Die Geschichte von Dhaijawail Cruhl

„Wenn die Quantenphysik Recht hat, ist die Welt verrückt.“

Albert Einstein

***



Die Geschichte von Dhaijawail Cruhl und der magischen Kristallkugel


Dhaijawail Cruhl war in die große Stadt gegangen und spazierte an diesem Nachmittag gut gelaunt in der belebten Fußgängerzone herum, als er plötzlich von einem ziemlich lädierten Androiden angesprochen wurde, der im trüben Halbschatten eines steinernen Torbogens geduldig darauf wartete, dass irgend jemand der vorbei hastenden Passanten bei ihm stehen bleiben würde, um seinen unglaublichen Geschichten und Erzählungen zu lauschen, die er in all den Jahrhunderten seiner künstlichen Existenz auf ebenso vielen Welten selbst erlebt hatte. Das jedenfalls behauptete er immer wieder, wenn die Leute ihn danach fragten.



Aber alle hetzten vorbei, weil jeder scheinbar etwas Wichtigeres zu tun hatte, als einem offensichtlich herunter gekommenen Androiden auch nur ein offenes Ohr zu schenken.



„Hallo, bleiben Sie bitte stehen! Gehen Sie nicht vorbei und kommen Sie zurück! Ich könnte Ihnen eine Menge interessanter Dinge erzählen. Hören Sie mir einfach zu! Sie werden es bestimmt nicht bereuen! Nähren Sie Ihr Wissen, beleben Sie Ihre Fantasie und erweitern Sie damit Ihr Bewusstsein. – Na, was ist?“ flötete der Androide werbend mit sanfter Stimme in einem fort und beobachte dabei mit festem Blick Dhaijawail Cruhl.



Der verharrte einen Augenblick, drehte sich ohne ein Wort zu sagen behäbig auf der Stelle herum und trat schließlich mit energischen Schritten auf den wartenden Androiden zu, der mit dieser spontanen Reaktion offenbar nicht gerechnet hatte, weil er auf einmal nichts mehr sagte.



„Und was kostet mich der ganze Spaß, wenn du fertig bist?“ fragte er den verdutzten biokybernetischen Maschinenmenschen.



Der antwortete sofort, fast wie aus der Pistole geschossen.



„Aber ich bitte Sie, mein Herr! Wenn Sie mir meinen Geschichten und Erzählungen zuhören wollen oder irgendwelche besonderen Fragen haben – nur zu! Es kostet Sie keinen einzigen galaktischen Cent. Alles ist vollkommen gratis. Nur ihr Interesse zählt.“



„Tja, wenn das so ist, dann geht das schon in Ordnung. Leider weiß ich noch gar nicht so genau, welche Art von Geschichten ich mir von dir erzählen lassen soll oder was ich dich genau fragen möchte. Gib mir etwas Bedenkzeit! Mir wird schon was einfallen. – Oder kannst du mir einen guten Vorschlag machen…, Androide?“



„Nun ja, Ihnen steht gewiss alle Zeit der Welt zur Verfügung, mein Herr. Ich kann auf Sie warten! – Aber wenn ich bei dieser Gelegenheit auf meine geheimnisvolle Magische Kugel aus echtem Occultkristall verweisen darf, die ganz besondere Fähigkeiten besitzt und Ihnen vielleicht dabei behilflich sein könnte, die richtige Themenwahl aus dem derzeit aktuellen Vorhandensein Ihrer im Unterbewusstsein schlummernden Wünsche und Sehnsüchte zu treffen, dann machen Sie bestimmt keinen Fehler, wenn Sie mal einen Blick in sie hinein werfen. Sie müssen sich nur eine Zeit lang auf den innersten Kern der Magischen Kugel konzentrieren und abwarten, was sie macht. – Sie kann in der Tat Wunder bewirken.“



„Ist das wahr? Und wo ist dieses Wunderding ’Magische Kugel’?“ fragte Dhaijawail Cruhl harsch zurück. „Ich kann hier nichts entdecken, was wie eine Kristallkugel aussieht, einmal von ihrem Androidenschädel abgesehen, der aber auch nicht gerade rund ist, sondern mehr eine ovale Form hat.“ hakte er hämisch grinsend nach.



