"Ohne Träume sind wir verloren."

Heiwahoe



***


Draußen war es dunkel geworden.



„Ich hatte letzte Nacht einen Traum“, sagte das Mädchen Ahva zu ihrer Mutter.



Die Mutter blickte zum Halbmond empor. Sie zog den Kristall aus dem Lederbeutel und bewegte ihn hin und her, so dass sich das schwache Mondlicht in allen Farben des Regenbogens über das Gras ergoss. Überall funkelten jetzt bunte Halbmonde, die rasch über den abendlichen Grasboden dahin sausten.



Die Mutter sah dem farbigen Spiel der Lichter fasziniert zu. Erst als sich der Kristall ausgependelt hatte, wandte sie sich an ihre zwölfjährige Tochter.



„Deswegen musst du dich nicht ängstigen“, antwortete sie ihr und drückte Ahva mitfühlend die Hand. „Wir werden noch heute einen Weisen aufsuchen. Ich bin mir ganz sicher, dass er dich heilen kann.“



„Diesmal war es anders. Ich träumte von Krieg“, flüsterte das Mädchen. „Du weißt, was das bedeutet.“



„Nun, es bedeutet im Moment noch gar nichts“, sagte die Mutter. „Träume müssen nicht Wirklichkeit werden. Ich will damit nur andeuten, dass alles bloßer Aberglaube ist. Als ich so jung war wie du, träumte ich einmal von einem großen Land, in der nur lauter Wesen lebten, deren Haut weiß war, die aufrecht gingen und blutrünstig waren. Sind wir blutrünstig? Nein! Wir sind friedlich. Haben wir eine weiße Haut? Nein! Unsere Haut hat eine hässliche Farbe angenommen. Sie ist dunkelbraun und lederartig. Gehen wir aufrecht? Nein! Wir laufen gemütlich auf vier Beinen herum und haben zwei kräftige Arme.“



Die Mutter brachte ihre Tochter etwas zum Lachen, genau wie sie es gehofft hatte. Dann sagte sie: „Aber ehrlich gesagt, damals haben mich meine Träume auch ein wenig geängstigt.“



Einige Zeit später.



Der Weise Kinkin war etwas altmodisch, weil er keinem Trank traute, dessen Rezept nicht über hundert Jahre alt war. Aber er war ein vernünftiger, freundlicher Mann und außerdem schon hochbetagt.



„Träume vom Krieg? Warum träumt ein Mädchen wie du vom Krieg?“ fragte Kinkin, während er Ahva untersuchte.



„Ich will diese Träume ja nicht. Sie machen mir Angst, weil sie einfach von selbst kommen. Ich kann nichts dagegen tun“, sagte Ahva und schaute den alten Kinkin dabei an.



„Nun, in deinem Alter und bei all den Veränderungen, die dein Körper zur Zeit mitmacht, ist es gar nicht so ungewöhnlich, wenn man schlecht schläft und von bösen Träumen gequält wird.“



„Dann handelt es sich bloß um Wachstumsstörungen?“ erkundigte sich die Mutter forschend bei dem Weisen.



„Was heißt hier ‚bloß’?" sagte Kinkin mit einem hintergründigen Lächeln. „Die Zeit der Reife ist die aufregendste Zeit im Leben eines weiblichen Zentauren. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen Ahva zu.



„Du bist, wie man sieht, bereits in diesem Alter viel größer und viel kräftiger als deine Eltern oder ich. Du entwickelst dich hervorragend. Die Augen glänzen schon jetzt im schönsten Rot, du hast eine äußerst reine, sehr schöne hellbraune Lederhaut und deine vier kräftigen Beine sind gut entwickelt. Tja…, und auch den breiten Rücken hast du von deiner Mutter geerbt. Ich will eigentlich nur damit sagen, dass du bei bester Gesundheit bist, Ahva.“



„Und die Träume werden auch wieder aufhören?“ fragte das Mädchen mit gesenktem Blick und beachtete die Lobrede des Weisen Kinkin nicht in dem Umfang, wie er es von ihr in dieser Situation eigentlich erwartet hätte.



