Schlichte Geländer aus dunklem Stahl mit geraden Längsstreben ziehen sich durch die Etagen des Treppenhauses. Von den unprominenten Fußmatten vor den Türen abgesehen, sieht alles gleich aus. Und so sollte es auch sein. Denn genau dafür ist es da, nur zum durch laufen.
Meine Stiefel bewegen sich über den grau melierten Steinboden den Flur entlang. Glatt und nahezu spiegelnd, gibt er vor sauber zu sein. Die halbrunden Lampen an der Decke, in welchen sich mit der Zeit tote Insekten gesammelt haben, erhellen die schmucklosen Wände. Im Vorbeigehen sehe ich mein Spiegelbild in den schwarzen Fenstern. Wäre ich zehn Zentimeter größer, würde das vielleicht bedrohlich wirken, als Gestalt mit Kapuze.
Eine schwere Metallkette mit einem Schloss an meinem Hals, an der eine etwas dünnere befestigt ist, blitzt silbern über den einheitlich schwarzen Sachen. Ich gehe spät Nachts raus. Auf dem Weg nach unten kommt mir Essensgeruch entgegen, sowie ein leichter Windzug. Die automatische Haustür, die nicht automatisch geht, steht einfach offen.
Nochmals nehme ich mein Handy aus der Hosentasche und schreibe. Dann geh ich jetzt los, meine Herrin.

Ich trete raus in die Nacht. Es hat geregnet. Der Asphalt ist nass, die Luft kalt und trocken.
Links stehen die Bänke aus grünem Gitter verwaist da. Ein paar blattlose Bäume, eine vielblättrige Hecke, ein hoher Stein in Scheibenform. Das Gewicht der Leine vorn an meiner Hundekette zieht etwas. Diese bewegt sich mit jedem Schritt und gibt manchmal ein leises metallisches Klimpern von sich. Meine Mundwinkel wollen sich kurzzeitig nach oben ziehen, als mir in der Kopf fährt wie sie mich beschimpfte „Du Idiot, dann geh sie holen“, als ich etwas zu wörtlich verstanden hatte, und die Leine nicht direkt mitgenommen.
Sie brennt wie Feuer in meinem Herzen, das mir die Richtung zeigt. Der Grund weiterzumachen, noch nicht aufzugeben. Es schmerzt so unfassbar schön. In die andere Richtung blickend, sehe ich die S-Bahn in hundertzwanzig Meter Entfernung vorbeifahren. Es ist die letzte gegen zwei Uhr, welche mit leeren Wagen zurückrollt. Die Schranken senken sich mit eintönigem Signalton. Ich biege in eine Nebenstraße und werde dezent unsichtbar. Jemand der nur nachts da ist.

Die Grablichter flackern einzeln aus dem schwarz des Friedhofs. Dieser ist klein und ansehnlich. Eine Kreuzförmige Steinsäule steht in der Mitte. Ich gehe noch an dem schmiedeeisernen Tor vorbei. Vielleicht ist es zu früh dafür, dort zu bleiben.
Die meisten Häuser der Straße sind neueren Datums. Meine Schritte hallen von den langweiligen Hauswänden.
Auf der nächsten Ecke steckt ein umgefahrenes Verkehrsschild. Es steht dort, wie mit spitzem Winkel in den Boden gerammt. Es erinnert mich an einen Moment.
Ich wechsle die Straße Richtung Ortsmitte. Die Straßenlaternen leuchten gelborange auf leergefegten Teer.
Geparkte Autos stehen stumm an den Seiten, wie willkürlich angeordnet. Das Licht der Laternen spiegelt sich im Lack. Rote kleine Punkte blinken hinter den Scheiben. Eine Weile muss ich mir wie unter Zwang bei jedem Auto, an dem ich vorbeigehe, vorstellen wie es in die Luft fliegt. Es macht die Ruhe kaputt, auch wenn ich es nicht ernst nehme. So beunruhigt das letztlich. Die Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf. Zurück in die Realität, denke ich bitter.
Es riecht nach frisch entzündeten Kerzenflammen jetzt und Kamin, als der Wind aufkommt. Die Kälte kriecht langsam unter meine Kleidung.

Rauschen ferner Autos von der Autobahnbrücke, sowie das Summen und Tönen der Fabriken erfüllt fortdauernd die Luft. In der Nähe fällt krachend ein Rollladen runter. Die letzten Lichter erlöschen nach und nach. Ich gehe zügigen Schrittes weiter.
Ein Flugzeug pflügt über den Nachthimmel. Das Geräusch breitet sich laut und in Wellen aus. Ich sehe nach oben. Es ist ein Vogel aus Metall, mit starren Flügeln. Er hat rote, grüne und weiße Leuchten an den Enden, sowie Scheinwerfer, die nur bei Nebel so skurril nach vorne scheinend aussehen.