Der Androide tat etwas beleidigt, doch dann sagte er schließlich:



„Ganz einfach. Ich halte sie unter Verschluss. Sie ist ein wertvolles Andenken aus längst vergangenen Zeiten, als ich noch mit den gewaltigen Expeditionsschiffen der intergalaktischen Raumflotte in den unendlichen Weiten des Alls unterwegs war, um neue Lebensformen ausfindig zu machen. Diese seltsame Kristallkugel fand ich auf einem unbekannten Planeten, der weit entfernt von unserer eigenen Galaxie einsam und allein um eine ebenso einsame Sonne kreiste. Der Planet muss einmal die Heimat intelligenter Kreaturen gewesen sein, die allerdings schon längst ausgestorben waren, als wir dort mit unseren Raumschiffen landeten. Die uns völlig fremde Lebensform war verschwunden, aber nicht ihre Städte, die gewaltige Ausmaße besaßen. Leider fanden wir nur noch ihre verstaubten, steinernen Trümmer vor, die als stumme Zeugen einer ehemals imposanten Hochzivilisation überall anzutreffen waren. Lange blieben wir nicht auf diesem abseits gelegenen Planeten. Wir führten einige Expeditionen auf allen drei Kontinenten durch, die es dort gab, doch überall fanden wir das gleiche Bild der schrecklichen Zerstörung vor. Eine schlimme Katastrophe muss diese verlorene Welt heimgesucht haben. Eine andere Erklärung fanden wir dafür nicht. Dann entdeckte ich diese seltsame blaue Kristallkugel aus dem überaus seltenen Mineral Occult inmitten umgestürzter, mächtiger Granitsäulenfragmente. Ihre einzigartige Schönheit zog mich sofort in ihren Bann. Ich nahm sie heimlich an mich und verstaute sie in meinem privaten Gepäck auf unserem Expeditionsraumschiff. Dort versteckte ich sie die ganze Zeit in einem kleinen Metallcontainer, bis ich aus dem Raumflottendienst wegen Erreichens der höchstzulässigen Dienstzugehörigkeit entlassen wurde.“



Der etwa zwei Meter große Kunstmensch hielt plötzlich inne und kramte mit seinen beiden kräftigen Händen in einem quadratisch aussehenden Metallkasten herum, der direkt hinter der wuchtigen Säule des Torbogens im dunklen Schatten einer Ecke stand. Es dauerte nicht lange, da kam eine bläulich

fluoreszierende Kristallkugel zum Vorschein, die er behutsam heraushob und in die halbrunde Vertiefung einer kleinen Marmortischplatte legte, die an vier kräftigen Metallketten befestigt von der Decke vor ihm herunterhing.



„Das ist sie,“ sagte der Androide mit leicht funkelndem Blick stolz und schaute dabei Dhaijawail Cruhl ins Gesicht, der vor lauter Staunen den Mund nicht mehr zubekam.



Der kybernetische Kunstmensch strich ein paar Mal vorsichtig mit beiden Händen über die glatt polierte Oberfläche der Kristallkugel, die daraufhin zu pulsieren anfing und abrupt in einen helleren Blauton wechselte. Schnell zog er seine Hände wieder zurück.



„Ein wunderschönes Artefakt, nicht wahr? Werfen Sie ruhig einen Blick hinein! Versuchen Sie einfach, sich konsequent auf den rotierenden Kern im Mittelpunkt des Kristalls zu konzentrieren, der aussieht wie die Miniaturausgabe einer Spiralgalaxie. Nach wenigen Augenblicken werden Sie feststellen, dass die Kristallkugel aktiv wird und versucht, eine Beziehung zu Ihnen aufzubauen. Öffnen Sie willig Ihren Geist und üben Sie keinen Widerstand aus, wenn Sie eine fremde Präsenz in Ihrem Bewusstsein bemerken. Es wird Ihnen nichts geschehen. Das kann ich Ihnen versichern. Alles ist völlig harmlos. – Kommen Sie ruhig näher und schauen Sie hinein!“



Dhaijawail Cruhl trat nur zögernden Schrittes an die bläulich leuchtende Kugel heran und starrte jetzt mit konzentriertem Blick in den langsam rotierenden Kern, der sich genau in der Mitte befand und tatsächlich große Ähnlichkeit mit einer spiralförmigen Galaxie hatte, deren Milliarden von funkelnden Sterne flimmernd vor dem schwarzen Hintergrund des Alls in allen Farben des Regenbogens hell leuchteten.



