Eine 23,3 cm große quadratische Vertiefung auf dem Boden, dunkelsteingrau. Es sah ein bisschen aus als wäre Sand darin. Ich hockte mich hin und untersuchte sie genauer. Der Sand war zu fein um von hier zu stammen, die einzelnen Körner zu groß. Es waren kleine weiße Kristalle, die aussahen wie Salz. Ich fuhr mit dem Finger an den Kanten des Rechtecks lang. Sie waren messerscharf.
Dieses Loch war die einzige Unregelmäßigkeit zwischen dem Kopfsteinpflaster, das sich weithin bis zum Garten erstreckte.
Ich befand mich auf einem verwaisten Vorplatz, gegenüber eines alten Anwesens. Vorne standen vier große weiße Säulen, die eine überdachte Veranda bildeten. Sie waren so glatt gestrichen wie mit Molke überzogen. Es erinnerte leicht an den Eingang eines griechischen Tempels. Doch wuchernder Efeu zog sich an Säulen und Mauern bis unters Dach hoch. Der hintere Teil war aus bernsteinfarbenen Ziegeln erbaut, die zersprungene Freitreppe voller Laub. Moos und Flechten setzen sich bereits unter den Stufenvorsprüngen und in den Fugen an.
Ich überlegte was es mit der eigenartigen Vertiefung auf sich hatte. Vielleicht war es ein Symbol oder ein geheimer Mechanismus. Da meinte ich ein Geräusch zu hören, ein hoher Klang wie von einer kleinen Glocke oder einem Glas. Ich sah auf, hinüber zur lindgrünen Hecke, die den Platz vom Garten trennte. In der Mitte befand sich ein schmiedeeisernes Gartentor. Der Anblick war interessant und äußerst komplex.
Die Gitterstäbe wanden sich in geschwungenen Schnörkeln und starren metallenen Blumenblättern, so verschlungen das man keiner der stilisierten Ranken mit dem Auge folgen konnte. Sie machten den Eindruck sich umeinander zu drehen. Wahrscheinlich war das Holztor verschlossen.

Ein heftiger Wind fegte über den leeren Platz und trieb mir ein Schauder über den Körper. Wolken schoben sich rasch über den Himmel. Unschlüssig stand ich auf und ging zu dem Tor. Ein schwaches blaues Leuchten schwebte dahinter auf anderthalber Höhe. Wie ein kleiner Lichtkegel, der aber keinen sichtbaren Mittelpunkt hatte.
Einen Augenblick blieb ich stehen und schloss die Augen. Ich konnte spüren, das etwas in diesem Garten war, etwas Außergewöhnliches. Ich musste es finden.
Noch immer mit geschlossenen Augen hob ich den rechten Arm, mit der Handfläche gerade nach vorne zeigend. Ich war mir sicher, das Tor würde sich als Trugbild herausstellen, sobald ich meiner Hand dabei zusah, wie sie über die eisenharten Rosen strich und würde einfach hindurch gleiten.
Ein unsichtbares Energiefeld umgab die Schließen. Ich spürte es auf meiner Handfläche kribbeln, konnte das Gewicht der Flügel spüren. Ich zog sie mit einem Gedanken, nur einem leisen Impuls zu mir heran. Das Tor schwang lautlos, wie von Geisterhand auf. Ich warf ein Blick zurück auf den unsauber asphaltierten Parkplatz, er war ebenso alt und etwas rissig. Dann betrat ich den Garten.
Vor mir in der Mitte stand ein steinerner Brunnen. Er plätscherte vor sich hin. Das Becken war weder rund noch eckig. Bis auf das leise Gurgeln des Wassers war es still. Rundherum erstreckten sich mannshohe Hecken. Ein friedliches Bild. Und eine Untertasse mit einer weißen Tasse Kaffee. Ohne Keks.
Ich wählte den Durchgang links von mir und folgte meiner Eingebung in die Tiefen des Labyrinths aus Lorbeerbüschen, wildem Thymian und niedrigen Zedern. Der Boden bestand aus kurzem matten Rasen. Man konnte sehen, das die vielen Pflanzen ihm die Kraft entzogen.
Je weiter ich ging, desto blaustichiger wurden die Hecken. Langsam wurde es dunkel. Die Stille legte sich wie Watte auf meine Ohren. Überall wo ich hinsah flimmerten schwache Lichtpunkte. An den knorrigen Wurzeln der Kastanien wanden sich Dornenranken wie Schlangen aus dem Boden und wanden sich um die Stämme, wo sie erblühten und winzige blaßblaue Schmetterlinge offenbarten, die in Schwärmen um die Tannenzweige huschten. Sie leuchteten als tanzende kleine Punkte mit einem milchigen Schein im Dämmerlicht. Der Tag neigte sich dem Ende zu.

