Lisa

Sie lag flach auf der Liege. Ihre Arme spannten sich über ihren Bauch. Der zog sich zusammen, verkrampfte sich und tat weh. Sie hasste das. Sie wünschte er wäre nicht da. Sie war eine Frau. Aber sie hatte doch sowieso keine Chance jemals ein Kind zu bekommen. Die Ärzte wollten es nicht wegnehmen, hatten ihr erklärt, dass sie später Probleme bekommen würde. Später: wie lächerlich war das denn? Als ob es ein Später für irgendwen von ihnen gäbe. Chris quatschte sie mit irgendwelchen neuen Games zu. Sie verstand es nicht. Aber sie nickte ihm zu. Sie wusste, er wäre beleidigt, wenn sie ihm sagen würde, dass es sie überhaupt nicht interessierte. Sie dachte über das nach, was Gerd vor einer Woche gesagt hatte: "Ach was, Chris simuliert doch nur!" Sie konnten alle ihre Körpertemperatur senken. Das war gar nicht schwer. Dann musste doch das umgekehrte auch gehen. Aber sie wusste nicht wie. Nachdem sie die Temperatur gesenkt hatte, wartete sie immer darauf, dass ihr Körper sich wieder normal einregelte. Ihre Hände griffen noch einmal nach den Gewichten. Ihre Finger schoben und schoben sich um die Stange. Aber sie konnte nicht mehr. Ich Bauch verkrampfte sich und ihre Arme brannten bereits wie die Hölle. Sie ließ sie wieder senken. Dann richtete sie sich auf. „Bist du fertig?“ Sie nickte und lächelte Chris zu. Er war süß und hübsch. So würde man gar nicht glauben, dass er gezeichnet war, wie sie alle. Sie fuhr zu der lästigen Locke, die ihm immer in die Augen hing. „Irgendwann schneide ich sie ab!“, hatte sie ihm früher gedroht. Aber die Locke war noch immer da. „Gehst du noch schwimmen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht!“ „Dann willst du sicher duschen! Wir können gemeinsam duschen!“ „Nein, Chris! Bitte nicht heute!“ Seine Augen verengten sich. Er war nicht glücklich. „Wieso?“, fragte er wie ein Kleinkind. Sie fuhr sich zum Bauch. „Du weißt wieso! Komm, mach weiter!“ „Dann geh ich noch schwimmen. Dann hast du ein wenig Zeit für dich!“ Sie lächelte dankbar. Chris konnte so nett sein. Besonders wenn sie die Regel bekam, ließ er ihr all den Freiraum, den sie brauchte. Sie packte ihre Tasche und stopfte das verschwitzte Handtuch hinein. Chris gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann lief sie zum Ausgang. Sie fuhr mit ihrer Plakette über das Panel. Es piepste. Die Tür öffnete sich. Hem stand vor ihr. Er hatte wieder diesen Blick. Sie zuckte leicht zusammen. „Du schwimmst heute nicht!“, stellte er fest. „Fühl mich nicht danach!“ Er fragte nicht nach. Aber sie wusste trotzdem, dass er sofort begriff, um was es eigentlich ging. Irgendwie war es ihr peinlich und dann doch wieder nicht. Mit Hem war alles anders als normal. „Dann sehen wir uns zum Mittagessen!“ Er streifte an ihr vorbei. Sie blickte ihm hinterher. Wie lange hatten sie nicht mit einander geredet? Es war wie eine Ewigkeit, seit sie gemeinsam die Hochausübung bestritten hatten. Seitdem gab es nur so Banalitäten, wie jetzt.