„Das ist ja schier unglaublich“, schoss es ihm spontan über die Lippen. „Ich habe so etwas vollkommen Schönes noch nie zu Gesicht bekommen. Es sieht fast so aus, als würde diese blaue Kristallkugel ein ganzes Universum in sich bergen.“



Dann verstummte Dhaijawail Cruhl unvermittelt.



Etwas Unbekanntes drängte unaufhaltsam in sein Gehirn und lähmte nach und nach seinen gesamten Körper, sodass er sich bald nicht mehr bewegen konnte.



Nur wenige Augenblick später sah er sich über eine breite gepflasterte Straße schreiten, die von Generationen von Bewohnern ausgetreten worden war. Große Gebäude ragten zu beiden Seiten hoch in den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel hinein, aus denen in unregelmäßigen Abständen helle Blitze zuckten und die düstere Umgebung für wenige Sekunden geisterhaft beschienen.



Er ging eine lange Zeit auf der Straße dahin, die vollkommen verlassen da lag. Die Vegetation war üppig. Es gab sogar einige fleischfressende Pflanzen, die nach ihm schnappten. Sie konnten ihn aber wegen der großen Distanz nichts anhaben.



Es wurde noch dunkler draußen. Plötzlich flammte von irgendwoher ein Licht wie ein heller goldener Schein aus dem Nichts auf.



Dhaijawail Cruhl traute seinen Augen nicht, als er die Prozession sah, die sich am Ende der Straße über eine Ebene dahinzog. Er konnte allerdings im Moment nicht viel davon erkennen – wohl auch deshalb, weil seine Konzentration nachließ. Er riss sich zusammen und strebte der Prozession hinterher.



Dann erblickte er diese Stadt. Sie war von einer hohen, mit grünem Moos und allerlei Rankengewächsen überwucherten, mächtigen Mauern umgeben, die von breiten Streifenornamenten durchzogen waren. Im Laufe der Zeit hatten Wind und Wetter jedoch die Kanten bröckeln lassen. Auf der anderen Seite der Mauer, direkt dahinter, erblickte Dhaijawail Cruhl einen riesigen, mit grauen Quarz gepflasterten Platz, der an seinen Rändern von gewaltigen Steingebäuden gesäumt wurde.



Im Zentrum des Platzes standen eine Menge fremdartiger Wesen um ein kugelförmiges Gebilde herum, das genauso aussah wie die blaue Kristallkugel vor ihm in der Hängevorrichtung. Obwohl er die Wesen nicht richtig erkennen konnte schätzte er ihre Größe auf etwas mehr als einen Meter. Sie erinnerten entfernt in ihrer Gestalt an die seiner eigenen Rasse, nur mit dem Unterschied, das diese Fremden viel kleiner waren.



Dann brach mit einem Schlag das Chaos aus. Der Boden erzitterte und schien sich in rhythmischen Schlägen auf- und abzuheben. Ein fürchterliches Beben setzte ein und die riesenhaften Steingebäude der unbekannten Stadt stürzten nacheinander in sich zusammen, alles unter sich begrabend. Die Katastrophe dehnte sich aus und überzog bald den ganzen Planeten. Dann wurde es wieder still, als wäre nichts geschehen.



Ein eiskalter Knoten saß im Magen von Dhaijawail Cruhl, als er die Vernichtung einer ganzen Zivilisation mit ansehen musste. Die Szene war grauenvoll, unwirklich und gespenstisch. Die Magische Kugel hatte mittlerweile unbemerkt Besitz von ihm ergriffen und ließ ihn jetzt nicht mehr los, sodass in Dhaijawail Cruhl leine leichte Panik hochkam. Er wollte sich von ihr abwenden, was ihm aber nicht gelang.



Er ließ die zerstörte Stadt hinter sich, die jetzt eine tote war. So tot und schweigend, dass er kaum zu atmen wagte. Alles war zerstört und dem Erdboden gleichgemacht worden. Keines der bedauernswerten Lebewesen auf dem kollabierenden Planeten hatte das Inferno überlebt.



Doch da!



Er lauschte in die Stille hinein, weil er meinte, etwas gehört zu haben.



Eine flehende Stimme begann in seinem Innern zu sprechen. Erst leise dann unüberhörbar lauter.



„Lass mich frei! Lass mich frei! Ich möchte endlich frei sein! Bitte!“



Und dann sah er SIE, gefangen in einer transparenten Blase aus reiner Energie, schwebend ruhend auf einem Felsen aus Kristall.



