Gerd

ein halbes Jahr früher

Er blickte zum Himmel. Es war bereits dämmrig. Vor einer Stunde hatte es ein weiteres Nachbeben gegeben. Das hatte einige der noch stehenden Strukturen zum Einstürzen gebracht. Zu dem Zeitpunkt waren die Arbeiten kurz zum Stillstand gekommen. Aber jetzt wühlte man weiter in den Schutthaufen, um irgendwie noch Überlebende zu finden. Es war sein zweiter Einsatz. Lisa war zum ersten Mal dabei. Hem hielt sie ein wenig im Hintergrund und ließ sie die Retter koordinieren. Sie war zart. Sie hatte einen schwachen IR Blick. Es machte Sinn. Hem war ein perfekter Koordinator, kannte alle ihre Schwächen und Stärken. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass Hem sich hauptsächlich zu Lisas Schutz so entschieden hatte.
Er ließ sich erschöpft auf einen der Campsitze fallen und griff nach der Flasche, die ihm Lisa hinhielt. Er lächelte leicht. Er nahm ein paar tiefe Schlucke. Dann schüttete er sich den Rest über den Kopf. „He!“ Er grinste. Die Kohlensäure prickelte auf seine Haut. Er schüttelte das Wasser aus den Haaren, wie ein Hund. „Idiot!“ „Was? Probier doch auch! Die Kohlensäure gibt deinem Haar einen besonderen Glanz.“ Er stand wieder auf. „Hast du noch eine Flasche für mich!“ „Duschen kannst du woanders!“ „He, entspann dich!“ Dann griff er in seine Hosentasche und holte eine Kaugummipackung hervor. Sie würden alle eine zusätzliche Ration bekommen, wenn sie hier arbeiteten. „Hier, aber lass mir welche übrig!“ Lisa griff gierig danach. Sie hatte die ganze Zeit Kaugummis im Mund. Sie nahm sich zwei raus und warf ihm die restliche Packung wieder zurück. „Sonst ist sie weg, bevor du wieder zurückkommst.“ „Suchthaufen!“ „Es fühlt sich gut an!“ Er schüttelte den Kopf und stapfte wieder zurück. Plötzlich wurde er von einem der Freiwilligen aufgehalten. Überrascht blickte er auf den Mann. Normalerweise mieden die Leute sie. Der Mann lächelte unsicher. „Hi, ich bin Lark!“ „Ich bin Gerd!“ „Das ist ein bisschen peinlich. Aber die kleine Schwester meines Studienkumpels findet euch voll toll. Kannst du mir ein Autogramm geben!“ Er blinzelte. Was war das für ein Scherz? Aber dem Typen schien es ernst. „Wenn es sie glücklich macht. Hast du was zum Schreiben?“ Er holte einen Block und Stift heraus. Das war das erste Autogramm, was er gab. Irgendwie war das ziemlich daneben. „Wie heißt denn die kleine?“ „So klein ist sie auch nicht mehr. Sie heißt Charlotte und ist schon 18! So wie du!“ Er stockte. War das Zufall? Er starrte den Mann ins Gesicht. Der nickte ihm zu. Oder bildete er sich das nur ein. „Soll ich die anderen dann auch noch bitten?“ „Das ist nicht notwendig. Sie mag dich am liebsten!“ Das war kein Zufall, oder? Das konnte kein Zufall sein. Solche Zufälle gab es gar nicht. Er schrieb eine Nachricht, die so allgemein war, dass es eine andere Charlotte nicht verstehen würde, die aber seiner Charlotte sehr viel bedeuten konnte. „Vielleicht sehen wir uns ja noch.“ Er nickte. „Das schaut noch nach viel Arbeit aus.“ Der Freiwillige verschwand wieder in der Masse. Nachdenklich stapfte er zurück zu seinem Posten. Er vergrub die Hände tief in seine Taschen. Da bemerkte er, dass er den Stift nicht zurückgegeben hatte. Er betrachtete das Ding. Es sah sehr übertrieben aus mit den LEDs, die leuchteten, wenn man schrieb. Aber es war trotzdem nur ein Kugelschreiber.