„Die Träume...? Ach ja..., natürlich. Wenn du ein bisschen Geduld mitbringst werden sie aufhören. Bestimmt werden sie das. Trotzdem, ich gebe dir ein Rezept, das du zusammen mit deiner Mutter zu meiner Apothekerin bringst. Sie wird dir einen speziellen Kräutertee zusammenstellen, der dir in den Nächten eine ruhigen Schlaf bescheren wird.“



Kinkin der Weise schickte das Mädchen zurück in den Warteraum. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zur Ahvas Mutter und sagte zu ihr: „Liebe Shilan, ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich deiner Tochter Angst einjagen soll. Andererseits wird in letzter Zeit überall viel geträumt, und die Leute sind abergläubisch, auch wenn sie es nicht gerne zugeben wollen. Behalte déine Tochter für ein paar Tage im Haus und sorge dafür, dass sie sich ausruht. Glaube mir, die Träume selbst stellen keine Gefahr dar – sie bringen auch kein Unglück. Ahva wird auch nicht davon verrückt werden oder sonst etwas. Das einzige, was sie jetzt braucht, das ist allein deine Liebe und dein mütterliches Verständnis.“



„Ich kann dir versichern, verehrter Kinkin, dass ich meine Tochter Ahva über alles Liebe. Schließlich habe ich außer ihr und meinem Mann sonst keine Angehörigen mehr. Ich mache mir ja bloß Sorgen…, nun, du weißt ja, wie die Leute auf solche Träume, wenn sie erst einmal davon erfahren haben, reagieren. Sie reden dauernd über derartige Vorkommnisse und tuscheln untereinander. Letztendlich könnte mein guter Ruf darunter leiden, denn nur von ihm hängt mein gutes Geschäft ab.“



Der Weise warf Ahvas Mutter jetzt einen absichtlich aufgesetzten, bösen Blick zu. „Glaub mir, es handelt sich nur um eine völlig harmlose Krankheit, mehr nicht. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass im letzten Jahr jedes zweite Kind in unserem Dorf an Fieber erkrankte. So ist das nun einmal. Geh’ heim, und mach’ dir keine Sorgen. Du und dein Mann, ihr seid ganz normale Eltern, die ein ganz normales Kind haben.“



Die Mutter holte Ahva aus dem Wartezimmer zurück und beide zusammen verabschiedeten sich von dem alten Kinkin.



Auf dem Heimweg spazierten sie durch einen Park, der von bunten Lichtern hell erleuchtet wurde. In der Ferne sah man drei markante Berge hoch in den nächtlichen Himmel ragen. Ahva blieb plötzlich stehen und betrachtete die mächtigen, schneebedeckten Gipfel.



„Was ist mit diesen Bergen? Warum schaust du zu ihnen rüber?“ fragte die Mutter ihre Tochter.



„In meinem Traum sah ich hohe Gipfel, die Eisriesen genannt wurden. Auf der einen Seite befand sich ein Ozean, auf der anderen eine weite Ebene. Die Landschaft sah genau so aus wie bei uns. Dann griffen diese seltsamen Wesen an, die über die weite Ebene und über das offene Wasser kamen.“



Die Mutter lächelte Ahva liebevoll an, obwohl sie innerlich ziemlich beunruhigt war. Dann nahm sie ihre Tochter zärtlich in den Arm.



„In den letzten tausend Jahren hat es hier bei uns keinen Krieg mehr gegeben.

Hinter den Bergen liegt ein wichtiger Hafen, den man ebenfalls Eisriesen nennt. Der Handel wächst Jahr für Jahr weiter an. Sowohl die Bauern im Flachland als auch die Leute von den großen Inseln draußen auf dem offenen Meer vermehren ihren Wohlstand dadurch ebenso wie wir. Weshalb sollte also irgend jemand einen Krieg wollen?“



„Es tut mir leid, Mutter. Ich wollte dich wirklich nicht beunruhigen. Mach’ Dir keine Sorgen, es war ja nur ein dummer Traum, obwohl er mir so echt schien.“



„Wenn wir den Tee von der Apothekerin geholt haben, gehen wir gleich nach Hause und legen uns schlafen“, sagte die Mutter mit energischem Blick und verließ den Park zusammen mit ihrer Tochter Ahva. Hoch am nächtlichen Himmel schob sich gerade eine schwarze Wolkenwand vor den weiß leuchtenden Halbmond, was zur Folge hatte, dass die Nacht noch schwärzer wurde, als sie es schon war.