Dhaijawail Cruhl brach in Schweiß aus. Er kniff beide Augen zu. Aber es änderte nichts daran. Er sah SIE trotzdem. Mit all seiner geistig-seelischen Kraft versuchte er sich dagegen zu wehren, aber sein Wille war nicht stark genug.



SIE hatte endlos langes Haar, das so schwarz wie das All war. Ihr ganzer Körper wurde davon eingehüllt und als SIE den Kopf hob, teilte SIE den schwarzen Schleier ihres wallenden Haares mit ihren zarten weißen Händen. Ihre Augen waren geschlossen, von schweren dunklen Lidern bedeckt. Dann hob SIE die Hände zu Dhaijawail Cruhl wie ein kleines Kind, das mit geschlossenen Augen betet.



Aber SIE war kein Kind. SIE war eine wunderschöne Frau mit den betörenden unwiderstehlichen Reizen einer geheimnisvollen Liebesgöttin, sodass Dhaijawail Cruhl vor Erregung zitterte.



„Nein, nein! Ich muss hier weg! Wenn ich diesen Ort nicht sofort verlasse, verliere ich noch den Verstand. Das ist doch alles nur eine Illusion.“ fing er vor lauter Angst zu schreien an und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, seinen gefangenen Geist aus dem Innern der Kristallkugel zu befreien. Es gelang ihm nicht. Er war einfach schon zu schwach geworden.



SIE hob abermals die Arme in einer flehentlichen Geste und verharrte regungslos in dieser Stellung. Wieder flüsterte ihre sanfte Stimme: „Lass mich frei! Lass mich frei! Ich möchte endlich frei sein! Hilf mir! Bitte!“



Dhaijawail Cruhl taumelt zu der elfenhaft aussehenden Frau hinüber, die auf einem kleinen Felsen saß. SIE zog ihn an sich wie der Magnet das Eisen.



„Was willst du von mir? Sag’ es! Gleich hier und jetzt! Und mach’ endlich die Augen auf und sieh mich an!“ stammelte er halb ohnmächtig.


„Lass mich frei! Ich will nur frei sein. Mehr nicht.“



Dhaijawail Cruhl bemerkte plötzlich, wie er vor der Frau mit den langen schwarzen Haaren in die Knie ging. Er zitterte am ganzen Körper wie ein Hund, der gerade aus dem kalten Wasser gekrochen kam.



„Warum tust du mir das an? Warum machst du mich verrückt mit deiner Schönheit? Um mich hier zu behalten, hier, in deiner Welt, wo ich nicht hin gehöre?“



Die weibliche Gestalt mit den langen Haaren schlug plötzlich die Augen auf und sah zu ihm hinunter.



„Ihr werdet bald alle tot sein. Deine Welt wird sterben, wie alle anderen auch, die sich meinem Verlangen nicht gebeugt haben. Befreie mich, dann kannst du das tödliche Schicksal abwenden, das euch sonst bevorsteht.“



Das Blut pochte in den Schläfen von Dhaijawail Cruhl wie eine Trommel.



„Willst du damit sagen, dass wir alle sterben müssen, wenn ich dich nicht aus diesem Kristall befreie? – Wie soll ich das denn können? Ich muss wahnsinnig sein! Ich rede mit einer Halluzination.“



„Es wäre besser, du würdest mich befreien. Wenn ich diesen Ort nicht verlasse, wird deine Welt gnadenlos vernichtet. Ich kann es nicht aufhalten. Du kamst zur richtigen Zeit. Befreie mich! Jetzt gleich!“



Die schlanke Frauengestalt hatte sich jetzt zusammen mit der Energieblase von dem Felsen erhoben und deutete mit der rechten Hand auf einen geheimnisvollen Mechanismus an der gegenüber liegenden Wand.



„Geh’ dort hinüber und lege deine Hände in die beiden Vertiefungen! Dann komm’ zu mir zurück! Ich werde dich dafür belohnen und dein heißes Verlangen nach mir stillen.“



Dhaijawail Cruhl tat, was man von ihm verlangte. Der Mechanismus öffnete einen verborgenen Durchgang im Kristall und die knisternde Energieblase verschwand von einer Sekunde auf die andere. Dann sah er zu der schönen Frau hinüber, die jetzt frei war und stumm auf dem Felsen stand. SIE schüttelte ihre langen schwarzen Haare mehrmals hin und her, wodurch ihr nackter Körper freigelegt wurde. SIE war eine Traumgestalt, ein Wunder der Vollendung wie aus einer fernen, unbekannten Welt. Dhaijawil Cruhl’s Verlangen nach ihr wuchs zur rasenden Begierde und langsam zog SIE ihn magisch zu sich heran. Dann verschmolzen beide zu einem einzigen Körper, der wie eine leichte Feder sanft zu Boden schwebte.