Lisa

Das zerstörte Haus war wie in der Simulation. „Hier ist nichts!“ „Gut! Der Raum ist markiert! Weiter!“ Hem veränderte ständig den Plan des Hauses, trug alle Informationen ein, die sie ihm gab. Sie suchten jeden einzelnen Raum ab. Einmal war sie über einen zerquetschten Körper gestolpert. Ihr Magen hätte sich fast entleert. Es war wie in der Simulation und doch ganz anders, andere Gerüche, andere Gefühle. „Gerd hat jemanden gefunden! Er braucht deine Hilfe!“ Ihr Herz begann plötzlich heftiger zu schlagen. Sie rannte in die Richtungen, in die Hem ihr deutete. Plötzlich stockte sie. „Was ist los?“ „Da ist jemand! Ich sehe Wärme!“ Stockend ging sie auf das Licht zu. Sie war seit dem einen Mal nur ein einziges Mal wieder in der Simulation gewesen. Damals war es mit Chris gewesen und sie war kläglich schon recht früh gescheitert. Es war ihr nur recht gewesen und sie hatte Chris Schimpftirade wortlos über sich ergehen lassen. Seitdem sie Abstand von ihm suchte, war er schonungsloser geworden. Stück für Stück hatte sie begriffen, in was für einen Strudel er sie hineingezogen hatte. Dann waren wieder diese Momente, wo er zuckersüß gewesen war. Sie war so dankbar, dass Hem jetzt auf der anderen Seite war und sie panisch atmen hörte. „Es ist in Ordnung. Hast du die Spritze?“ Sie nickte. Ihre Finger fummelten an der Seite herum. Die Spritze war eigentlich für Notfälle gedacht, wenn Menschen extreme Schmerzen hatten. Gerd und Hem hatten ihr eingetrichtert, dass sie die Spritze schonungslos zu ihrer Verteidigung einsetzen musste. Sie zwang ihren Atem auf normales Level. „Es ist in Ordnung! Es ist nicht die Frau!“, flüsterte Hem ihr zu. Sie konnte jetzt den Menschen direkt sehen. Sie war schon älter und in ein seltsam weites Gewand gekleidet. Sie wirkte harmlos. Aber die andere Frau war auch harmlos gewesen. Beim letzten Mal hatte sie keinen Menschenkontakt gehabt. Wieso konnte es nicht wieder so sein? „Schau nach Waffen“, empfahl Hem. Sie schluckte. „Gerd meint, du sollst dich um die Frau kümmern. Er schafft das schon alleine!“ Die Worte glitten an ihr vorbei. In dem Moment schrumpfte ihr Universum zusammen auf sie selbst und die Frau vor ihr. Ihr Blick suchte fieberhaft den Raum ab. Sie sah keine Waffen. Das war gut! Dann hockte sie sich neben die Frau. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Puls ging normal. Sie schien bewusstlos. Ihre Beine waren unter einem ungefallenen Kasten eingeklemmt. „Was siehst du, Liz! Halt mich auf dem Laufenden!“ Stockend begann sie zu erzählen, berichtete, was sie tat. Sie versuchte den Kasten ein Stück hoch zu stemmen. Er war so schwer. „Soll ich rein kommen? Soll ich Gerd schicken!“ „Es geht schon! Bleib wo du bist. Bleib auf meiner anderen Seite!“ Die Frau begann zu stöhnen. Sie wachte auf. Was sollte sie tun? „Hi…Hilfe!“ Sie ließ vom Kasten ab und trat zu ihrem Gesicht. „Wir holen Sie da raus! Keine Sorge“, zwang sie sich die eingeschulten Worte über die Lippen. „Haben Sie Schmerzen?“ Die Frau blickte zu ihr hoch. Sie hatten Augenkontakt. Sie sah Angst und sie sah Schmerzen und sie sah ein Erkennen. „Dein Gesicht…“ Sie schluckte. Sie fummelte in ihrem Erstversorgungspaket herum. „Ich habe Schmerzmittel! Wenn Sie den Mund öffnen, kann ich es Ihnen auf die Zunge legen. Dann geht es besser!“ Vorsichtig öffnete die Frau den Mund. Sie fummelte das kleine Plättchen heraus. Sie war so nervös. Vorsichtig legte sie es auf ihre Zunge. „Einfach lutschen und dann schlucken! Danach müssen wir ihre Füße befreien!“ Die Frau wirkte jetzt etwas unsicher. „Ich kenne dich… im Fernsehen!“ Gleich würde es kommen. Ihre Hand fixierte sich auf der Spritze. „Du bist eine von denen, eine Mutantin, oder?“ Sie nickte steif. „Dann kannst du mich retten! Du willst Leben retten! Du bist so klein, so zart.“ Sie schluckte. „Ich rette Sie! Ich hole Sie da raus!“ Sie griff kurz zur Hand der Frau und drückte sie. „Das ist mein Mädchen!“, hörte sie Hem in ihrem Kopf.

