Ich drückte mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand zweimal kräftig auf den schwarzen Klingelknopf vor mir an der Hauswand und wartete geduldig auf eine Reaktion. Eine krächzende Stimme ertönte plötzlich aus dem Gegenlautsprecher und fragte auffordernd: „Wer ist da?“



„Mrs. Elena und Mr. Ken Mantell aus New York. Erkennungscode X73-BX134“, antwortete ich sofort.



„Bitte warten Sie einen Moment. Ich bin gleich bei Ihnen!“



Dann tat sich drinnen im Haus etwas.



Die schwere Eichentür wurde nur zaghaft geöffnet. Als der Spalt groß genug war, erblickte ich einen blass aussehenden jungen Mann, der einen müden Eindruck auf mich machte und meine Frau und mich misstrauisch musterte.



„Wir kommen wegen der geheimen Nachricht, die wir von einem Mitarbeiter ihrer Organisation erhalten haben. Wir wurden dazu aufgefordert, ihre Adresse aufzusuchen und ihnen das vereinbarte Kennwort mitzuteilen.“



„Wie lautet das Kennwort?“



„Vita“, antwortete ich ohne zu zögern.



Der junge Mann nickte sofort mit dem Kopf. Sein Gesichtsausdruck wurde auf einmal etwas freundlicher, und die Spur eines Lächelns huschte über sein Gesicht.



„Bitte kommen Sie doch herein, meine Herrschaften“, sagte er. „Das, was Sie suchen, befindet sich unter diesem Anwesen. Gehen Sie einfach hinter mir her. Die letzte Tür rechts am Ende des Flures führt direkt in den umgebauten Keller. Dort wird man Sie in Empfang nehmen. Sie dürfen aber trotzdem schon mal vor gehen.“



Dann wies er mit seiner rechten Hand in die angegebene Richtung. „Dort hinten, bitte.“



Wir gingen an dem schlaksigen Jungen vorbei durch einen holzgetäfelten Gang, der einen sehr gepflegten Eindruck machte. Das blankpolierte Holz schien allerdings schon in die Jahre gekommen zu sein, weil es bei jedem Schritt knirschte und knarrte. Dann kamen wir an eine Tür vorbei auf der KEIN ZUTRITT! stand.



Der Bursche blieb davor stehen.



„Ich habe noch etwas zu erledigen“, sagte er leise und fuhr fort: „Wenn Sie mich brauchen, stehe ich Ihnen natürlich jederzeit zur Verfügung. Wahrscheinlich wird das aber nicht nötig sein. Mein Kollege wird sich um alles kümmern. Er ist sehr erfahren.“



Ich gab ihm ein freundliches Ok-Zeichen.



„Wir werden schon zurecht kommen. Vielen Dank!“



„Dann bis später“, sagte der junge Mann und verschwand mit einem Kopfnicken.



Meine Frau und ich gingen zum Ende des Ganges vor und stiegen über eine breite, aber sehr lange Betontreppe runter in den komfortabel eingerichteten Keller, bis wir schließlich vor einer stabilen Eisentür standen. Fast ängstlich drückte sie die messingfarbene Klinke nieder. Im gleichen Moment schwang die Tür auf, und wir traten mit vorsichtigen Schritten in den vor uns liegenden Raum. Man konnte zunächst nichts erkennen, weil er nur spärlich beleuchtet war. Irgendwo lief eine Be- und Entlüftungsanlage surrend im Hintergrund.



Plötzlich stand wie aus dem Nichts ein alter Mann vor uns, der meine Frau und mich prüfend ansah. Wir erschraken etwas. Bevor er etwas sagte, sog er an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Luft.



„Treten Sie doch näher, meine Herrschaften! Nur zu! Ich möchte mich bei Ihnen zuerst einmal entschuldigen. Ich hätte Sie eigentlich schon oben in Empfang nehmen sollen. Bin leider aufgehalten worden. Bitte verzeihen Sie mir! Mein Name ist übrigens Jeff…, Jeff Lucas. Wer Sie sind, weiß ich bereits aus den erhaltenen Unterlagen. Heute ist jedenfalls IHR großer Tag, nicht wahr? Sie werden bestimmt nicht enttäuscht sein. Alle, die hier waren, sind als glückliche Menschen wieder von uns gegangen. Sie werden es selbst erleben. Aber was erzähle ich Ihnen denn da? Man hat Sie ja schon über alles vorab informiert. Die Organisation schickt ja niemanden zu uns, dem sie nicht absolut vertrauen kann und der vorher nicht auf Herz und Nieren überprüft worden ist. Wie gesagt, man hat Sie über alles Wichtige schon ausführlich aufgeklärt und warum unsere Arbeit so streng geheim bleiben muss. Ich bitte Sie beide jetzt nur noch darum, das mitgeführte Vertragsschreiben an mich auszuhändigen. Wenn die Formalitäten erledigt sind, kann es von mir aus losgehen.“



Ich kramte etwas umständlich in der rechten Manteltasche herum, suchte nach dem sich dort befindlichen Dokument mit unseren Unterschriften und überreichte es dem alten Herrn, der es sofort aufklappte und durchlas. Nachdem er alle wichtigen Angaben im Schein einer hellen Schreibtischlampe überprüft hatte bat er uns, ihm zu folgen. Langsam gingen wir hinter ihm her. Dann schaltete er das Licht der feierlich wirkenden Wandbeleuchtung ein und erst jetzt konnten meine Frau und ich sehen, dass der fensterlose Raum so groß wie eine Halle war, die sich tief in der Erde befand.