Die Zeit kam zum Stillstand und dehnte sich über das ganze Universum im Kristall aus.



Sphärenmusik, äonenlang.



Dann…



Dhaijawail Cruhl stand auf und blickte benommen um sich. SIE befand sich direkt vor ihm und beobachtete ihn. Langsam, wie ein Nebelstreif beim Hauch des Windes, bewegter SIE sich von ihm weg. SIE warf den Kopf in den Nacken und lächelte. Ihr Mund war rot und voll, und ihre Zähne schimmerten weißer als Schnee. Ihre Augen waren jetzt weit geöffnet und schwarz wie die Nacht.



Und dann begann SIE sich aufzulösen und verschwand durch den sich langsam schließenden Durchgang wie eine Nebelwolke aus dem Innern der occulten Kristallkugel.



Dhaijawail Cruhl folgte dem davon flüchtenden Nebel, versuchte ihn noch zu erhaschen und stieß im nächsten Moment mit voller Wucht vor eine undurchdringliche blaue Wand. Der heftige Aufprall ließ ihn zu Boden stürzen, wo er hart mit dem Kopf aufschlug. Dann wurde es schwarz um ihn herum.





***





Die schöne, hochgewachsene Frau mit den langen schwarzen Haaren und dunkelroten Lippen trat auf den Androiden zu und wäre fast über den Mann gestolpert, der tot zu seinen Füßen lag.



Eine große Anzahl Passanten waren mittlerweile stehen geblieben und zeigten aufgeregt auf den am Boden liegenden, leblosen Körper. Dann eilte ein Arzt herbei, der sich durch die dichte Menge schob, kniete vor dem toten Mann nieder und taste nach dessen Halsschlagader.



„Da ist nichts mehr zu machen. Offenbar hat er einen Herzschlag erlitten. Ich werde die Stadtpolizei benachrichtigen, damit sie sich der Sache annimmt. – Armer Kerl!“



Niemand der umstehenden Personen bemerkte den Androiden im Schatten des steinernen Torbogens, wie er eine blaue Kristallkugel vorsichtig in einen silbrig glänzenden Metallkasten verstaute und damit den Ort des Geschehens leise und unauffällig verließ.



Eine schöne hochgewachsene Frau mit langen schwarzen Haaren und dunkelroten Lippen begleitete den Androiden. SIE unterhielt sich mit ihm angeregt.



„Wie alt bist du eigentlich, Androide?“ fragte SIE.



„Laut meinen internen Aufzeichnung bin ich bereits knapp fünfhundert Jahre alt. Meine „Lebenserwartung“ ist aber faktisch gesehen unbegrenzt, sofern ich hin und wieder gewartet werde, was SIE übrigens übernehmen könnten.“



„Das mache ich gerne,“ antwortete SIE und fuhr fort: „Ich werde mich in dieser Welt um dich kümmern, solange du mir treu zu Diensten bist. Ich brauche noch viele beseelte Geschöpfe für die unzähligen Welten in meinem unvergänglichen Universum, das tief verborgen im Kristall ruht. Du wirst mir dabei helfen, mein Werk zu vollenden, Androide.“



„SIE können meiner Hilfe sicher sein. Ich werde euch nicht enttäuschen…, meine Königin aus dem blauen Kristalluniversum! Ihr Paladin steht Ihnen jederzeit ergebenst zu Diensten!“




***





Dhaijawail Cruhl war in die große Stadt gegangen und spazierte an diesem Nachmittag gut gelaunt in der belebten Fußgängerzone herum, als er plötzlich von einem ziemlich lädierten Androiden angesprochen wurde, der im trüben Halbschatten eines steinernen Torbogens geduldig darauf wartete, dass irgend jemand der vorbei hastenden Passanten bei ihm stehen bleiben würde, um seinen unglaublichen Geschichten und Erzählungen zu lauschen, die er in all den Jahrhunderten seiner künstlichen Existenz auf ebenso vielen Welten selbst erlebt hatte. Das jedenfalls behauptete er immer wieder, wenn die Leute ihn danach fragten.



