Der 4. Tag
ist der Tag der Mysterien.

6 Zwerge (5 Zwerge und ein Troll) holen sich den weisen Rat eines großen, toten Mannes. Obwohl der große Mann tot ist kann er sich noch artikulieren. Seine Stimme kommt aus vielen Kehlen und erschallt in einer Arena aus Stein, die wie ein riesiges Megaphon in Richtung Weltall weist. Darin stehen seit Jahrhunderten die Propheten des toten Mannes um eine Botschaft zu verkünden. Ungefähr 16 000 Zuhörer sind gekommen, aber nur 7 werden sie letztlich verstanden haben, das sind wir, die 6 Zwerge (5 Zwerge und ein Troll) - und eine bezaubernde, junge Frau.

2 Boxen haben wir mitgebracht. In der einen befinden sich Zwerg Hansis letzte Wurstreserven, in der anderen – sie ist aus Glas – streckt sich Schneewittchen, die von der geballten Wucht kultureller Ausstrahlung geblendet werden soll. Vielleicht, vielleicht wird sie dann eines Tages eines der ganz wenigen Schneewittchen werden, die ihre Welt durchschauen und erwachen.

Die Botschaft des toten Mannes ist romantisch verklärt, ja geradezu verschlüsselt. Ihr Inhalt muss entweder so gigantisch oder ganz einfach nur so logisch sein, daß sie keiner mehr hören will. Aus diesem Grund kann ihr Inhalt auch nicht gesprochen werden. Er wird gesungen! Und weil er gesungen wird erfreuen sich die Ratsuchenden in der Arena daran. Sie erscheinen mit wissbegierigen Gesichtern, die sich mit der Zeit in verschlafene verwandeln werden. Sie erscheinen in Frack und Abendkleid, die zerknittert ihre Heimreise antreten werden – und sie erscheinen mit Zipfelmützen, deren Volumen über dem Kopf genug Platz für neue Gedanken lässt.

Ca. 16 000 Kerzen beschwören den Geist der Liebe und das erste Orakel beginnt zu singen. Ein in die Arena eingeschwebtes Glühwürmchen unterstreicht die Anbetung der Sehnsucht, doch dann kommt eine Fledermaus, unsichtbar wie ein Omen. Und doch ist sie ebenso vorhanden wie ihr Orientierungssystem in einem – für Zwergenohren – unhörbaren Frequenzbereich. Zwerg Milan spricht das Orakel leise mit....

„Eine Sklavin betet um ihren Geliebten, der gleichzeitig ihr Herr, ein Feldherr ist. Dieser Feldherr zieht gegen ihre Familie“ – um eine eigene zu gründen. Letzteres kommt aus dem unhörbaren Frequenzbereich der Fledermaus. Doch das Würmchen in ihrem Maul glüht noch. Mit ihm ist die Kraft und die Herrlichkeit aller Herzen. Unbesiegbar erleuchtet es die Schlucht der Vernunft.

Fanfaren hellen die Stimmen der Sänger auf. Ein Triumphmarsch beginnt, – und wir hören den Ultraschall – der den Sieg der Liebe über die Gefangenschaft in einer lethargischen Kindheit verherrlicht, die anscheinend nur im Warten auf die Geschlechtsreife bestand.

Das flüstert die Fledermaus Zwerg Siggi ins Ohr, der nun ebenfalls informiert das Orakel der Sänger bespricht. Tosender Applaus brandet von den Rängen des Trichters auf und gibt beredte Kunde davon, daß sich keiner so recht angesprochen fühlt. Zwerg Hansi, dem man eher zugetraut hätte zu schnarchen, rührt das beinahe zu Tränen, während Schneewittchen vom siebten Zwerg zu träumen beginnt.
Unten, auf dem Präsentierteller verschlüsselter Botschaften, der Bühne, hat die Sklavin dem Herrn über ihre Liebe inzwischen das Geheimnis seiner Stärke entlockt und ihrer Familie preisgegeben. Die Falle schnappt zu! Der allseits bekannte Freund festgefügter Verbindungen, ein Priester, betritt die Bühne und macht, als dunkler Knecht dogmatischer Glaubensvorstellungen, aus dem Verrat ein gesetzliches Ritual. Unter dem Vorwand der Verherrlichung schönster Illusionen schmiedet er die Liebenden aufs Engste zusammen indem er dämliche Fragen stellt ( „how deep is your Love?“ ).