„Das ist schier unglaublich“, sagte sie hinter vorgehaltener Hand mit leiser Stimme zu mir. „Der Regenerator hat all die vielen Jahrhunderte keinen Schaden genommen. Er ist noch völlig intakt.“ Sie schaute mich an und ihre Augen blitzten wie zwei funkelnde Sterne vor lauter Glück. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich ebenfalls überwältigt war und drückte sie einen kleinen Moment an mich.



Ja, endlich waren wir am Ziel. Wir hätten es beinahe nicht mehr geschafft. Der Umweg über diese Organisation stellte ein notwendiges Übel dar. Wir wollten kein Aufsehen erregen.



Zaghaft und mit zitternden Knien gingen wir auf den in der Hallenmitte etwa zwanzig Zentimeter über den Boden schwebenden, riesenhaften Kubus zu. Er reichte bis an die Decke, die bestimmt eine Höhe von sechs oder sieben Metern hatte. Grelles Licht drang von Innen aus dem Würfel durch einen sich langsam verbreiternden Eingang und blendete uns für einige Sekunden. Der Regenerator war aktiv.



Der Alte ging jetzt schnell an uns vorbei und blieb dann vor dem gewaltigen Kubus stehen, den er irgendwie zu bewundern schien. Dann drehte er sich zu uns herum und fing an zu reden.



„Sie stehen hier vor einem dieser sagenhaften Regeneratoren, von denen es weltweit angeblich nur zwei geben soll. Ein professioneller Schatztaucher fand dieses Wunderding in einem völlig intakt gebliebenen außerirdischen Raumschiff, das er im Jahre 2050 in der Nähe einer unbekannten Insel im Pazifischen Ozean durch Zufall entdeckte. Das gewaltige Raumschiff konnte er nicht bergen, das war ihm klar, wohl aber diesen Würfel, der sich schwebend in einer der geöffneten Lade- oder Rettungsluken befand. Der zweite Kubus wurde nie entdeckt. Er blieb verschwunden. Niemand weiß bis heute, was aus der Besatzung des Raumschiffes geworden ist, die aus irgendeinem Grund im Pazifischen Ozean vor der kleinen unbewohnten Insel mit ihrem Schiff im Meer gelandet war. Sie müssen es verlassen haben, denn es wurden keine Leichen gefunden. Vielleicht wollten sie das Leben der Menschen erforschen und haben den zweiten Würfel einfach mitgenommen. Wohin? Wer weiß das schon? Nun, nachdem der besagte Schatzsucher mit vier weiteren eingeweihten Männern den Kubus in Sicherheit gebracht hatten und im Laufe der Zeit durch verschiedene Tests von seinen unglaublichen Eigenschaften erfuhren, wurde allen schnell die immense Bedeutung ihres hochbrisanten Fundes klar. Sie behielten daher das Geheimnis für sich und gründeten eine finanziell sehr einträgliche Geheimorganisation, die noch heute vom Entdecker des Regenerators geleitet wird. Ausgesuchte Personen zahlen ein Vermögen für die Verlängerung ihres Lebens durch die Verjüngung des von Krankheit und Tod gekennzeichneten alten Körpers. Theoretisch könnte man unsterblich werden, sooft man die Prozedur wiederholt. – Wer der Mann ist, der das hier alles möglich macht? Außer seinen engsten Freunden von damals kennt ihn niemand. Keiner von uns hat weder ihn noch seine eingeweihten Mitarbeiter je so richtig zu Gesicht bekommen. Das einzige, was wir von ihnen wissen ist die Tatsache, dass sie alle fünfzig oder sechzig Jahre unter strengster Geheimhaltung als alte Männer zu uns kommen und als junge diesen Raum wieder verlassen. Der junge Kerl von oben an der Tür, der Sie reingelassen hat, soll angeblich ein Mitglied des Bergungsteams von damals sein. Jedenfalls behauptet er das. Er sagt, dass der Regenerator einige Geheimnisse in sich birgt und angeblich sogar so etwas ähnliches wie ein kleines Raumschiff sein soll. Einige Kammern sind einfach nicht zu öffnen, weil sie versiegelt sind und nicht geöffnet werden können. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Seiner Ansicht nach müssen sich ungeheure Energiemengen dahinter befinden. Er spricht von komprimierter Antimaterie oder so, die, wenn sie unkontrolliert freigesetzt würde, einen ganzen Planeten in Schutt und Asche legen kann. Ich verstehe davon allerdings nichts. – Tja, das ist so im Großen und Ganzen die Geschichte dieses Dings hier. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich würde Sie jetzt nur noch darum bitten, die vordere Kammer des Kubus zu betreten. Legen Sie sich getrennt in die beiden Liegebuchten und schließen Sie Ihre Augen. Bleiben Sie ganz ruhig, wenn die Kammer hermetisch geschlossen wird. Die ganze Prozedur dauert nicht länger als eine halbe Stunde. Danach können Sie den Regenerator verlassen und sind wieder so jung wie früher, als Sie siebzehn oder achtzehn Jahre alt waren. – Viel Glück, meine Herrschaften und ein angenehmes, neues Leben wünsche ich Ihnen noch nach Ihrer Verjüngung!“



Meine Frau und ich gingen jetzt langsam auf den weit geöffneten Eingang des Kubus zu, dessen Außenhülle zu vibrieren begann.