Zuhause angekommen, bereitete die Mutter einen Kräutertee zu und gab ihn Ahva zu trinken, bevor sie zu Bett ging. „Wenn du gut schläfst, kannst du morgen sicher wieder zur Schule gehen“, sagte sie und verließ das Schlafzimmer.



Aber Ahva schlief schlecht. Kurz vor Morgengrauen hallten laute Schreie durchs Haus, und als die Eltern in ihr Schlafgemach stürmten, fanden sie Ahva kauernd auf dem Boden vor.



„Sie greifen uns an und töten jeden,“ schluchzte sie. „Das ganze Dorf, sogar die Frauen und die Kinder sind vor ihnen nicht sicher. Es ist entsetzlich“, schluchzte Ahva.



Die Mutter nahm ihre Tochter fest in die Arme.



„Hast du schon wieder diesen bösen Traum gehabt?“



„Ja“, sagte Ahva, „der Krieg war diesmal schlimmer. Überall lagen Tote herum, wohin man auch schaute. Wir werden zwischen Ozean und Ebene zermalmt, und selbst aus der Luft werden wir angegriffen.



„Du musst Dich beruhigen, mein Kind! Denk daran, was ich Dir gestern gesagt habe. Es war nur ein schlechter Traum. Er wird irgendwann aufhören. Glaube mir.“



„Du glaubst nicht, dass er wahr wird, Mutter?“



Natürlich nicht.“



Die Mutter schaute zu ihrem Gatten Ebarin hinüber und gab ihm Anweisung, den Weisen Kinkin aufzusuchen, damit er zu ihr kommen soll. Ihr Mann machte sich sofort auf den Weg.



Als er zurückkehrte, war Kinkin allerdings nicht dabei.



„Er kommt nicht, Shilan“, sagte Ebarin zu seiner Frau. „Unzählige Eltern haben gleichzeitig nach ihm geschickt. Er behauptet, er können nichts dagegen tun und schimpfte uns einen Haufen Dummköpfe, weil wir alle abergläubisch seien. Unterwegs auf dem Rückweg traf ich Korkan und Tunkan, die beiden Verkäufer. Sie hatten ebenfalls von diesem seltsamen Krieg geträumt. Korkan schob seinen Ärmel hoch und zeigte mir einen üblen Bluterguss. Tunkan hob sein Hemd, und ich sah, dass sein Bauch verbunden war. Sie sagten, dass sie in ihren Träumen verletzt worden sind. Als sie erwachten, waren die Wunden tatsächlich vorhanden.“



Stille senkte sich über den Raum. Niemand traute sich etwas zu sagen, doch jeder wusste, was das zu bedeuten hatte.



***



Später. Der Vollmond stand schon hoch am Nachthimmel.



Als Shilan erwachte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Bewusstsein war verschwommen mit Bildern schrecklicher Gewalttaten angefüllt. Sie wusste, dass auch sie im Traum gekämpft hatte, denn ihr ganzer Körper war mit hässlichen Schürfwunden übersät. Sie fragte sich, ob die Träume noch schlimmer werden würden. Dann fiel ihr Ahva ein. Sie eilte in ihr Zimmer, fand sie aber nicht vor.



Zusammen mit Ebarin suchten sie das ganze Haus ab, überprüften alle Türen und Fenster und riefen immer wieder ihren Namen, doch Ahva blieb unauffindbar.



Erst gegen Sonnenaufgang fanden sie ihre Tochter schlafend in ihrem Bett, obwohl sie mehrmals vorher nachgeschaut hatten. Sie fanden dafür keine Erklärung.



Ahvas Fußsohlen waren zerkratzt, blutverschmiert und mit hässlichen Blasen übersät, als sei sie lange Zeit marschiert. Auch ihre Hände hatten Schwielen bekommen und waren voller Blut. Sie sah erschöpft und eingefallen aus, und es war den Eltern nicht möglich, sie zu wecken.