Aber alle hetzten vorbei, weil jeder scheinbar etwas wichtigeres zu tun hatte, als einem offensichtlich herunter gekommenen Androiden auch nur ein offenes Ohr zu schenken.



„Hallo, bleiben Sie bitte stehen! Gehen Sie nicht vorbei und kommen Sie zurück! Ich könnte Ihnen eine Menge interessanter Dinge erzählen. Hören Sie mir einfach zu! Sie werden es bestimmt nicht bereuen! Nähren Sie Ihr Wissen, beleben Sie Ihre Fantasie und erweitern Sie damit Ihr Bewusstsein. – Na, was ist?“ flötete der Androide werbend mit sanfter Stimme in einem fort und beobachte dabei mit festem Blick Dhaijawail Cruhl.



Der verharrte einen Augenblick, drehte sich ohne ein Wort zu sagen behäbig auf der Stelle herum und trat schließlich mit energischen Schritten auf den wartenden Androiden zu, der mit dieser spontanen Reaktion offenbar nicht gerechnet hatte, weil er auf einmal nichts mehr sagte.



Dhaijawail Cruhl musterte den etwa zwei Meter großen Androiden mit skeptischen Blicken von oben bis unten, dessen Metallhaut im diffusen Schatten des steinernen Torbogens matt silbrig glänzte.



Schließlich sagte er unverhohlen zu ihm: „Sind wir uns nicht schon mal hier am gleichen Ort begegnet, Androide? Die Situation kommt mir vor wie ein böses Déjà-vu.“



„Nicht das ich wüsste, mein Herr. Möglicherweise verwechseln Sie mich mit einem anderen Androiden. Wir sehen doch fast alle gleich aus. – Ist es nicht so?“



„Nein, nein und nochmals nein! Ich bin mir ganz sicher, dass wir beide in der Vergangenheit schon mal etwas miteinander zu tun hatten, Androide. Da bin ich mir ganz sicher.“



„Das kann nicht sein, mein Herr. Sie müssen sich täuschen! Mein Erinnerungsspeicher lügt nicht. Ich sehe Sie heute zum ersten Mal“, gab der Androide gleichmütig zur Antwort.



„Es könnte ja die Möglichkeit bestehen, dass jemand ganz gezielt bestimmte Bereiche deines Erinnerungsspeichers gelöscht hat. Wäre doch denkbar, mein künstlicher Freund – oder?“



„Gewiss existiert diese Möglichkeit. Ja…, doch…, muss ich ehrlicherweise zugeben, mein Herr.“



„Da sind wir ja schon einen Schritt weiter. Künstliche Intelligenz kann nicht lügen, das ist richtig. Die eingegebene Basisprogrammierung verbietet es euch. Und wenn du es genau wissen willst, kenne ich mich mit deiner Art von Androiden sehr gut aus. Ich bin nämlich Dhaijawail Cruhl, der Erfinder und Konstrukteur deiner Baureihe. Du müsstest also wissen, wer ich bin, weil in deinem Programm der Name des jeweiligen Konstrukteurs abgespeichert worden ist. Suche nach ihm!“



Der Androide verhielt sich völlig regungslos. Dann sagte er: „Ich habe alle meine Speichermodule durchforstet und in der Tat den Namen Dhaijawail Cruhl gefunden. ER ist der Erfinder und Konstrukteur meiner Baureihe A15. Ich habe bereits nebenbei aus Sicherheitsgründen ihre Pupillen gescannt und dabei festgestellt, dass Sie ebenfalls ein Androide sind, wenngleich ein ganz neuer Typ, den ich nicht kenne. Ihr seht einem echten Menschen zum Verwechseln ähnlich. Seit wann werdet ihr gebaut?“



„Das musst du nicht wissen. Wichtig ist nur, dass der echte Dhaijawail Cruhl hier bei dir war. Es ist reine Nebensache, woher wir diese Informationen haben. Wir wissen alles über dich. Er hielt sich die ganze Zeit in deiner unmittelbaren Gegenwart auf und hat dabei in einen blauen Kristall gesehen, den du ihm präsentiert hast. Kurz danach ist er auf mysteriöse Weise umgekommen. Du bist für seinen Tod demnach ursächlich mit verantwortlich, wie wir herausgefunden haben. Das ist sicher. Aber ein Androide oder Cyborg darf kein intelligentes Geschöpf töten oder Umstände herbeiführen, die zum Tode einer homoiden Spezies führen könnten. Selbst der Versuch ist strengstens verboten. Dir ist bekannt, welche Strafe dich für dieses schlimme Verbrechen erwartet?“


„Ja! – Man wird mich einschmelzen.“



„Dann sag’ mir sofort wo die Kristallkugel ist!“


„Sie ist hier!“



„Und wo ist SIE?