Die Fledermaus schluckt das Glühwürmchen und ihr Herz beginnt für kurze Zeit aufzuleuchten. Inzwischen ist aus dem Herrn der Liebe ein Sklave der Gesellschaft geworden, der fortan nicht mehr dem Objekt der Begierde, sondern einer Königstochter folgen soll, deren Macht über ihn, ihm schier unbegrenzt erscheint.

Weit, weit hinten, direkt unter der großen Kulisse, im Rücken der Ratsuchenden, ertönt eine mächtige Stimme. Ist es die Stimme der Allgemeinheit die ruft „bravo, bravissimo“?

Der ehemals so siegreiche Mensch auf dem Felde komplizierter Überlebensstrategien sieht sich von Speeren umringt. Die Königstochter will er nicht – er denkt an seine einziges Idol, die Liebessklavin, er bleibt in Treue zu seinen erotischen Phantasien ganz fest und gerade deshalb führt man ihn (er sich), in Gestalt vieler namenloser Soldaten, ab. Er schließt sich ein, kapselt sich ab von der freien Welt. In einer Pyramide aus festgefügten Vorstellungen, die mit der Zeit verhärten und aussehen als seien sie unüberwindliche Steinquader geworden. Die Schwärze der inneren und der äußeren Einsamkeit bricht über ihn herein – und eigentlich ist die Oper, pardon, die Weissagung jetzt zu Ende. Würde die Masse der Ratsuchenden an dieser Stelle nicht in völliger Enttäuschung zerbrechen, gäbe es keinen weiteren Akt sprühender Hoffnungen mehr. Doch der große tote Mann auf dem Grund der Arena hatte ein Einsehen. Sein Zauber lässt zwei Stimmen ertönen. Eine große Klappe geht auf und darin erblicken wir den ehemals siegreichen Herrn einfach gekleidet und seine – ihm nun völlig gleichgestellte – ehemalige Gespielin. Sie spielen nicht mehr. Ihre Lage ist ernst. Sie haben sich lebendig begraben und sich zufrieden in die Folgen einer Partnerschaft ergeben, deren einstiger Abglanz nun wieder, von weiteren, sporadisch einfallenden Glühwürmchen verkörpert wird. Ihr Entwicklungsprozess ist abgeschlossen!

Die Fledermäuse und ihre Zeichen im, für Zwergenohren nicht mehr wahrnehmbaren Frequenzbereich, meiden jetzt die Arena. Der donnernde Applaus hilfloser Zustimmung, sowie die begeisterten Ausrufe vieler lebendig Begrabener haben sie vertrieben.

Das Licht geht an, aber es ist nicht der Tag, der anbricht um das Bewusstsein zu erneuern, sondern künstliches Licht, als Hinweis für die verirrten Körper gedacht, die keine Spuren hinterlassen wollen. Sie wollen nur noch den Ausgang finden. Für sie ist es viel zu spät geworden - und kein Auge, kein Ohr und vorläufig auch keine Zipfelmütze nimmt ihn wahr, den Geist des toten Mannes, der groß in der Arena steht und lächelt. Seine Botschaft ist ausgesandt!

Die Zwerge nehmen Schneewittchen in die Mitte. Schwankend im Innern und schwankend nach außen befördern sie ihren Schatz (der im Kopf ist gemeint) zurück hinter die Hügelkette von ihrem Disneyland am glitzernden See. Dort warten sie auf den nächsten Tag.

Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 11

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 11"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 11

Autor: Michael Dierl   Datum: 30.08.2022 10:10 Uhr

Kommentar: Moin Alf, 7 von 16.000 haben es nur verstanden....erinnert mich an unseren Philosophieunterricht. Da hat auch jemand gesagt, dass von der Klasse allerhöchsten einer das kapiert was er sagt! Ich auch nicht! War nix für mich! Bin eher der Praktiker! Tolle Geschichte die Du da "ausgekramt" hast. Und Glühwürmchen bekommen eine mächtig Stellung in Deinem surrealen Roman. Gut so! Haben sie verdient hahahaaa.......kann ich mir alles sehr gut vorstellen! Toll geschrieben regt die Phantasie an! So soll's ja auch sein!

lg Michael

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 11

Autor: Sonja Soller   Datum: 30.08.2022 11:33 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,

man muss manches schon genau lesen, um zu erkennen. Auch surreale Geschichten beinhalten ein - mehrere reale Momente, vielleicht nicht beim ersten Lesen.
Etwas verwirrend, beirrend und phantasievoll geschrieben. Einfach gut!!!!

Herzliche Grüße aus dem trolligen Norden, Sonja

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 11

Autor: Alf Glocker   Datum: 31.08.2022 7:10 Uhr

Kommentar: Vielen Dank liebe Freunde

LieGrü
Alf

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