Der 2. Tag.

In unserem Disneyland am mediterranen See sind die Nächte kurz. Die Zwerge haben einen leichten Schlaf. Fast die ganze Zeit, die sie hier sind, haben sie, wenn es dunkel wurde, unter dem samtglänzenden Himmelszelt, an ihren Süppchen gekocht und dabei Schneewittchen bewundert, deren Körper sich hochedel streckt. Drei von ihnen hat ihre Anmut in eine Art Rauschzustand versetzt. Sie fallen in einen Traum.

Daß schöne Mädchen immer etwas Neues zum Anziehen brauchen träumen sie – und so fahren Zwerg Milan, Zwerg Thommy und meine Wenigkeit, der Troll, mit Schneewittchen in die Stadt. Melancholisch verschwindet der Strand unseres Disneylands im bläulichen Dunst. Bald steht Schneewittchen im ersten Geschäft. Sie lächelt nicht! Ihr Ausdruck ist gekonnt geschäftsmäßig geworden. Vor ihr prahlt der Spiegel mit ihrem Bild und hinter ihr drücken sich die Verkäuferinnen an die Kasse um sich wenigstens ein bisschen der Ausstrahlung ihrer ungewöhnlichen Kundin zu entziehen. Die Stirn der Schönen mit dem langen, tiefschwarzen Haar liegt jetzt in lustigen Falten. Sie dreht sich. „Wie steht mir das Top?“ Zwerg Thommy lächelt so breit wie der Froschkönig und stammelt: „Sehr gut Schmarrtina“. In der Aufregung hat er wohl die Namen verwechselt. Schneewittchen dreht sich ein zweites Mal. Nun präsentiert sie sich in einem knappen Bikini, was Zwerg­enaugen zum Leuchten bringt. „Phantastisch!“ hauchen Zwerg Milan, Zwerg Thommy und ein Troll im Chor, mit Lippen, die aussehen, als seien sie nur noch zu einem spitzen „Ohh“ fähig.

Einen ganzen Nachmittag träumen die Zwerge bis in den milden Abend hinein. Als sie erwachen fällt ihnen schlagartig auf, daß sie in der kommenden, sternlosen Nacht am See keine Süppchen mehr kochen können, denn sie haben vor lauter Begeisterung vergessen einkaufen zu gehen. Das gefällt ihnen zwar nicht, aber die Heftigkeit ihres Traumes hat sie fatalistisch gemacht. Sie zucken nur müde mit den Schultern und raunen sich aufmunternde Ausreden zu. Doch dann fällt ihnen ein, was Schneewittchen dazu sagen würde. Wie aus einer anderen Welt dringt ihre süße Stimme in ihren Sinn. „Kommt, da ist ein Supermarkt, da gehen wir rein!“

Am Ende sind die Zwerge heilfroh, ihre Pflichten doch noch erledigt zu haben.

Spät am Abend versammeln sie sich dann um Schneewittchens blühenden Leib. Doch was für ein Schreck?! Entsetzt muss ich, Troll Trolli, feststellen, daß Schneewittchens Nachthemd verrutscht ist. Hat sie der warme Wind zärtlich gestreichelt? Oder hat da einer von ihrem Tellerchen geschlemmert? Zwerg Milan, der dem Wesen aus Milchkaffee und Blut andächtig zu Füßen liegt hat ganz bestimmt nichts gesehen. Und im letzten Augenblick gelingt es dem sittsamsten aller Erdenwesen, mir selbst, mit einem gezielten Handgriff zu verbergen, was unverborgen doch so erfrischend sündhaft gewesen wäre. Dann bläst Zwerg Siggi die Kerzen aus.

Und das war der zweite Tag.

Manche Tage, manche Stunden, ja manchmal auch ganze Leben, fallen einer Betäubung anheim, die unheimlich wäre, wenn es nur dem Bewusstsein einmal gelänge bis zur Wirklichkeit durchzustoßen. Aber das gilt es zu verhüten, wenn man glücklich bleiben möchte und andächtig in eine Zukunft schauen, die für Männer meistens aussieht wie das berühmte Gemälde von Gustave Corbet Der Anfang der Welt“. Leider sollte der reizende Anblick einmalig bleiben…


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 9"

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 9

Autor: Sonja Soller   Datum: 28.08.2022 16:48 Uhr

Kommentar: Da fragt man sich wie es weitergeht?!

Herzliche Grüße aus dem gespannten Norden, Sonja

Re: Mein Leben als Troll (surrealistischer Zeitroman) 9

Autor: Alf Glocker   Datum: 28.08.2022 17:07 Uhr

Kommentar: es geht pikant weiter...

LieGrü aus dem entspannten Süden
Alf

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