Sie waren im Keller des zweiten Hauses. Gerd hatte sie rufen lassen. Sie ließ sich ein wenig Zeit. Sie war völlig erschöpft. Die Häuser waren fast vollständig geräumt und sie brauchte dringend eine Pause. Als sie in den Raum trat, sah sie Gerd an etwas hantieren. Seine Finger waren so flink, dass sie es kaum sehen konnte. Neben ihm lag eine Puppe. Sie runzelte die Stirn. Nein, es musste eine Leiche sein. Sie schluckte. Es war ein halbes Kind, von der Größe, so wie sie. Gerd blickte auf und winkte sie an sich heran. Er löste sein Headset. „Du musst mir genau zuhören. Nicke, wenn du mich verstehst. Kein Wort!“, zischte er am Mikrofon vorbei. Sie nickte vorsichtig. „Zieh deinen Anzug aus und ihr an!“ Sie starrte. Dann schluckte sie. „Was ist los?“, fragte Hem nach. Seine Stimme krachte und ächzte durch die Betonschichten. „Nichts… Gerd hat da ein paar Probleme. Ich versteh davon nichts!“ „Hör auf ihn und tu, was er sagt. Er kennt sich da aus. Vertraue ihm! Wir sind ein Team.“ „Ist… ist in Ordnung!“ „Hat er gesagt, du sollst mir vertrauen?“ Sie nickte. Er warf ihr einen Sack hin. „Hier sind normale Kleider. Wir sind ein Team, ja!“ Sie nickte. Jetzt setzte Gerd sein Headset wieder auf. Er begann irgendeinen Blödsinn durchzusagen, spielte perfekt irgendein Spiel. Sie verstand das alles nicht. Aber Hem hatte gesagt, sie sollte tun, was Gerd ihr sagte. Also tat sie es. Sie vertraute Hem, Hem vertraute Gerd. Sie waren ein Team. Hem redete auch mit ihr und sie antwortete so gut sie konnte. Irgendetwas passierte hier, irgendetwas Großes. Gerd fluchte. „Das sieht nicht gut aus“, erklärte er dem Mikrofon und wer auch immer noch zuhörte. Er setzte das Headset ab. „Du machst das gut. In dem Sack ist ein Becher. Schneid dir in den Finger und lass Blut hinein fließen. Das brauche ich für den DNA Test.“ Sie starrte ihn an und dann auf die Leiche vor ihr. Das war sie. Jetzt begriff sie endlich. Das war sie!
„Der Empfang ist zu schlecht! Ich gehe rauf. Liz bleibt hier und haltet die Stellung.“ Gerd nickte ihr zu. Er hatte ihr alle Instruktionen gegeben. Er würde jetzt gehen und danach war sie auf sich allein gestellt. „Hast du Angst?“, fragte Hem in ihren Kopf. „Ein bisschen!“ „Das brauchst du nicht. Gerd ist Profi! Er hat alles unter Kontrolle.“ „In zwei Minuten bin ich wieder da!“, erklärte Gerd. Sie nickte. „Wenn was ist, dann rennst du! Verstanden?“ Sie würde rennen. Gerd nickte. Sie nickte. „Hem, kannst du mir was erzählen?“ „Was willst du hören?“ „Hast du noch ein Buch?“ „Ich lerne gerade Norwegisch!“ „Norwegisch ist gut!“ „Dann erzähle ich es dir, bis Gerd zurückkommt.“ Hems Stimme drang in ihren Kopf. Sie wollte sie nicht loslassen. Aber sie musste. Sie zog das Headset hinunter und befestigte es an der Leiche. Sie hatte wirkliche Angst. Das war alles keine Simulation mehr. Sie würde nicht wieder aufwachen und all die Schmerzen wären nur noch schwache Erinnerung. Sie schwang den Sack über ihre Schulter. Dort war alles drin, was sie brauchte: eine neue Identität; ein Flugticket ins Ungewisse; ein neues Leben! Sie vertraute Hem, sie vertraute Gerd. Sie waren ein Team. Dann begann sie zu rennen. Sie rannte, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt war. Sie hatte keine Last. Sie hatte keinen Schutz. Sie hatte ihr Kokon abgelegt. Sie war leicht wie ein Schmetterling. Sie war frei. Obwohl sie schon seit Stunden unterwegs gewesen war, konnte sie noch immer rennen. Wie lange konnten zwei Minuten dauern? Waren sie schon vorbei? Sie wollte nicht nachsehen. Sie hatte keine Zeit dazu. Alles, was sie tat, war laufen. Darin steckte ihre ganze Energie. Sie spürte ein Vibrieren. Sie war wieder auf der Stiege im Hochhaus. Es war so gleich. Es war alles anders. Tränen rannten über ihre Wangen. Die Hitze holte sie ein und tauchte sie in Licht. Sie brannte. Sie brannte lichterloh!


© lerche


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