Aus alt-überlieferten Märchen wissen wir, dass schon aus den besten Häusern die bösesten Hexen kamen. Gute Hexen aus schlechten Häusern sind dagegen immer schon sehr viel seltener anzutreffen gewesen.
Woher die Hexe Susi Wohlfahrt kam, kann heute zwar nicht mehr zweifelsfrei ermittelt werden, aber man vermutet nicht ganz zu Unrecht, dass ihre Familie aus einem kleinen Dorf am Fuße des Blocksbergs, unweit der berüchtigten Teufelsmauer kam. Sie schien aus sehr gutem Hause zu stammen, weil sie sich immer alles ganz genau überlegte, bevor sie agierte.
Ihr Terminkalender war voll von akribischen Eintragungen, wie z.B.: Donnerstag. 10.11. 11 Uhr 11 Min.: Mein Mann hat 2 Taler 50 Kreuzer für eine Wurstsemmel ausgegeben. Freitag, 11.11. 11 Uhr 11 Min. Ausritt mit dem Besen zum Teufelstanz am Hexenplatz Nr. 13. 5 Taler für Verhütungsmittel ausgegeben.
Susis Freundinnen, die guten Hexen aus schlechten Häusern, fanden alles, was die böse Hexe aus gutem Hause tat oder auch unterließ, anbetungswürdig.

Eines Tages ergab es sich, dass der große Zauberer Quasimir Querlein vor ihrer Türe stand und ein Lass begehrte. Die böse Hexe ging zum Schein auf das Anliegen des Zauberers ein, bat ihn in ihre Küche und bereitete ihm ein Festmahl. Nach dem Essen forderte Quasimir erneut ein Lass. Das aber lehnte Susi vehement ab. „Wie kann ich dir
ein Lass gewähren, wenn du nichts für mich gezaubert hast?“ fragte sie.
Er wiederum erkundigte sich bei ihr, was er denn für sie hätte zaubern sollen?
„Da du ein großer Zauberer bist, kannst du dich ja auch für mich kleinzaubern. Erst dann gewähre ich die ein Lass nach dem andern.“
Angetrieben von der puren Fleischeslust zauberte sich Quasimir Querlein für die böse Hexe winzig klein. So klein, dass er sogar in ihr kaltes Herzelein passte. Zu seiner eigenen Sicherheit jedoch hinterlegte er am Waldesrand einen Wiederherstellungszauber seiner Persönlichkeit.

Mit dem kleinen Mann im Herzen ging sie fortan weiterhin regelmäßig zum Hexenplatz Nr. 13, um es dort wild mit dem Teufel zu treiben. Dabei hüpfte ihr Herz so stark, dass es dem kleingemachten Zauberer übel erging. Susi sang dabei immer in den höchsten Tönen:
„Rüttel dich und schüttel dich, ich üb´ mich auf dem Hexenstrich!“

Dieses Prozedere praktizierte sie 100 Jahre lang und bereitete dem Zauberer Quasimir Kummer und Harm. Die Hexe indes vergaß, wer in ihrem kalten Herzen wohnte und trieb alles auf die Spitze, indem sie ihm auch kein Festmahl mehr bereitete. Das allerdings wurmte den kleinen Zauberer derart, dass er sich in den großen Zauberer zurück verwandeln wollte. Dabei stellte er mit Schrecken fest, dass sein Zauberstab in den letzten 100 Jahren schlapp geworden war. Er konnte ihn schwingen, wie er wollte – eine Zurückverwandlung stellte sich als äußerst schwierig dar und außerdem fand er die Stelle am Waldrand nicht mehr, wo er den Wiederherstellungszauber hinterlegt hatte.

Da kam wie aus dem Nichts die gute Hexe Luna aus schlechtem Hause und rettete seinen schlapp gewordenen Zauberstab mit einem zarten Griff. Zugleich reichte Luna dem großen Zauberer die Hand, um ihn aus dem erkalteten Herz in die Wärme der Sonne zu ziehen. Ein kräftiger Zug in die eine und in die andere Richtung – und schon stand Querleins Quasimir in voller Größe vor ihr. Das war eine Freude! Am Waldesrand hingegen zischte und brodelte es gewaltig, als der Persönlichkeitszauber nach so langer Zeit nun endlich doch zu wirken begann. Die Bäume schienen sich zu schälen, Schlangenmoos wickelte sich um steil aufragende Hexenpilze und sprühende Funken stoben aus der staubtrockenen Höhle am rauschenden Bach. Nicht nur am Bach rauschte es ganz gewaltig, sondern auch in den Kronen der allerhöchsten Bäume. Wie ein tropischer Gewittersturm erfasste die neue Liebe eine veränderte Welt. Überall sprossen wilde Blüten über Nacht, sodass der Mond heller und die Sterne näher schienen. Am Abend danach schlenderte ein naiver Müllersmann daher und sang aus voller Brust die Waldeslust. Er trällerte sein Liedchen so laut, dass in allen guten Häusern die gläsernen Lampen zerbarsten. Auch in Susi Wohlfahrts Haus war die gesamte Beleuchtung ausgefallen und konnte auch nicht mehr entfacht werden.

