich persönlich für Verbrecher halte. Da will man es gut machen und bekommt am Ende nur noch Tritte in den Arsch. Das Leben scheint wohl kein Zuckerschlecken zu sein.

Ihne noch alles Gute eine eine schöne Zeit. Nutzen Sie die Ihnen geschenkte Zeit gut aus, denn sie ist kostbar und kommt nicht mehr zuück.

Ihr

Heiwahoe

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