Es war einmal ein Menschlein namens Globi, das an Offenheitssucht litt. Sein gesamtes Umfeld – was nicht weniger als die gesamte Menschheit war – bezeichnete sich als ehrlich und weit offen. So offen, dass man nicht einmal ein Fenster mehr zu öffnen brauchte, um frische Luft zu atmen. Das beeindruckte das arme Menschlein so sehr, dass es beschloss, nie wieder zu lügen und immer voller Empathie auf andere zuzugehen. Dem Rest der Menschheit gefiel dies natürlich ausgezeichnet, vor allem, weil Lug und Trug im rechten Anstrich ehrlicher aussah, als die Wahrheit darselbst.

Um mit sich selbst ins Reine zu kommen, versuchte Globi, jeden nur denkbaren Standpunkt vorbehaltlos zu verstehen und trotzdem nach den Regeln geltender Etikette zu handeln. Etikette aber ist, wenn man die Vernunft vergisst und stets nach dem Zeitgeist handelt, der sich laufend dreht und wandelt. Dabei offenbaren sich jedoch die düsteren Hintergründe der List.

Wie erreicht man es, als ehrlich, offen oder gar gut zu gelten?

Dabei gibt es der Verstand gar nicht her, Offenheit an sich herumpraktizieren zu lassen. Nachdem es jedoch scheinbar jeder versucht, offen und ehrlich zu sein, bemerkt allerdings nur der stets sich irrende Denker, dass alle Versuche in diese Richtung ergebnislos bleiben müssen. Denn die völlige Offenheit widerspricht dem Evolutionsprinzip.

„Üb immer Treu und Redlichkeit,
sei dumm und fröhlich alle Zeit.
Dann kommst du schnell ins kühle Grab;
von allen falschen Wegen ab.“

Evolution ist, was keiner wahrhaben möchte: von Geist, von Stärke und von List geprägt.
Ist es denn nicht immer die Frage, ob der Stärkste siegt oder der Weise sich auf dem rechten Weg befindet, wenn der Listige sie in die heimtückischen Fallen anerkannter Regeln lockt? Pragmatisch gesehen, hat der Listige grundsätzlich Recht. Er ist Meister aller Klassen! Alle Anderen landen im Eintopf der Geschichte, denn ein normaler Mensch verkörpert lediglich die Gesetze der Evolution, sonst nichts weiter. Er hat keine andere Wahl.

Globi verstand sich, ohne sich genau zu kennen, als Suchender in der Sparte der Weisen in Unschuld und Güte. Ohne Unterlass versuchte er, als flackerndes Lichtlein beispielhaft voranzuschreiten. Es dauerte keine tausend Schritte, bis er immer wieder bemerken musste, dass er im Kreis gegangen war. Aber Kreise haben auch ihre Vorteile: Man kommt immer wieder dort an, wo man nicht hingehört. Denn einmal in eine Kreisbahn versetzt, erliegt man falschen Verlockungen und verfällt der Abhängigkeit einer fatalen Gravitation, die Evolution nur bedingt zulässt. Sie besteht nicht aus Leistungen und Rekorden, sondern viel eher aus der Vortäuschung von Leistungen und Rekorden.
In diesem Sinne ist es schon förmlich ein Negativ-Rekord, eine Leistung der Täuschung nicht zu erbringen.

So wurde alsbald klar, dass Globi, das arme Menschlein, zwar reich an Talenten, aber
arm an Durchsetzungsfähigkeit war und damit weit hinter allen Erwartungen seiner Selbst und der Umwelt zurückblieb.

Nutzlos vor sich hin vegetierend, war er außer Stande, sich mit seinem Schicksal zu arrangieren. Nachdem er offen genug für alles war, geriet er durch Heirat in einen nicht erkennbaren Hinterhalt der Natur und lebte viele Jahre, alles Übel verdrängend, glücklich.
Aus Angst vor der Realität, versäumte er es, Kinder in die Welt zu setzen. Als ihm aber seine philosophisch verbrämte Offenheit trotz dessen an den Rand des Existenzminimums brachte, beschloss er, sich auf das Terrain des Humors zurückzuziehen. Er begann lustige Märchen zu schreiben!

Dabei fragte er sich immer und immer wieder: „Wie sieht Humor aus?“
Nach langen, unvollkommenen Studien kam er zu der Einsicht, dass Humor entweder völlig nackt oder schwarz gekleidet den besten Eindruck hinterlässt. So fing er auch alle seine Märchen mit folgenden Worten an: „Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.“

Nach einigen schlechten Jahren wurden seine Märchen tatsächlich wahr und Globi erkannte nun endlich, dass jede Offenheit ein düsteres Geheimnis in sich birgt.
Von nun an wusste er, was List und Tücke bewirken können und deshalb verfasste er seine Texte nur noch nach den konformen Mustern menschlicher Ignoranz.

Phantasievoll lügen ist das Schönste auf der Welt. Wer noch nicht gemerkt hat, dass er lügt, sollte versuchen, dieses Märchen zu verstehen und gleichwohl eine Lehre daraus ziehen: „Wer zuerst kommt, lässt das Mausen nicht“ oder auch „Ein blindes Huhn ist jedes Glückes Schmied!“

Merke: Kein Geheimnis ist düsterer, als eine falsche Absicht zur Offenheit. Sauber!

Das düstere Geheimnis der Offenheit

© Alf Glocker


© Alf Glocker / Roland Walter


5 Lesern gefällt dieser Text.

Unregistrierter Besucher


Unregistrierter Besucher
Unregistrierter Besucher

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Das düstere Geheimnis der Offenheit"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Das düstere Geheimnis der Offenheit"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.