Auf einmal durchbrach ein Pfeifen die Stille. Ich zuckte zusammen und bemerkte, das ich mich verirrt hatte. Meine schwarzen Klamotten waren klamm. Suchend sah ich mich um, aber es war unmöglich zu sehen, von wo ich gekommen war. Ich ging ein Stück zurück und sah um die letzte Biegung, dann wieder drei Schritte vor. Aber es sah alles gleich aus. Ich hatte nicht aufgepasst. Das Labyrinth hatte mich gefangen.
Da durchdrang ein tiefes sonores Surren, die düstereren Hecken. Es hörte sich bedrohlich an. Ich konnte den Ursprung nicht ausmachen. Es wurde immer lauter. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Rasch lief ich los, rannte die immer gleichen Gänge entlang, bog jedes Mal woanders ab und hatte trotzdem das Gefühl mich nur auf der Stelle zu bewegen.

Ich musste ewig gelaufen sein und fragte mich allmählich, ob ich nicht im Kreis lief. Das Summen war verstummt. Also drehte ich mich um und lief zurück, rannte immer weiter.
Meine Schuhe wühlten der lockeren Boden auf, so heftig rammte ich sie in den Boden. In den Ecken spritze Erde hoch.
Der Druck in der Luft verengte meine Brust, als würde jemand darauf sitzen. Mein Atem ging immer schwerer. Der Geschmack von Blut sammelte sich in meinem Mund. Auf einmal kippte das Bild weg. Die Bäume drehten sich. Ich fiel keuchend auf die Knie.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich rang nach Luft und krallte die Hände in die Erde. Sie hatte die Konsistenz von Hartkäse. Als ich mich endlich etwas beruhigt hatte, sah ich auf meine Hände hinunter. Sie waren voller Schotter und bluteten. Ich schrie lautlos auf. Das war keine kahle Erde. Eine blutige verstümmelte Leiche lag vor mir auf dem Boden. Der Bauch war offen. Es waren viele spitze Steine in den Eingeweiden, welche halb heraushingen. Entsetzt fiel ich rückwärts. Der Geruch von Eisen drang in meine Nase. Das Blut roch auch süßlich. Meine Zunge schnupperte den verlockenden Duft. Ausgestreckt blieb ich auf dem Boden liegen und legte den Kopf in den Nacken. Ich hätte das Tor nicht öffnen und den Garten niemals betreten sollen.

Ein kalter Wind fegte heftig über den Platz. Verwundert sah ich auf. Ich hockte noch immer da, vor dem rechteckigen Loch im Boden. Dunkle Wolken hatten sich vor den hellblauen Himmel geschoben.
Ich war in meiner Position erstarrt und spürte meine Beine nicht mehr. Ich sah rüber zum Eisentor in der Lorbeerhecke welche zum Garten führte. Sie war verschlossen. Danach verschwamm sie, bekam gelbrote und blauviolette Ränder. Langsam stand ich auf. Nebel erhob sich aus dem Labyrinth aus Hecken, zog durch die Blätter. Ich drehte mich um. Auch das Herrenhaus versank im Nebel. Er verschluckte alles.
Auf einmal war alles weg und ich stand allein auf dem weiten leeren Platz und um mich herum ein einziges Nichts. Fassungslos und suchend starrte ich in den Nebel. War ich dabei den Verstand zu verlieren?
Da hörte ich ein Flüstern in meinem Herzen. Ich schloss die Augen und ließ mich davon führen. Die Stimme zog mich aus dieser Halbtraumwelt hinaus und endlich konnte ich diese seltsame andere Welt verlassen und mich wieder materialisieren. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen.


© D.M.


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