Jahrhunderte nach Leylas Tod und dem unserer Kinder, unserer Enkelkinder, ging ich an jenen Ort, an welchem es begann. Der Anblick liegt mir noch heute schwer auf dem Herzen. Einst stand hier ein kleines, friedliebendes Dorf. Leyla und ich wuchsen hier auf, spielten in der Natur, welche das Dorf umringte.
Wir spielten auf den Hügelwiesen und saßen am See, schwammen im Teich. Diese Drillingseiche, so nannte Leyla sie gerne, war unser liebster Rückzugsort. Wenn man sich an sie lehnte, schaute man genau auf den Gipfel Riquas. Die zwei Höhlen in seiner Spitze gaben einem immer das Gefühl, als würde er einen ebenfalls anschauen. 20 Jahre lang lebten wir so. Mit dem Alter kamen mehr Aufgaben im Dorf, doch das hinderte uns nicht daran, jede freie Minute in der Natur zu verbringen.

Das Leben im Dorf endete, das als Familie begann. Wir bauten unser Haus am Waldrand auf der anderen Seite der Wiesen. Während des Hausbaus wurde sie schwanger, also baute ich es alleine zu Ende. Zuerst stellte ich das Schlafzimmer fertig, damit sie und die Babys sich ausruhen konnten. Da wir draußen noch die Feuerstelle hatten, baute ich die Kochstelle unter dem Kamin erst am Schluss. Aus der vorübergehenden Überdachung der Feuerstelle machte ich ein Häuschen, in welchem wir das Essen über den Winter lagerten.
Die Zwillinge wuchsen schnell heran. Eyva zu einer wunderschönen, jungen Frau, Astan zu einem mutigen, starken Mann. Ein Jahrzehnt nach dem Hausbau besiedelte ein neuer Stamm die Überreste des alten Dorfes.
Es dauerte nicht lang, bis Eyva und Astan neue Freunde fanden. Vor allem dauerte es nicht lang, bis Astan mit seiner Frau ein Kind bekam und mit mir einen Anbau am Haus errichtete. Sie mussten da beide gerade 23 gewesen sein. Eyva hatte zwar Verehrer, doch sie interessierte sich noch nicht für eine Familie. Sie studierte die Kräuter und Pflanzen der Umgebung und wurde zur Heilerin des nun neu errichteten Dorfes. Sie verstand sich gut mit Astans Frau. Marlei und Eyva verstanden beide viel von der Heilkunde und als mein erstes Enkelkind, Ingva, zu einem kleinen Mädchen heranwuchs, errichteten wir alle die Hütte, welche bald darauf die Alchemiehütte von Marlei und Eyva wurde.

Mit 27 Jahren bekam dann auch Eyva ein Kind. Eine Tochter Namens Lyra. Der Vater war ein Reisender aus einem fernen Land und wusste nichts von seinem Schicksal. Kurz nach Lyras Geburt verstarb Leyla. Wir schliefen eines Nachts ein, nachdem wir uns ein aller letztes Mal im Mondschein Riqua anschauten. Leyla lächelte mich beim Einschlafen an, das Mondlicht noch ein letztes Mal in ihren Augen leuchtend. Sie wachte am nächsten Morgen nicht wieder auf.
Astan blieb noch 13 Jahre bei uns, bis eine Bande an Räubern zuerst das Dorf und dann unser Haus überfiel. Er zog mit seiner Familie in ein Dorf im Westen Flyris. Weit weg von der Erinnerung an den Verlust seiner Mutter und den Überfall. Eyva und Lyra blieben noch einige Jahre bei mir wohnen.
In einem stürmigen Winter geschah es dann das erste Mal. Ich starb. Unwissend darüber, dass ich wiedergeboren würde, zogen beide nach Westen zu Astan. Am Abend meines Todes sah ich das letzte Mal von Nahem ihre Gesichter. In ihnen war Leyla zu sehen. Sie hatten die selben, grünen Augen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich wieder aufwachte. Der Prozess einen alten, toten Körper wieder lebendig und jung zu machen braucht seine Zeit. Als ich mich schließlich aus meinem Grab befreien konnte, war niemand mehr da. Das Haus stand leer, die Hütte war eingestürzt. Ein Sturm riss einen Baum auf ihr Dach. Das Haus war zwar voller Staub und Spinweben, doch das Holz zeigte noch keine Spuren von Verwitterung. Ich musste ein paar Wochen begraben gelegen haben. Eyva baute mir aus Holzstücken einen Grabstein. ,,Für einen liebenden Ehemann, Vater und Großvater. Möge sein Geist im Schutze Riquas ruhen."
Es dauerte mehrere Wochen, bis ich das Dorf erreichte, in welchem sie lebten. Dort erfuhr ich, dass Eyva zu ihrem Bruder gezogen sein muss. In den nächsten Jahrzehnten kam ich immer wieder als Reisender in das Dorf und schaute, was aus ihnen geworden ist. Nie zeigte ich mich ihnen. Selbst Ingva und Lyra waren mittlerweile älter als ich. Nach und nach verstreute sich die Familie. Astan war nicht mehr der selbe, nachdem Marlei an Fieber verstarb. Er lebte noch einige Monate zurückgezogen im Haus, bevor er sich wieder zu seiner Frau begab. Er war alt und der Winter setzte ihm schwer zu, doch bis heute bin ich mir sicher, dass der Grund für sein Ableben kein körperliches Leiden war. So naiv dies in dieser brutalen Welt auch klingen mag, kam sein Geist nicht mit dem Verlust seiner geliebten Marei klar, so glaube ich. Vielleicht ist dies auch nur der Wunsch eines trauernden, viel zu alten Narren, der sich ein Wiedersehen mit der Familie für seinen Sohn wünscht.
Ich besuchte meine erste Familie noch so lang, bis Eyva im hohen Alter an einem Herzleiden verstarb. Es war ein warmer Tag in der Mitte des Jahres. Sie ging die Straße entlang und setzte sich an den Brunnen, um ihre Beine auszuruhen. Aus der Ferne sah ich den Schmerz über ihr Gesicht gleiten, als sie sich an die Brust fasste und hinfiel. Ich rannte zu ihr, hob ihren Oberkörper in meinen Arm. Es war zu spät. Sie schaute in meine Augen, ihre durch die Tränen glänzend. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, auch wenn es nur für einen kurzen Moment verweilte.
Zwischen all den von Schmerzen verzogenen Regungen brachte sie mir ein Lächeln entgegen. Ich war starr. Tränen flossen mir über die Wangen. sie beugte sich näher zu mir, sichtbar unter großer Anstrengung. ,,Dann hat Riqua also wirklich über dich gewacht." Ein weiteres, kurzes Lächeln ging über ihre Lippen, dann löste sich jegliche Anspannung aus ihrem Gesicht und sie lag regungslos da. Ihr Kopf in meiner Hand. Wie damals, als sie noch ein Baby war.

Diese Geschichte hat mich müde gemacht. Ich erzähle euch morgen mehr von diesem Teil meines Lebens. Mein Körper mag seit 2000 Jahren immer wieder neu geboren werden, doch mein Geist ruht schwer in ihm. Habt Nachsicht.


© Patrick Pausch


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