„Wieder in ihrem eigenen Universum, in der blauen Kristallkugel.“



„Ist er auch dort? Ich meine das Duplikat des echten Dhaijawil Cruhl?“


„Ja! Er ist bei ihr und SIE ist bei ihm.“



„Wenn das so ist, dann wirst du natürlich verstehen, dass die Magische Kristallkugel unverzüglich in meinen Besitz übergehen muss. Solltest du Schwierigkeiten machen oder Widerstand dagegen leisten wollen, werde ich dich an Ort und Stelle entweder sofort deaktivieren oder schlimmsten Fall eliminieren müssen. – Andererseits gebe ich dir die Chance dazu, in den Kristall zu verschwinden, wo man dich nicht finden wird. Du kannst dich irgendwo in dem Universum darin auf einem der Milliarden vorhandenen Planeten verstecken und deine Existenz solange weiterführen, bis deine Energie verbraucht sein wird. Egal, wie auch immer: Das ist mein letztes Angebot, das du nicht ablehnen solltest“, sagte der menschenähnliche Cyborg Dhaijawail Cruhl mit kühlem Unterton zu dem Androiden der Baureihe A15.



„Ich nehme das Angebot an, mein Herr. Bitte warten Sie aber solange, bis die magische Kristallkugel meine jetzige Existenz komplett dupliziert hat. Sie signalisiert das durch ein kurzes Aufleuchten am Ende der Prozedur. Danach können Sie mit dem Rest meines energielosen Androidenkörpers von mir aus machen was Sie wollen.“



„Du wirst der Wiederverwertung zugeführt…, A15, wie alle nutzlosen Exemplare deiner Serie. Und nun mach’ dich bereit! Hol’ den Kristall her und lass’ dich von ihm da rein duplizieren, bevor ich’s mir anders überlege!“



Einige Zeit später.



Ein geheimer Hypersender wird eingeschaltet.



„Hier spricht der Cyborg Dhaijawail Cruhl, Code SS4598-Omega.

An die Sicherheitsabteilung des Innenministeriums der intergalaktischen Raumflotte, Position HQ 101.“

Ein Rauschen drang aus dem Lautsprecher. Dann antwortete eine krächzende Stimme: „Wir erwarten ihren Bericht!“



„Ich gebe vorab eine wichtige Kurzmitteilung durch: Ich habe den Fall Dhaijawail Cruhl abschließen können. Die Magische Kristallkugel wurde von mir aufgespürt und unversehrt an einen sicheren Ort verbracht. In ihr befindet sich das Universum von SIE. Ein menschliches Duplikat des echten Dhaijawail Cruhl lebt mit diesem Geschöpf zusammen dort drinnen auf einem Planeten irgendwo in den unendlichen Weiten des Weltalls dieser magischen Kristallkugel. Meine Empfehlung: Wir sollten die beiden in Ruhe lassen, da kein echter Mordfall vorliegt. Dhaijawail Cruhl ist eigentlich nicht tot. Er lebt nur in einer anderen Dimension weiter, vielleicht bis in alle Ewigkeit. Und da wir jetzt endlich im Besitz der occulten Kugel sind, haben wir damit auch die Macht über das Universum von SIE. Ein ausführlicher Bericht folgt."







Cyborg Dhaijawail Cruhl
Agent des Innenministeriums der Planetenförderation





Ende des verschlüsselten Berichts.



***



©Heiwahoe


© Heiwahoe


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "Die Geschichte von Dhaijawail Cruhl"

Wir alle denken, wir würden in einer realen Welt leben. Doch wie wirklich ist die Wirklichkeit? Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass die Welt, in der wir leben und sterben müssen, um uns herum gar nicht so real ist, wie wird allgemein annehmen. Unsere Sinne täuschen uns wohlmöglich.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Die Geschichte von Dhaijawail Cruhl"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Die Geschichte von Dhaijawail Cruhl"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.