Die Läuferin und die dunkle Seite

Die Nebel ziehen in Schwaden auf, sie rufen sie. Wenn sie nicht gleich geht ist es zu spät um die Gier nach falscher Nahrung zu stoppen. Doch ihr Inneres ermahnt sie. Geh! sagt es. Lauf! ruft es. Und sie spürt ihre innere Neigung, sie wie an einem unsichtbaren Faden davonziehend. Immer wieder muss sie laufen. Es ist wie ein unstillbarer Durst und die größte Abneigung zugleich. Aber sie weiß wer sie leitet. So muss es sein. Sie ist elegant und flink wie eine Gazelle. Sie läuft. Ein breites Kreuz und einen schmales Becken hat sie. Es kann anstrengend sein den Weg durchzuhalten. Manchmal ist es leicht und manchmal ist es unmöglich. Sie geht aus dem Haus, an der Burgmauer entlang, die alt und verwittert ist, von wilden Rosen bewachsen. Durch eine kleine Pforte schlüpft sie hindurch. Federnd setzt sie ihre Füße auf den Asphalt. Zurück in der Wirklichkeit beschleunigt sie ihr Tempo und läuft. Ihre Schuhe machen kaum ein Geräusch auf dem dunklen Untergrund. Ihre Füße setzen weich und rasch auf und drücken sich federnd wieder ab. Beinahe lautlos. Die Läuferin. Nur wenn ein Blatt, ein Zweiglein oder ein loses Steinchen im Wege liegt lockt es unter ihren Laufschuhen ein leises Geräusch hervor. So läuft sie entlang und weiter.
Die Sonne senkt sich am Horizont, wird dunkelgelb bis leuchtend rot. Es ist eher ein zornesrot. Als ob sie wütend wäre schon gehen zu müssen. Die Landschaft mit ihren weiten Feldern und weichen Hügeln scheint in saftigen und kräftigen Grüntönen in der Farbe von Rosenblättern bis zu einem dunklen moosgrün in der Nähe. In der Ferne erscheint sie in kühlen Blautönen von einem dunklen stahlblau zu einem sanften trüben himmelblau, am Horizont fast durchsichtig. Im Übergang entsteht ein zartes Lavendel. In ihr wirbeln die unterschiedlichsten Gedanken und Empfindungen. Sie ist ruhig und ausgeglichen, konzentriert und ihre andere Seite ist ruhelos und unentschlossen, ob sie es schafft durchzuhalten? Sie ist wechselseitig und empathisch, rational und temperamentvoll. Aber auch wie ein Sturm, nicht zu bändigen ein starker Wind der hin und her tanzt. Es gibt niemals eine Chance ihn zu fangen. Sie ist liebevoll im Abendrot und kalt im Schnee wie Eis. So stark und weich wie Wasser und ein Herz hart wie Stein. Es ist meine Hälfte, flüstert es in ihr. Sie ist ruhelos und wandelbar. Wild wie die dornigen Rosen an der Mauer. Manchmal zurückschreckend wie ein wildes Tier. Manche Entscheidungen fallen ihr schwer. Die Wut bringt sie auf, regt sich auf und sie läuft mit stärkeren und kräftigeren Schritten. Es dringt durch sie hindurch und erfüllt sie mit Kraft und Entschlossenheit. Ihr Wille ist unglaublich stark. Ein Zwitschern der Vögel sowie das Rauschen des Windes durch die Bäume, durch die sie läuft, sind um sie herum. Ein vertrockneter Ast knarrt im Gehölz der langen geraden Fichten. Die Dämmerung tritt ein. Die Farben verdunkeln sich und werden kälter. Die Nacht bricht herein. Ihr Blick gleitet das weite Land entlang. Gleichmäßig läuft sie, vorbei an der mondbeschienenen dunklen Heide. Das sanfte fahle Licht beruhigt sie und tröstet sie vor einem alten verschwommenen Kummer, der sich tief in ihr verbirgt. Ewige Traurigkeit, vor dem was nicht gesagt werden kann, nicht in Worte zu fassen ist. Tränen die sie nicht weinen kann. Das leise Geräusch von zirpen klingt zu ihr durch und der Frieden der Nacht senkt sich wie eine Decke auf sie. Stille und Ruhe sind überall. Sie fühlt sich aufgehoben und geborgen in der Nacht. Nur in der Nacht. Hier scheint sie hinzugehören. Hier fühlt sie sich wohl, denn Niemand kann sie sehen.
Sie läuft mit stärkeren und anmutigeren Schritten. Die Nacht haucht sanft sie an und erweckt sie wie eine blaue Sternenblume zum Leben. Ihr Wesen entfaltet sich in ihr, ihr Geist, und entfaltet ihre Macht. Und als das Mondlicht sie berührt fließt reine Kraft durch sie hindurch. Es trifft in ihr Herz und lässt sie für den geisterhaften Mond aufblühen. Der Mond hält sie gefangen und macht sie gefügig. Er versetzt sie in einen tranceartigen Zustand der Müdigkeit und erfüllt sie zugleich mit völliger Glücksseligkeit. Sie liebt ihn. Ihr Geist dagegen wendet sich der Herrscherin des Alles zu. Sie fühlt das Wohlwollen der Urgöttin, sie ist es, die ihr Kraft gibt. Sie ist