„Ich bin überwältigt. Wir haben es geschafft, Elena. Nach so langer Zeit können wir endlich unsere Mission der Erforschung des Planeten Erde zu Ende führen. Es ist fast wie ein Wunder, dass wir den Kubus doch noch rechtzeitig gefunden haben. Was haben wir uns viel Ärger damit eingehandelt, als wir damals das Raumschiff so sorglos und unbeobachtet zurück ließen. Keiner von uns beiden wäre doch auf die Idee gekommen, dass man unser Raumschiff unterhalb der Meeresoberfläche in einem der abgelegensten Ecken dieser Welt je entdecken würde. Die Menschen sind wie die Ameisen. Sie sind einfach überall.“



„Ken, lass uns nicht mehr daran denken. Wir haben Anfängerfehler gemacht. In Zukunft wird uns das nicht mehr passieren.“



Elena drehte sich jetzt ganz zu mir herum und schaute mich aus zufriedenen Augen an. Ihr von tiefen Altersfurchen durchzogenes Gesicht strahlte plötzlich eine unglaubliche Ruhe aus. Dann fuhr sie mit sanfter Stimme fort: „Ich dachte zuerst, wir würden es nicht schaffen. Aber jetzt, wo ich den Regenerator betrete, weiß ich, dass sich unsere Arbeit und unsere Ausdauer gelohnt haben. Sicher, ich gebe zu, das der Peilsender Schwierigkeiten hatte, den Kubus zu lokalisieren. Sie haben ihn wirklich gut abgeschirmt. Nicht umsonst sind wir auf der Welt des Menschen ein ganzes Leben lang herumgereist und haben nach ihm gesucht. Wir sollten uns daher beeilen. Ich kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu fliegen.“



Ich gab Elena recht. Mir ging es nicht anders. Aber vorher mussten wir noch mit dem Kubus zu unserem wartenden Raumschiff im Pazifischen Ozean fliegen, das uns zum Planeten ALTARIS II in einer Spiralgalaxie, 290 Lichtjahre vom System Sol entfernt, zurück bringen wird. Auf dem Flug zum Raumschiff würde uns der Regenerator im Innern des Kubus verjüngen, damit wir als junge Besatzung endlich die langersehnte Reise durch die Unendlichkeit des Alls zurück zu unserem Heimatplaneten beginnen können. Leider müssen wir den zweiten Kubus auf der Erde zurück lassen, der mehrere Generationen lang unsere einzige Überlebenschance gewesen war, bis er vor etwa sechzig Jahren bei einem schweren Erdbeben von herabstürzenden Felsbrocken schwer beschädigt wurde. Das wiederum führte dazu, dass der Regenerator seine Funktion automatisch abschaltete, um die Energie auf den Erhalt des Magnetfeldes zu konzentrieren. Eine der vier Materiekammern war stark deformiert worden und drohte zu zerbersten. Die Antigravitationshülle mit ihrem starken Magnetschild wird wohl irgendwann dem gewaltigen Druck der Antimaterie im Innern der Kammern nicht mehr standhalten. Gelangt die Antimaterie erst mal nach draußen, entsteht sofort ein alles vernichtender Materiebrand, der sich schließlich mit wachsender Geschwindigkeit durch den Planeten fressen und am Ende dieses unumkehrbaren Prozesses die Erde wie einen aufgeblasenen Ballon explodieren lassen wird.



Aber bis dahin kann es noch lange dauern. Die Antigravitationshülle hält mehrere hunderttausend Jahre stand, bis sie vielleicht mal irgendwann kollabiert. Ob die Menschheit dann noch existiert, ist unseren Untersuchungen und Forschungsergebnissen nach sowieso sehr fraglich.



Unsere Mission war jedenfalls ein voller Erfolg. Noch nie war ein Raumschiff unserer Rasse so weit weg in den unbekannten Weiten des Weltraums vorgedrungen. Die wissenschaftliche Ausbeute ist einfach überwältigend.



Doch bis wir ALTARIS II erreicht haben werden, bedarf es noch sehr vieler Regenerationen unserer Körper. Aber wenn wir endlich da sind, wird man uns als Helden feiern.




Ende

(c)Heiwahoe


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Beschreibung des Autors zu "290 Lichtjahre weit weg von zu Haus"

Sie kam von weit her und waren auf einer wissenschaftlichen Mission zur Erde. Doch die Rückkehr zu ihrem eigenen Planeten wäre bald um ein Haar gescheitert.

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