Die nächsten Tage verbrachte ich allein. Alek ließ sich nicht mehr blicken. Außerdem war meine Stimmung gedrückt. Meine Erinnerungen blieben im Nebel verborgen. Verschlossen vor meinem Zugriff. Auch fehlt mir eine Aufgabe. Ich weiß, dass ich mich einem Beruf widmen könnte. Jedoch bin ich unentschlossen. Was möchte ich? Wie möchte ich meine Tage hier verbringen? Es gibt so viele Dinge die ich nicht verstehe. Und so finde ich mich selbst am fünften Tag nach meinem Erwachen auf einem Hügel mit einem einzelnen Baum wieder. Meine Füße haben mich in den Park getragen. Der Wind in den Blättern ist beruhigend. Ich fühle mich elend. Warum kommen keine neuen Erinnerungen? Alek meinte zwar, dass es dauern kann. Aber die Ungewissheit frisst mich auf. Ich will wissen, wer ich bin. Den Kopf auf den Knien sitze ich unter den Blättern und lausche dem Wind. „Das ist mein Lieblingsplatz, auf dem du dasitzt.“ Ich schrecke hoch und blicke in das Gesicht eines älteren Herren. Er dürfte gut über sechszig sein, leicht sonnengebräunte Haut und Falten auf der Stirn. Immer noch leicht verwundert mache ich mich daran aufzustehen. „Oh Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass er jemandem gehört.“ Mitten in der Bewegung hält er mich allerdings auf. „Langsam, langsam. Ich mach nur Witze.“ Er jetzt bemerke ich, dass er bis über beide Ohren grinst. Etwas verdutzt und verwirrt setze ich mich wieder und der Fremde setzt sich neben mich. Er nimmt einige tiefe Atemzüge, bevor er sich mir wieder zuwendet. „Ich komme gerne hier her. Zum Nachdenken, oder wenn ich einfach mal etwas Zeit für mich brauche. Mein Name ist im übrigen Enrico. Aber nenne mich ruhig Rico.“ Er reicht mir seine ausgestreckte Hand und ich ergreife sie. „Klara.“ „Ein schöner Name.“ Ich schenke ihm ein unsicheres Lächeln. Irgendwie mag ich ihn. Er strahlt eine Freundlichkeit aus, die mich irgendwie umschließt. Die Welt wirkt ein bisschen heller. „Du musst neu in der Domstadt sein. Du kommst mir nicht bekannt vor. Und ich bin schon seit einer ganzen Weile hier.“ Ich antworte mit einem Nicken und mache eine Feststellung „Achja? Dann müsst ihr einer der Ältesten hier sein.“ Er reibt sich nachdenklich das Kinn. „So könnte man das sagen. Das Projekt besteht jetzt seit beinah zwei Jahren.“ Er spricht, als wäre er seit Beginn dabei gewesen. Meine Neugierde ist geweckt. Also frage ich ihn etwas, was mich schon länger beschäftigt. „Rico, darf ich dich was fragen?“ Er setzt ein Lächeln auf. „Natürlich. Frag nur.“ „Wieso braucht so eine Welt einen Wachdienst und Soldaten?“ Enricos Gesicht wird finster, als würde er sich an eine unangenehme Sache erinnern. „Weißt du Klara, nicht alle Menschen sind gleich. Etwa vier Monate nach dem Projektstart gab es Unruhen. Einige waren unzufrieden mit diesem neuen Leben. Sie verlangten, dass die Forscher uns stärker machen. Ausdauernder, Unverletzlich. Sie wollten die Probleme des Lebens nicht mehr spüren. Ein angenehmeres Leben. Jedoch gingen die Oberhäupter der Häuser auf ihre Forderungen nicht ein. Also wendeten sie sich radikaleren Mitteln zu.“ „Aber ihr seid doch unsterblich, wie können sie da radikal werden?“ „Es stimmt. Unsere Leben kann man uns nicht mehr nehmen. Also was ist das Wichtigste, was man uns nehmen kann?“ Er stellt mir die Frage direkt. Ich habe keine Antwort darauf, als zucke ich mit den Achseln. „Freiheit, Klara. Sie nahmen einige Menschen gefangen und hielten sie fest. Nur dank der Hilfe des Hauses Noktus konnte diese Situation entschärft werden. Sie zerschlugen die Aufständischen und befreiten die Anderen. Deshalb Klara, gibt es einen Wachdienst und Soldaten. Und ich bin ziemlich froh darüber. Die meisten sind das.“ Ich schenke ihm ein Lächeln. „Danke dir, dass du mir das erzählt hast. Ich denke das hat meine Frage beantwortet.“ Er schüttelt den Kopf. „Kein Thema. Aber dürfte ich dir nun eine Frage stellen?“ Ich nicke kurz. „Du bist gerade erst erwacht, oder?“ „Ja, vor einigen Tagen erst.