Heißes Wasser prasselte auf sie herab. Sie blickte an sich herab. Rotes Blut rann den Abguss hinab. Sie dachte an die Simulation. Sie stellte sich vor zu brennen, zu glühen. Sie verinnerlichte sich das. Sie schloss die Augen und hörte auf das Brodeln und ziehen in ihrem Inneren. Wieso musste das so wehtun? Sie spürte jeden einzelnen Tropfen Wasser auf ihrer Haut. Er brannte sich ein. Die Tür zum Bad wurde geöffnet. Sie fuhr herum. Sie hatten jeder ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Sanitärbereich. Sie schliefen in Chris Zimmer. Ihr Zimmer war nebenan und sie benutzte es kaum. Nur an Tagen wie diesen wollte sie ihre Privatsphäre. Sie wusste, es war nicht Chris. Chris würde niemals hier hereinkommen. Er schlüpfte hinein. Er war nackt. Es war wie in der Umkleidekabine. Er sagte nichts, er küsste sie. Wenn sie die Regel hatte, hasste sie es angefasst zu werden. Da waren das Blut und alles. Sie ekelte sich vor sich selbst. Aber bei Hem war es egal. Bei Hem war alles egal.
Er stand noch einen Moment über ihr, wusch alle Spuren ab. Dann drehte er sich um, um zu gehen. Aber sie wollte nicht, dass er ging. Sie hielt seine Hand fest. Vorhin war er groß und stark gewesen. Jetzt sank er in sich zusammen. Sie griff nach seinem Stützgerüst, das er nie abnehmen konnte, nicht beim Schwimmen, nicht in der Dusche. Nie! „Chris wird bald kommen!“ „Chris kommt nie hier rein!“ „Er wird mich sehen, wenn er die Tür öffnet!“ „Alles, was er sieht ist heißes Wasser!“ Sie zog ihn an seinem Gerüst heran. Er verzog das Gesicht. Er hatte Schmerzen. Sie hatte auch Schmerzen. Sie zog ihn zu sich heran, legte ihre Arme um seinen Hals. „Was ist das?“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich weiß nicht, von was du sprichst!“ Sie küsste ihn. „Davon!“ Er schüttelte den Kopf. „Es gibt kein <>!“ „Willst du das jetzt immer machen? Dich zu mir schleichen, wenn ich es nicht erwarte. Heimlich! Und danach so tun, als wäre nichts gewesen?“ „Immer? Immer ist nicht sehr lang!“ Sie drückte sich an ihn. Sie verstand das nicht. Das war mehr als sie ertragen konnte. „Mit dir ist es so anders als mit Chris!“ Das waren die falschen Worte. „Du warst für Chris bestimmt!“ „Was?“ Was sollte das jetzt werden? „Chris hat früher Gerd controllt und Sheila mich. Gerd hatte den Plan die Fassade hoch zu steigen. Die Idee war genial. Chris ist ausgezuckt. Ich meine, du kennst ihn ja. Nach zwei Etagen hat Gerd das Headset weggeschmissen. Er hat sich abgeseilt und die Mission aufgegeben. Danach hatte er sich geweigert jemals wieder mit Chris zusammen zu arbeiten. Eine Woche später bist du gekommen. Sie haben dich für Chris bestimmt!“ Sie prallte zurück. „Das ist nicht wahr!“ Sie war doch nicht Chris Spielzeug, ein neues Game. Er küsste sie. Wieso sagte er ihr das jetzt? Er küsste sie noch einmal. Und tat dann solche Sachen? Was war real? Was war wahr? „Was? Was willst du?“ Hem sagte nichts darauf. „Willst du, dass ich mit ihm Schluss mache, damit ich deine Freundin sein kann?“ „Nein! Nicht wegen mir! Wegen dir, vielleicht! Nicht wegen mir!“ Sie sackte unter ihm zusammen. Sie begriff das alles nicht. „Geh, bitte. Geh jetzt!“ Er nickte und schlüpfte aus dem Bad. Sie saß in der Duschwanne und ließ das heiße Wasser auf sich herab regnen. Plötzlich begann sie wieder zu schluchzen. Wieso musste sie immer schluchzen, wenn er da gewesen war?
Erst sehr viel später hörte sie noch einmal jemanden in ihrem Zimmer. Chris rief nach ihr. „Ich bin noch unter der Dusche!“ „Noch immer?“ Sie starrte auf ihre runzligen Finger. „Ja, verschwinde!“ „Okay! Soll ich essen für dich holen?“ „Nein, lass mich in Ruhe!“ Sie wartete darauf, dass Chris das Zimmer verließ. Dann wartete sie noch ein bisschen. Sie drehte das Wasser ab. Innerhalb kürzester Zeit war ihr total kalt. Sie griff nach ihren Oberarmen. Ihre Haut glühte.


© lerche


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