1.



Ich werde in ein paar Stunden nicht mehr wissen, warum ich diese Zeilen geschrieben habe. Werde wahrscheinlich nicht mal mehr in der Lage dazu sein, diese zu lesen. Aber ich muss es auch im Grunde genommen nicht. DU musst es lesen können, Nika. Meine Ehefrau, Mutter einer bald Halbwaisen. Die beiden Lieben meines Lebens. Ihr sollt wissen, dass es Zeiten gegeben hat, in denen ich Herr meiner Sinne war. In denen ich euch lieben konnte.

Der Grund, warum ich dich geheiratet habe, Nika.

Der Grund warum du entstanden bist und zur Welt kommen wirst, Ria.

Was passiert ist konnte keiner vorhersehen. Es ist niemandes Schuld, auch wenn du nichts unversucht lassen wirst, den Grund zu finden und die herrschendende Gefahr in meinem Körper zu eliminieren, Nika. Ich kenne dich. Niemand dem ich begegnet bin hat mich jemals mit seinem Kampfgeist so beeindruckt wie du. Du wirst mich nicht aufgeben, auch wenn ich schon jetzt kaum noch ich selbst bin. Ich weiß das. Denn wir waren jede Minute unseres Lebens eine Einheit. Und ich hätte ebenso alles für dich gegeben. Alles für dein Leben gegeben. Für euer Leben. Für eine gemeinsame Zukunft meiner Familie.

Verzeiht mir.



























2.



Nika bückte sich nach dem Deckel des Marmeladenglases, der aus irgendwelchen schier unerklärlichen Gründen zu Boden gefallen war. Sie bückte sich und erhaschte, als sie wieder aufstand, einen Blick auf den alten Apfelbaum im Garten draußen vor dem Fenster. Dabei stand dieser aus der aktuellen Perspektive nicht mal direkt in ihrem Sichtfeld. Wie oft hatte sie schon in den kleinen von einem verwitterten Holzzaun eingefassten Garten geschaut und sich an der grünen Landschaft erfreut? Nichts neues. Und doch war jetzt gerade irgendwas anders. Irgendein Gefühl kroch in ihr hoch, übernahm nach und nach Besitz von sämtlichen Winkeln ihres Körpers und ließ sie nach Luft schnappen.

Eigentlich nicht ihre Art. Und genau aus diesem Grund ging sie entschlossen aus der Küche in den angrenzenden Flur und schlüpfte in ihren ausgelatschten Sneaker. Ihre Hand, welche die Klinke herunterdrückte, zitterte leicht. Sie atmete tief durch, besann sich und öffnete die Tür.

Der Herbst stand unmittelbar bevor, die ersten farblosen Blätter knirschten unter ihren Füßen, als sie das Fachwerkhaus umrundete und sich auf den Apfelbaum zubewegte. Ihr sprang beinahe das Herz unter der Rippe hervor, während sie immer langsamer wurde. Das ungute Gefühl, welches sie vor wenigen Minuten überrollt hatte, suchte sie erneut mit aller Macht heim und sorgte für unbegründete Nervosität. Sie wollte gerade dazu übergehen sich selbst laut Mut zuzusprechen, als sie auf der gegenüberliegenden Seite des Stammes angekommen war. Und in diesem Moment kamen keine klaren Worte mehr aus ihrer Kehle. Stattdessen entfuhr ihr ein undefinierbarer Laut. Irgendwas zwischen Wimmern und Röcheln. Sie wollte sich umdrehen und ins Haus zurückrennen. Die Tür hinter sich verriegeln und aus diesem beginnenden Albtraum aufwachen. Aber es würde nicht funktionieren. Soweit arbeitete ihr Verstand noch, um ihr das deutlich zu machen. Aber er ließ sich keinesfalls mit dem vereinbaren, was sie dort vor sich sah.

Damien lehnte mit dem Oberkörper am Stamm, die Beine lag ausgestreckt. Seine Arme hingen angespannt an seinem Körper hinab, die Fäuste so stark geballt, so dass sie selbst auf die Entfernung das Hervortreten der Adern an seinen Handgelenken deutlich erkennen konnte. Aber das war es keineswegs, was sie erstarren ließ.

Damian bebte am ganzen Körper. Sein Kopf, welchen er überstreckt gegen die Rinde drückte, war schweißüberströmt. Und aus seinen Mundwinkeln liefen dünne Fäden Schaum. Sie traute ihren Augen nicht. Sie wollte zu ihm und doch packte sie die nackte Angst bei dem Gedanken, ihrem Mann auch nur einen einzigen Schritt näher zu kommen.

Was zur Hölle war hier los?

Ein heiserer Schrei unterbrach ihre Gedanken und zwang ihre Sinne brutal in die Gegenwart zurück. Langsam hob sie den Blick und war sich aufgrund des sich ihr dargebotenen Bildes nicht ganz so sicher, ob sie es nicht selbst gewesen war, die geschrien hatte.

Damien lag mittlerweile am Boden, die Arme um seine stark bebenden Beine geschlungen. Unwillkürlich streckte sie eine Hand nach ihm aus. In diesem Moment schnellte sein Arm nach oben und seine Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk.

Ihr Herz hämmerte wie verrückt.

“Lass es.” Seine Stimme klang anders als sonst. Rauer. Gebrochen... “Komm` mir bloß nicht zu nah, Nika.”

Aus irgendeinem Grund war sie überrascht, dass er ihren Namen noch kannte. Und dann lösten sich die Tränen. Die plötzliche Angst drückte ihr die Luft aus der Lunge. “Was ist hier los? Was hast du?!”

“Ich weiß es nicht...” Er war kaum zu verstehen. “Ich weiß nicht, wie ich hier hingekommen bin. Was mit mir passiert ist. Ich weiß es nicht.”

Sie bekam keinen weiteren Ton heraus. Ihr Blick ging über den Gartenzaun hinüber zu der freien Landschaft dahinter. Irgendwas war hier im Gange. Aber was?

Sie wandte sich erneut ihrem Mann zu – und schreckte zurück. Er schaute sie geradewegs an. Das strahlende Blau seiner Augen hatte an Glanz verloren. Hatte an Farbe verloren. Als blickte ihr aus diesem so bekannten Körper eine andere Person entgegen. Etwas anderes.


© MajaBerg


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