“ „Ich verstehe. Hast du dich dann schon für eine Berufung entschieden?“ Ich schüttle den Kopf. „Noch nicht. Ich weiß noch nicht, was ich tun soll? Meine Erinnerung, meine Gefühle, diese Welt…Alles hier ist so fremd für mich, dass ich mir einfach unsicher bin, wer ich sein will.“ Enrico reibt sich nachdenklich das Kinn. In seinen Augen kann ich sowas wie Mitleid und Verstehen erkennen. Ob er in der gleichen Situation war? Dann richtet er seinen Blick wieder auf die Felder. „Weißt du, Klara, in meinem alten Leben war ich Krebspatient im Endstadium. Am Leben erhalten durch Maschinen. Langsam auf mein Ende zulaufend. Als die Forscher mich dann fragten, wusste ich nicht, was ich hier tun sollte. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Und doch verspürte ich den Drang hierher zu kommen. Meine Kinder und Enkelkinder rieten mir davon ab, aber es war mir egal. Als ich dann endlich in dieser Welt erwachte gings mir genauso wie dir. Ich wusste nicht wohin mit mir. In meinen jungen Jahren war ich Schreiner gewesen, wollte aber nicht weiter als Schreiner arbeiten. An einem Tag saß ich hier und dachte nach, bis mich ein Mann ansprach und mir einen Rat gab. Wir formen unsere Zukunft, nach unseren Vorstellungen. Seine Worte halfen mir eine neue Aufgabe zu finden. Ich wurde ein Lehrmeister für Schreiner. Bringe den jungen, unerfahrenen bei, was ich über Jahrzehnte gelernt habe. Und das ist das Schöne an dieser Welt. Es ist eine Zukunft, die wir formen. Jeder von uns.“ Dann dreht er sich zu mir. „Deshalb Klara, ist es in Ordnung, wenn du noch nicht weißt, was du tun möchtest. Denn hier kannst du dein Leben, deine Zukunft selbst in die Hand nehmen.“ Ich nicke, aber dennoch bleibt eine gewisse Unsicherheit in mir. Doch ist mir durch seine Geschichten einiges klar geworden. Einiges davon hätte mir eigentlich viel früher klar sein sollen. Ich beobachte die Blätter wie sie durch die Luft tanzen. Der Anblick hat es beruhigendes. Und da regt sich seit meiner Ankunft zum ersten Mal etwas in mir. So als wüsste ich wohin ich gehen möchte. Wohin mich meine Füße tragen. Ich richte mich auf, klopfe mir das Gras von der Hose. „Ich denke ich weiß jetzt was ich tun möchte.“ Rico richtet sich ebenfalls auf, wenn auch etwas umständlicher als ich. „Na das klingt doch schonmal gut. Und wohin solls gehen?“ Ich blicke Richtung Stadt.


Mit wenigen Worten, dafür einem warmen Lächeln verabschiedete ich mich von Enrico. Und doch wusste ich, dass ich ihn vermutlich wiedersehen werde. Auch wenn ich noch nicht wusste, wann es sein würde. Ich stehe vor einem dreistöckigen Gebäude. Es hat einige Zeit und eine Menge herumfragen gedauert den Sitz des Hauses Noktus zu finden. Seltsam, wo es doch eigentlich eine so wichtige Einrichtung zu sein scheint. Vor dem Eingang stehen vier Wachen. Sie tragen einfache Kleidung, allerdings befindet sich auf der linken Brust sowie auf dem Rücken der Westen welches ein Emblem aus mehreren Sternen und einem Halbmond zusammensetzt. Wie ein Nachthimmel. Allerdings tragen sie keine Waffen, oder zumindest keine die ich sehen kann. Was ich aber sehen kann, sind ihre durchtrainierten Körper. Selbst die beiden Frauen haben leichte Muskeln, unter der Kleidung deutlich erkennbar. Ich gehe an ihnen vorbei, aber keiner von ihnen macht den Versuch mich aufzuhalten. Drinnen im Gebäude sah die Lage schon etwas anders aus. Es war als hätte man ein geschäftiges Bürogebäude verlassen und hätte eine Bücherei betreten. Überall standen Regale angefüllt mir Büchern. Allerdings nicht mit Sorgfalt einsortiert. Links und rechts gehen Türen ab und im hinteren Abteil führt eine größere Treppe in den nächsten Stock. Und in der Mitte vom Raum thront in alle dem ein Schreibtisch. Und über den Raum, hinter dem Schreibtisch, herrscht eine junge Dame. Oder zumindest sieht sie für mich nicht älter als dreißig aus. Die dunkelroten mit schwarzen Strähnen versehenen Haare, sind zu einem Dutt geflochten. Ihr Gesicht ist ernst und konzentriert. Sie strahl Respekt und Würde aus, die keine Wiederspruch duldet. Ich schlucke und trete an den Schreibtisch. Die Dame sitzt vor einer Schreibmaschine und tippt mit einem beachtlichen Tempo. Flink nimmt sie das fertige Papier aus der Maschine und legt es zu dem feinsäuberlich geordneten Rest, während die andere bereits das nächste Papier einspannt. Vorsichtig spreche ich sie an. „Ähm…Entschuldigen sie bitte, Miss…“ „Miss Cathfield.