Ein Auto schnurrt in gedämpftem Tonfall vorbei, als wolle es keinen wecken. Ein anderes altes Haus hat blaue Fensterläden und blaue Dachziegeln über dick weiß angemaltem Mauerwerk. Es wirkt unpassend für ein Stadtbild, und sieht nicht aus als würde es nach Zitrone riechen. Eine Reihe kalt weißer Laternen einer Querstraße unterbricht die Atmosphäre der orangegelben.

Ein Stromkasten steht an der Kreuzung, mit einem Graffiti darauf. Direkt kommen mir Erinnerungen von einer dunklen Gasse…
Es ist eine kalte Nacht. Sie zieht mich erbarmungslos an der Leine. In meinem Blickfeld sind ihre Beine in einer mattschwarzen engen Hose und hochhackige Stiefel die sich gestochen scharf vor dem Hintergrund abheben. Er ist verschwommen, so als zählt er nicht mehr.
Die Kette drückt und scheuert in meinen Hals, während ich auf allen Vieren bei ihren Füßen kriechen muss. Und meine Knie bekommen die Pflastersteine zu spüren. Ich kann kaum mit ihren Schritten mithalten, weshalb sie mir einen Tritt versetzt. „Streng dich an du Hund.“ Es ist eine Situation wie im Traum.
Eine Antwort will sie wahrscheinlich nicht. Eher das ich schneller krieche.
„Ja meine Herrin.“, sage ich dennoch leise.
Sie tritt erneut zu. Ich falle fast hin, aber gleichzeitig reißt sie an der Leine. Es schnürt mir ruckartig die Luft ab.
„Ich erinnere mich nicht, das ich dir erlaubt hätte zu reden.“, meint sie, als ich um Atem ringe.
Das ist deutlich, und es löst ein Lauffeuer von Schauern über meinen Körper aus.
„Jetzt kapiert?!“
Ich nicke. Erst dann gibt sie mir wieder etwas Luft.
„Gut.“
Ich versuche zu ihr hoch zusehen. Sofort schränkt das die Sauerstoffzufuhr weiter ein. Aber ich erhasche ein kurzen Blick auf ihr Gesicht, ihre Haare, bevor es zu stark würgt. Doch vermag ich nicht einzuschätzen, was sie im Sinn hat. Ungerührt von diesem Versuch geht sie weiter, und hält mich dabei wie ein Hund an der Leine.

Meine Herrin lässt mich bis vor einen schmalen Stromkasten kriechen, vor der Backsteinmauer am oberen Ende der Gasse. Kaum erkennbar, ist ein buntes Graffiti darauf. Sie tritt auf meine Hand, gefolgt vom dünnen Absatz ihres anderen Heels, der sich in meinen Rücken bohrt, als sie sich leichtfüßig auf den Kasten setzt. Wie sie das mit solchen Schuhen kann, verstehe ich nicht. Der zugehörige Schmerzenslaut meinerseits bleibt lautlos.
Ich knie mich vor sie, sehe auf den Boden, sehe etwas unsicher zu ihr hoch. Ihre Beine und Füße befinden sich direkt vor meinem Gesicht. Dann nimmt sie meine Leine kurz. Was exakt will sie, das ich tue? Sie sieht mit gesenkten Wimpern auf mich hinunter. Ihr Blick verrät nichts.
Sie gibt immer mehr Spannung darauf. Die Kette beginnt mich zu würgen, sodass ich dem Druck nachgebe. Ich stehe auf, aber das vermeidet nicht, das ich nach Luft schnappen muss. Sie zieht die Kette nur noch strammer. Mir wird schwindelig, aber ich ignoriere es, denn sie ist so nahe vor mir, das ich nichts anderes mehr wahrnehmen kann. Währenddessen haben sich meine Arme wie selbstständig um ihre Hüften gelegt. Sei vorsichtig, höre ich die altbekannte Stimme im Hinterkopf. Sonst liegst du ganz schnell auf dem Boden. Sollte ich sie um Erlaubnis Fragen? Dafür ist es womöglich etwas spät. Ihr Blick bannt mich mich. Sie sagt noch immer nichts. Ich habe nicht geahnt, wie sehr und vollkommen hilflos mich das macht. Ich will etwas sagen, doch sie lässt mich verstummen. Nahezu sanft zieht sie die Kette nochmals strammer. Obwohl es so verdammt brennt, überlagert sich der Schmerz. Der Druck um meinen Hals wird zum niederknien schön
Fassungslos sehe ich sie an. Ihre Finger streichen langsam über die Narben in meinem Nacken. Dann gräbt sie abrupt ihre Krallen in die versehrte Haut. Ich zucke zusammen.
Ich wusste nicht, das ich ihren Blick lesen kann, trotz allem. Das trifft. War ich davor so dumm. Als ich sie küsse, ist es wie ein Bedürfnis das sich nach sehr langer Zeit erfüllt, ihre weichen Lippen zu spüren. Sie zu schmecken und riechen. Und ich kann mich kaum zurückhalten. Sie löst ihre Hand von meinem Nacken und krallt sie fest in meine Haare.