Nun erst bemerkte sie, dass sich der kleine Zauberer Quasimir aus ihrem Herzen fortgestohlen und hinter sich alle Türen zugeschlagen hatte. Von Quasimirs querer Konsequenz überrascht, versank die Hexe in einer tiefen Depression. Aus Verzweiflung ging sie deshalb zum Hexenplatz Nr. 13, um sich dort erneut mit dem Teufel zu trösten. Nach vollbrachter Liebesleistung schlug sie dem Teufel einen satanischen Deal vor. „Wenn du dich so klein machen kannst, dass du in meinem kalten Herzen Platz findest, will ich dir das Glück der Erde zeigen. Dann darfst auch du mir dienen und mir immerfort zu Willen sein“, sagte sie. Da lachte der Teufel infernalisch und schrie sie an:

„ Nicht jeder Mann ist Quasimir!
Nicht alle sind so blöd!
So verfluche ich dich jetzt und hier,
wie es im Buch der Hölle steht.“

Sich verfolgt und betrogen fühlend, begab sich Susi Wohlfahrt auf „Los“ und zog mehrere Ereigniskarten. Die erste zeigte den 'Stern', die zweite den 'Gehängten' und die dritte 'Transformation' (Tod). Dann legte sie das 'Verwunschene Kreuz'. Vergeblich suchte sie 'Zwei der Steine', die 'Zehn der Kelche' sowie die Karte der 'Gerechtigkeit' Nr. 11(das Gleichgewicht). In weiser Voraussicht hatte Quasimir diese Karten allerdings schon vor längerer Zeit aus dem Spiel entfernt. Statt dessen wurden von ihm drei neue Karten mystisch magnetisiert. Es handelt sich dabei um die 'Sieben der Schwerter', den 'Mond' und den 'Turm'. Als sie das 'Ass der Kelche' zog und gleich darauf die 'Sonne', wurde die Sonnenkarte so heiß, dass sie das 'Ass der Kelche' verbrannte. Vor Schreck über diese rätselhaften Vorkommnisse, floh Susi augenblicklich in das Land ihrer dämonischen Vorfahren.

Dort traf sie ihre verstorbene Mutter, die schon sehnsüchtig auf sie gewartet hatte. Doch anstatt sie innigst zu umarmen, machte sie der armen Frau bittere Vorwürfe:
„Alles, was du mir in puncto Männerwelt geraten hast, hat sich als falsch erwiesen. Deshalb sollst du nun im Hades vertrocknen!“ Und schwuppdiwupp, fiel die gute Mutter als ein Häufchen Staub zu Boden. Aus tiefen Schluchten stiegen nun die Geister empor, die Susi einst gerufen hatte, um groß und stark zu werden. Sie schleppten sie auf den Vulkan der Inbrunst und tanzten mit ihr den Samba Magicus. Alles geriet in wilde Ekstase und schließlich außer Kontrolle. Auf dem letzten Höhepunkt ihres Lebens ließen sie die Geister dann fallen und sie stürzte kopfüber in den feurigen Schlund der Vergessenheit.

Im selben Augenblick taten sich für die gute Hexe Luna aus schlechtem Hause und den großen Zauberer Quasimir Querlein die Pforten des Paradieses auf. Dort lebten sie viele Jahrhunderte lang glücklich, zufrieden und durften sich ausschließlich von Baum der Erkenntnis ernähren. Die Erkenntnis wurde groß und größer und ist heute bekannt unter dem Namen: Kategorischer Imperativ.

Die böse Hexe aus gutem Hause

© Alf Glocker


© Alf Glocker / Roland Walter


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Kommentare zu "Die böse Hexe aus gutem Hause"

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Sonja Soller   Datum: 28.04.2022 14:53 Uhr

Kommentar: Was du nicht willst, das man dir zufügt, das füge auch keinem anderen zu!!
Oder so ähnlich!!

Lieber Alf,
die Menschen sind nicht nur in der Fantasie egostisch, selbstverliebt, herrschsüchtig, besitzergreifend usw.!!! Es gibt sie sicher auch in der Wirklichkeit!!!!
Wieder interessant geschrieben!!! Gerne gelesen!!

Herzliche Grüße aus dem kaltsonnigen Norden, Sonja

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Alf Glocker   Datum: 28.04.2022 15:05 Uhr

Kommentar: Danke dir liebe Sonja -
ja, da kannst du recht haben

Herzl Grü aus dem warmsonnigen Süden
Alf

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Jens Lucka   Datum: 28.04.2022 21:54 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, ich sollte es vielleicht auch einmal versuchen , mit einem ausgiebigeren Text.

Herzliche Grüße von Jens

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Alf Glocker   Datum: 29.04.2022 9:11 Uhr

Kommentar: Genau!
Warum nicht?!

LG Alf

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Wolfgang Sonntag   Datum: 03.05.2022 10:27 Uhr

Kommentar: Lieber Alf,
gekonnte Lektüre.
Liebe Grüße Wolfgang

Re: Die böse Hexe aus gutem Hause

Autor: Alf Glocker   Datum: 03.05.2022 14:00 Uhr

Kommentar: Danbk dir, leiber Wolfgang!

Liebe Grüße
Alf

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