“ Sie unterbricht ihre Arbeit und blickt zu mir hoch. Ihr Blick mustert mich von oben bis unten, zumindest soweit ihr Schreibtisch es zulässt. „Was kann ich für sie tun?“ Ich räuspere mich. „Mein Name ist Klara Nessa. Und ich würde gerne mit Herr Noktus sprechen. Ist er gerade da?“ Ihr durchdringender Blick klebt an mir und ich spüre einen Knoten im Magen. Nach einem längeren Augenblick, genauer gesagt einigen Minuten, wendet sie sich wieder ihrer Schreibmaschine zu. „Herr Noktus empfängt im Moment keine Besucher. Er ist ein viel beschäftigter Mann.“ Sie versucht mich abzuwimmeln, doch noch gebe ich nicht nach. „Könnten sie ihm zumindest mitteilen, dass ich hier bin. Es geht um meine Berufung.“ Abrupt bleiben ihre Finger stehen. „Ich werde es ihm ausrichten.“ Sie steht auf und dreht mir den Rücken zu. „Sie können hier warten, wenn sie das möchten.“ Mit diesen Worten lässt sie mich im Foyer stehen und geht die Treppen nach oben. Tief erleichtert atme ich aus. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas an dieser Dame geht mir direkt unter die Haut. Aber vermutlich muss sie so sein. Schließlich ist sie die Sekretärin des Oberhauptes Noktus. Sie ist es gewohnt Bittsteller und Hausierer von Alek fernzuhalten, damit er ungestört seine Arbeit machen kann. Nachdem ich mehrere Minuten vor dem Schreibtisch gewartet habe, lenke ich meine Aufmerksamkeit zu den Regalen im hinteren Bereich des Foyers. Allerlei Werke haben hier ein Zuhause gefunden. Romane, Sachbücher, sogar einige religiöse Schriften und dazugehörige Kritiken sind dabei. Überrascht und neugierig schnappe ich mir ein Buch über den Shintoismus und blättere gedankenverloren darin umher. Beinahe hätte ich den Mann übersehen, der durch die Eingangshalle kommt. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Er läuft leicht gebückt und vorsichtigen Schrittes zum Schreibtisch. Dann wandert sein Blick durchs Foyer, so als würde er jemanden suchen. Vermutlich Miss Cathfield. Nachdem er sie nicht entdecken konnte, wie auch, nimmt einen verschlossenen Umstand aus der Innenseite seines Mantels und legt ihn direkt auf die Schreibmaschine. Und dann geht er auch schon wieder genauso schnell wie er gekommen war. Vermutlich nur ein Bote denke ich mir und widme mich wieder dem Buch. Keine zwei Minuten vergehen und ich höre Schritte auf der Treppe. Ich lege das Buch zurück und stelle mich wieder zum Schreibtisch, da erscheint auch schon Miss Cathfield. Beim Schreibtisch angekommen wendet sie sich direkt mir zu. „Herr Noktus, empfängt sie jetzt. Wenn sie mir bitte folgen würden?“ Sie hatte sich noch nicht ganz umgedreht, da fällt ihr Blick auf den Umschlag. Sie zieht eine Augenbraue hoch, richtet ihren Blick aber auf mich, so als würde sich mich fragen, ob ich ihn dort abgelegt hätte. Verneinend schüttle ich meinen Kopf. Sie seufzt leise, nimmt den Umschlag unter ihren Arm und schreitet schnellen Schrittes zur Treppe. Ich beeile mich hinter ihr herzulaufen. Ihre Schritte sind flott und ich habe leichte Probleme damit Schritt zu halten. Nur bei den Treppen scheint sie ein gemächlicheres Tempo anzuschlagen. Nachdem wir die erste Etage hinter uns gelassen haben und in den zweiten Stock hinaufsteigen, stehe ich kurz darauf vor einer hölzernen Doppeltür. Miss Cathfield lehnt sich leicht an die linke der beiden und klopft. „Herr Noktus, ich bringe ihnen Madame Nessa.“ Ohne eine Antwort abzuwarten öffnet sie die Tür und betritt das Büro.


© Sora Hataki


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