Der Mond schiebt sich unbeeindruckt von meiner Fantasie, aber leuchtend weiß in die hellgrauen Wolken. Ein starker Kontrast vor dem blauschwarzen Äther. Gerade ist es still.
Langsam gehe ich weiter vorwärts. Die Müdigkeit macht sich in meinen Gliedern bemerkbar. Ich schiebe es beiseite. Nach oben schauend drehe ich mich um die eigene Achse und wieder zurück. Das Leder meiner Jacke knirscht dabei. Warum, kann ich nicht den ganzen Himmel auf einmal erfassen, nicht alle Sterne und Galaxien sehen.
Ich passiere ein paar gesichtslose Reihenhäuser, an der Zahl, farblos und eckig. Kleine unauffällige Vorgärten, mit je drei Standartgewächsen, den Boden mit Rasengitter zu und voller erbsengroßer Steine. Ich sehe darin das System. Wer anders ist, passt an keinen Ort

Eine verwitterte halbhohe Mauer, mit dreckigen Schlieren wie Rost vom Regen daran, erscheint drückend aus der Dunkelheit. Ich gehe daran vorbei, gehe wieder schneller.
An einem Haus öffnet sich mit einem leisem Knarren ein Dachfenster. In der Ferne ein Krankenwagen. Vor einem Haus liegt ein toter Tannenbaum auf dem Gehsteig.

Ein Fenster in einer Mauer aus etwas unregelmäßigen Klinkersteinen, mit schwarzem Rahmen. Es sieht aus, als hätte man es nachträglich eingebaut. Aber man kann nicht hineinsehen. Es ist vielmehr ein Bild, das es zeigt. Eine Fläche aus weißen Gardinen, zwei altmodische Vasen mit vertrockneten Blumen davor, wie aufgemalt.
Ich biege auf die Hauptstraße. Der Geruch nach Motoröl und Abgasen mischt sich mit kaltem Wind.
Große symmetrische Wohnungshäuser stehen schlafend nebeneinander. Dort wo ich jetzt bin bescheint eine einzelne Laterne fahl die Umgebung. Andere Passanten sind nicht zu sehen.

Ein Bewegungsmelder blendet mich, der plötzlich an einer Tür anspringt. Vor vielen davon sind drei oder vier Stufen.

Ich überquere die Straße und schlüpfe geradeaus in eine Abkürzung, die zum Wall führt. Es ist ein Trampelpfad. Man kann es nicht Deich nennen. Der Weg führt an der Mauer entlang hinter den Häusern her. Größere Gärten liegen in der Dunkelheit. Es gibt keine Laternen. Der Split knirscht unter meinen Stiefeln, da wo es nicht geteert ist.
Ein Gebäude im schwarz von dem man nur die Fenster sieht, wirkt als brenne es hinter jedem davon lichterloh.
Hinter einem düsteren Pferdestall spiegeln sich einzelne Lichtfetzen in den länglichen Pfützen der matschigen Reifenspuren. Man sieht es nicht, doch das Scharren aus den Holzverschlägen ist kein Mensch.
Geradeaus hebt sich ein Fabrikturm in den Nachthimmel, groß genug ragt er hoch. Der Weg macht eine Kurve und vor schwarzen Umrissen der Bäume erscheint selbst dieser Turm ein schönes Bild abzugeben. Die roten Warnleuchten in Dreiergruppen blinzeln ab und an. Und es ist derselbe.
Ich bleibe stehen, und sehe zurück auf den unbeleuchteten Weg und nach vorne. Die Hälfte verschwindet im schwarz.
Trotzdem kann ich weiter sehen als hundert Meter. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Der Mond erscheint wie eine fahle Sonne aus den Wolken so hell, das ich meinen Schatten sehen kann.