Shilan und Ebarin liefen hinaus ins Dorf, um einen der alten Weisen zu holen, der ihrer Tochter helfen sollte. Doch aus allen Richtungen erschollen Rufe, bitterliches Weinen und ein fürchterliches Gejammer.



Ihnen wurde schnell klar, dass die Weisen nicht mehr tun konnten als zuvor.



Die Bewohner des ganzen Dorfes hatten in der Nacht geträumt, auch die Kinder.

Sie kauerten in den Ecken der Häuser und klammerten sich trostsuchend aneinander. Manchmal schliefen sie auch wieder ein, obwohl es helllichter Tag war. Ihre Mütter und Väter behandelten die Wunden und Schnitte und bemühten sich darum, sie aus dem todesähnlichen Schlaf zu wecken, was ihnen aber nicht gelang. Manche von ihnen schliefen selbst ein.



Als Shilan und Ebarin in das Schlafzimmer ihrer Tochter zurückkehrten, redete Ahva im Schlaf.



„Wir haben sie gesehen. Wir alle haben sie gesehen“, sagte sie. „Aber wir werden sie bekämpfen und einfach so lange weiter machen, bis wir sie besiegt haben. Wir werden sie vernichten. Schon nach tausend Jahren hat man sie vergessen und weiß nicht einmal mehr, wer sie waren, diese schrecklichen Vengalier mit ihrer magischen Fähigkeit, uns von innen über unsere Träume anzugreifen. Wir haben ihnen jedoch am Fuße der EISRIESEN eine schreckliche Niederlage zugefügt. Seitdem werden wir immer stärker, die bösen Vengalier von Kampf zu Kampf schwächer. Das haben sie nun davon.“



Ahva lächelte auf einmal, sagte plötzlich kein Wort mehr und schlief wieder fest und tief ein. Zwischendurch wachte sie auf und redete weiter. Und so ging das stundenlang. Seltsames Gerede über Zaubersprüche, Verwünschungen und Magier, das keine Ende nehmen wollte. Auch die Erwachsenen im Dorf, die schliefen, benahmen sich so. Dabei waren sie doch alle in Wirklichkeit fortschrittliche Bürger und stolze Zentauren, die im realen Leben an solche Dinge nicht glaubten.



Ahvas Mutter Shilan blieb trotz ihrer Erschöpfung wach. Ihr Mann Ebarin bewegte sich im Schlaf unruhig hin und her, als würde er kämpfen. Dann…, nach ungezählten Stunden, war plötzlich mit einem Schlag alles vorbei. Das schummrige Licht vor Shilans Augen spielte ihr einen Streich, denn als sie mit schmerzendem Blick genauer zu Ahva hinsah, schien sie wieder friedlich im Bett zu schlafen. Erst als sie sich zu ihr hinunterbeugte bemerkte sie, dass Blut aus ihren Ohren tropfte. Offenbar war sie durch einen Schlag auf den Kopf verletzt worden. Aber sie lebte. Dann ging sie zu Ebarin hinüber in dessen Schulter ein Dreizack steckte. Trotz der schlimmen Verletzung schien er sich langsam wieder zu erholen. Er öffnete seine Augen.



„Shilan, der Kampf in unseren Träumen ist zu Ende. Unser Dorf hat die Vengalier vernichtet. Jetzt wird wieder alles gut. Niemand von uns wird in Zukunft von Krieg und Gewalt träumen müssen.“ Shilan lächelte ihn an, nahm ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. Dann kümmerten sich beide um ihre Tochter Ahva und versorgten ihre blutenden Wunden.



Draußen im Dorf schlugen die Zentauren die Trommeln. Die Weisen hatten sich versammelt und redeten leise in unverständlichen Worten vor sich hin. Die Gefallenen unter den Zentauren trug man aus den Häusern und bestattete sie am Fuße der Eisriesen, den mächtigen Eisbergen am fernen Horizont, wo ihre Seelen von nun an als ewige Wächter sowohl die weite Ebene als auch das offene Meer beobachten sollten, um das Dorf der Zentauren vor den bösen Vengaliern zu bewachen, von denen man wusste, dass sie sich Menschen nannten, eine weiße Haut hatten, aufrecht gingen und blutrünstige Bestien waren.





Ende



(c)Heiwahoe


© (c)Heiwahoe


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