die Nacht und sie ist der Mond. Sie ist die Göttin der Nacht und sie ist auch ihre Gebieterin. Der helle Schein des Mondes lässt ihre Haut hauchzart und weiß und kalt erscheinen. Ihre Schritte sind groß und geschmeidig. Die Göttin hat ihr Macht verliehen, die unglaubliche Magie, die unheimlichen machtvollen Strudel in ihr drin. Tautropfen schimmern auf einer Rose, sanfte gebogene Blütenblätter entfalten sich im Mondenschein. Doch es gibt auch die andere viel dunklere Seite, auf der die Sterne nur kalt starren, der Mond etwas unheimlich und verführerisch wird. Ihr Herz ist gespalten. Dieses Gefühl der Zerrissenheit hatte sie schon lange. Zwei Seiten, zwei Wege, zwei verschiedene Kräfte und eine Seele die daran zugrunde geht. Die eine Hälfte ist schwarz wie die Nacht, die andere ist rot wie die Gerechtigkeit und weiß wie das Gute. Ihr Herz schimmert zur Hälfte silbern wie der Mond, die andere hat ein stumpfes Gold. Doch die dunkle Seite überwiegt jetzt. Sie ist dabei die helle zu verschlingen. Stück für Stück geht jede Form von positivem Gefühl verloren, jede Art von schwacher Emotionalität und Gefühlen. Manchmal kann sie kaum noch laufen, so zerrt es an ihr. Sie ist jung und alt, ein Kind und zugleich eine alte Frau. Ihr Herz ist gespalten. Doch jetzt zerrt es an ihr, hin und her, versucht sie zu zerreißen.
Ihre Füße werden schwer, ihre Beine werden langsam. Sie bleibt mitten auf dem Weg stehen, ihr Kopf sinkt herab. Trauer packt sie, tiefe Trauer erfüllt sie und der Schmerz zuckt durch ihren Körper. Tränen rinnen über ihre Wangen. Sie hat es nicht geschafft, hat das Ziel nicht erreicht, im Gegenteil sie ist zurückgegangen, zurück zu ihrer Realität und ihrer Oma. Dorthin wo sie früher schon war aber nicht wieder hin wollte. Den verhassten Zustand den sie verlassen wollte. Sie fühlt ihr Gewicht ihre Gelenke eindrücken, wie der Boden unter ihren Füßen bebt, wie alles in ihr wackelt und wie schwerfällig und ungelenk sie geworden ist. Sie fühlt sich schrecklich. Man würde jeder vor ihr zurück treten. Du gehörst nicht zu uns, sagen ihre Blicke, du bist dick und hässlich. Ich bin gern allein, antwortet sie mit ihrem Geist. Ihr seid dumm, ziemlich dumm. Und ich benötige keine Freunde. Ich gehöre allein. Eine Freundschaft mit mir kann sehr schmerzhaft sein. Außerdem würde ich manche von euch gerne umbringen. Also verzieht euch. Das Porzellan geht zu Bruch wenn ein Elefant in den Laden käme. Die kleinen Felsbrocken im All würden verschluckt wenn sie einem schwarzen Loch zu nahe kämen. Die Kräfte der kleinen Menschen würden verschwinden wenn ein Magier unter ihnen weilt und ihr Blut würde verrinnen, wenn ein Vampyr in ihrer Nähe ist. Sie würden auf das glotzen was sie nur sehen können, ein Nichts, ein Schatten, eine Trauergestalt, ein Pudding, ein Tiger oder eine Hexe. Doch wirklich sehen können sie nicht, können nicht dahinter sehen, in die wahrhaftige Tiefe. Sie sehen nur plastisch, denn sie haben kein drittes Auge.
Langsam öffnet sie ihre Augen. Sie schimmern vor Tränen. Die Straße erscheint verschwommen vor ihr. Die Wolken öffnen sich und der Mond scheint zu ihr hinunter. Sein Schein legt sich tröstend um sie. Die Bäume werfen Schatten auf den vom Mond beschienenen Weg. Ich habe keine Chance mehr. Ich habe versagt, sagt sie. Was habe ich noch anderes außer meinem Glauben. Und dem bin ich nicht Treu gewesen…
Sanft streichelt der Mond sie. Sie kann die flüsternde sanfte Stimme der Göttin hören. Ihre Seele bebt von den Worten, so sehr sehnt sie sich. Die Göttin der Nacht spricht zu ihr. Ja mein Kind, nun hast du versagt, denn du hast keine Disziplin. Du hast dich unreinen Trieben hingegeben. Es ist ein Ende. Aber du kannst neu anfangen. Ich gewähre dir eine letzte Chance. Ich erfülle dich mit Glauben. Die Kraft musst du dieses Mal alleine aufbringen. Widerstehe und lebe deinen Glauben. Wachse wieder, erreiche dein Ziel und dann die Ewigkeit.
Und sie spürt wie ihr Hals austrocknet und ihr Mund sich für immer verschließt. Kann sie das überhaupt noch schaffen? Aber sie versucht es wieder und immer wieder, denn sie ist eine Kämpferin und sie kann nicht damit aufhören zu kämpfen, selbst wenn es aussichtslos sein mag. Es ist ihr Schicksal, ihr Fluch.


© Robert Lier.scripts


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