Es ist eine Umgebung, eine Atmosphäre, wo ich an sie denken muss. Nicht anders kann. Meine Herrin, ich will sie sehen, und mir einbilden das sie dort steht, so sehr. Eine schwarze Silhouette, über deren anmutigen Rändern im starken Kontrast nahezu weiße Haare sind. Sie steht mit dem Rücken zu mir. Als sie sich umdreht, funkelt etwas in ihren Augen. Voller Berechnung, Herausforderung und Abenteuerlust. Wer mit dem Leben kämpft, kämpft am härtesten.
Ich sehe, wie sie ihre Lippen leicht verzieht, zwischen Spott und Anzüglichkeit. Ich starre sie an, dezent am Boden angewachsen. Ich würde gern jetzt einfach hier stehen blieben, und den Moment anhalten…

und ich stelle mir vor,
wie ich Schritte auf sie zumache, und mich vor sie auf den steinigen Boden knie. Wenn das wehtut ist es richtig. Und wenn es Flügel hätte. Komplett schwarz gekleidet sieht man nicht mehr viel von mir. Wenn sie nicht da stünde, würde man den Weg wohl für leer halten. Ich sehe nach unten, und spüre wie sie auf mich herabschaut. Die Spannung ist ein elektrisches Feld das sich um uns ausbreitet. Doch der Moment ist ruhig. Ohne Worte. Meine Leine baumelt lose von meiner Halskette herunter. Sie greift danach und hält sie fest. Ich knie vor ihr. Ein Bild von Weitem.

Wenn man über die dunkle Fläche des Uferwaldes und den Fluss hinweg sieht, erstreckt sich auf der anderen Seite eine Festung aus Fabrikgebäuden, Kühltürmen, Silos und Containern, Rohren und Förderschächten. Gespickt von einem Meer an grellweißen Lichtern, und Dampfwolken die zwischen den Gebäuden aufsteigen, wirkt es wie eine Insel der Maschinerie. Dieses Werk läuft Tag und Nacht. Und es schläft nie.

Auf dem Rückweg fängt es an zu regnen. Ein immer dichterer Vorhang geht auf mich nieder. Es stört mich nicht. Aber neben allem trüben, kommt mir der Gedanke, das ihr das vielleicht gefallen würde, wenn ich wie ein begossener Pudel ausseh.
Ich nehme ein weiteren Schleichweg, welcher die Verbindung zu einer breiten Straße ist. In orangegelbes Licht getaucht, glüht der nasse Teer.
Die Gegend scheint leer, ebenso wie die Straße. In größeren Abständen sind wenige deutlich heruntergekommene Häuser. Auf der anderen Seite befindet sich eine verwilderte Wiese, die zermatscht und umgefallen wirkt. Dahinter ein Umspannwerk.
Ein hoher Maschendrahtzaun mit den dreieckigen Warnschildern, der auf einer niedrigen Betonmauer aus L-Steinen steht, versperrt den Zugang. Die verschiedenen Schaltfelder sind in einem strukturierten über- und untereinander aus Leitungen, Spulen und Messgeräten auf Metallgerüsten angeordnet. Über allem liegt ein anhaltendes Geräusch, wie etwas zwischen raschelndem Laub und knistern in der Luft. Zuzüglich des Transformators, der ein monotones Brummen von sich gibt. Ein fensterloses kleines Gebäude, steht am anderen Ende der Anlage.
Es macht eine beunruhigende Atmosphäre. Aber ich finde es mehr faszinierend, wie etwas derart Gefährliches unsichtbar sein kann. Und stelle mir vor, wie ich über den Zaun steige und zwischen diesen fremdartigen Aufbauten umherwandere.

Die Straße führt lang und schnurgerade auf hohe Speichertürme des anliegenden Fabrikgeländes zu. Ich gehe einfach in der Mitte, denn hier ist niemand. Mir wird kalt, und meine Haut wirft langsam Blasen an Händen und Beinen.
Gedanklich bin ich bei ihr… mir zuckt ein Bild durch den Kopf wie sie mich ohrfeigt, und dabei richtig durchzieht. Ihre schwarzen Krallen kratzen blutig.
Davor befindet sich ein Bahnübergang. Ich blicke ohne zu blinzeln in die Ampeln, grelle rote und gelbe Signalleuchten, die sich im nassen Teer am Boden verdoppeln und verdreifachen. Über die Schienen hinweg, ist die Straße in beiden Richtungen leer.

Spaziergang durch die Nacht


© D.M.


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