Prolog 4 – Rekrutierung des gefallenen Kriegers

© EINsamer wANDERER

››Hey, Muresch!‹‹ Eine grobschlächtige Hand schüttelte den Zwerg unsanft an der Schulter. ››Muresch wach auf!‹‹
Grunzend erwachte der Krieger. Verschlafen rieb er die Augen und sah seinen jüngeren Bruder Schilj müde an.
››Ist es schon wieder so weit?‹‹, brummte der ältere Bruder ungemütlich.
››Allerdings. Wie kommst du nur auf die Idee am Vorabend einer Patrouille mehr als fünfzig Humpen zu heben? Und wie du nur aussiehst! Sieh dich und deine pickfeine Gesellschaft doch nur an.‹‹ Angeekelt zeigte Schilj auf die betrunkenen Zwerge die überall im Raum.
Verwundert blickte der Zwerg sich um. Um ihn herum lagen ein halbes Dutzend schnarchender Artgenossen, die teils auf den harten Steinboden seiner Stammkneipe, teils auf ihren Stühlen sitzend, ihren Rausch ausschliefen. Trotz ihrer geringen Größe hätte man ihr Schnarchen leicht als das von Riesen abgetan.
Muresch sah nun an sich selbst herab. Er saß im Schneidersitz leicht nach vorne gebeugt auf den steinernen Boden. Sein Hemd klebte durchgeschwitzt an seinen mit Tätowierungen und Narben übersäten Körper. Zudem wies das Kleidungsstück einige Flecken auf, von denen Muresch gar nicht wissen wollte, was sie waren. Ihm fiel auf, dass er immer noch sein Breitschwert samt Gurt und Scheide fest in der Hand umklammert hielt.
Da fiel ihm ein, dass er nicht mehr wusste, wo seine Rüstung lag. Suchend schaute er sich danach um.
››Suchst du das hier?‹‹, fragte Schilj und warf Muresch einen schweren Sack aus groben Leien zu. Dem Scheppern nach zu urteilen war es seine Rüstung, aber um sicher zu gehen lugte Muresch noch einmal vorsichtshalber rein.
Als er sich sicher war, dass es sein Panzer war, begann er sich anzukleiden. In wenigen Minuten trat er mit seinem Bruder in voller Montur aus der Taverne. Ihre Rüstungen schimmerten im Licht der fluoreszierenden Kristalle der Zwergenstadt Gotschrik.
Trotz Muresch strenger Geruchsnote würde sich niemanden daran stören, da Zwerge allgemein wenig Wert auf Körperpflege gaben. Wieso sich auch um so etwas Unwichtiges wie den Körpergeruch stören, wenn es so viel Wichtigeres im Leben gab, wie die Frage, wer den meisten Met trinken konnte oder die Pflege des eigenen Bartes.

››Muresch vom Stamm der Felsspalter, Ihr seid schon wieder zu spät! Noch einmal – nur ein einziges Mal – und ich werde mit Euren Schädel den Stein blankpolieren. Habt Ihr mich verstanden?!‹‹, brüllte der Kommandant von Mureschs Tunneltruppe. Der Krieger war mit ernster Miene aus der Reihe strammstehender Zwerge vorgetreten und ließ still die Schimpftirade über sich ergehen.
››Ja, Herr‹‹, sagte Muresch beschämt, der nicht daran gewohnt war, dass man so mit ihm sprach. In Gegenwart von Vorgesetzten fühlte er sich stets unwohl.
Die anderen Zwerge kicherten hinter vorgehaltener Hand. Muresch sandte ihnen einen zerstörerischen Blick zu, worauf sie sofort verstummten. Jedem hier war Mureschs Temperament wohl bekannt, der ganz anders als sein Bruder Schilj keinen kühlen Kopf behalten konnte, wenn man ihn reizte oder es um Gold ging.
Als Muresch wieder in der Reihe war und ihr Kommandant ihre heutige Patrouille in brüllenden Tonfall erläuterte, beugte sich der kleine Bruder verschwörerisch zu Muresch hin und sagte im Flüsterton: ››Mach dir nichts draus´. Der Kommandant hat etwas gegen alle Stammflüchtlinge. Es ist nichts persönliches.‹‹
Stammflüchtlinge. So nannte man alle Zwerge deren Stamm ausgelöscht worden war.
Muresch und Schilj waren noch sehr jung gewesen, als ihre Stadt bei einer Belagerung gefallen war. Sie konnten sich noch nicht einmal mehr an den Namen ihres eigenen Stammes erinnern, geschweige denn an ihre Eltern.
Jedes Mal wenn er schlief erlebte Muresch jene grauenvolle Nacht aufs Neue. Die Albträume versetzten ihn zurück in die Rolle eines kleinen, ängstlichen Zwergenkindes, das weinend in einem Inferno aus Feuer und Dunkelheit stand, während um ihn herum alles getötet und vernichtet wurde. Ihre Stadt – Oschrima – war von den Dunklen, dem Erzfeind der Zwerge – zerstört worden. Ihre gesamte Familie hatte bei der Belagerung ihr Leben gelassen. Einzig die beiden Brüder hatten überlebt. Das war auch der Grund warum Muresch sich niemals von seinem Bruder trennen würde. Er war seine ganze Familie.
Anschließend waren sie vom Felsspalterstamm in einer der letzten Zwergenstädte Gotschrik aufgenommen worden und später als sie alt genug waren sie der Kaste der Krieger beigetreten und verpflichteten sich als Tunneltruppen in der Hoffnung eines Tages ihre Heimatstadt zurückzuerobern und ihre Familie so zu rächen.
Bei der heutigen Patrouille sollten sie mal wieder die Aufräumarbeiten einiger Tunnelarbeiter beaufsichtigten, während sie einen eingestürzten Tunnel freiräumten. Dabei beschützten sie die einfachen Arbeiter vor den Gefahren der Tiefe.
Schnaubend stand Muresch neben Schilj am Eingang des halbeingestürzten Tunnels wache, während die Arbeiter den Gang freilegten. Kein Gold und keine Kämpfe. Es war einfach nur langweilig.
Dem jüngeren Bruder schien die schlechte Laune von Muresch aufzufallen. ››Hey Kopf hoch, großer Bruder‹‹, meinte Schilj schief grinsend. ››Es gibt bestimmt bald etwas für uns zu tun.‹‹
Muresch hatte da seine Zweifel. ››Meinst du?‹‹
››Da bin ich mir sicher. Und selbst wenn nicht. Gegen ein wenige Ruhe und Frieden ist doch nichts einzuwenden. Sieh doch mal, wie weit du es in den letzten Jahren gebracht hast. Du hast dich in kürzester Zeit zu einem großen Krieger entwickelt und ich … nun ich … wir haben uns jedenfalls etwas Ruhe redlich verdient.‹‹
Muresch sah seinen Bruder schräg an. Ihm schien etwas auf der Seele zu Lasten. Der Krieger wollte gerade darauf eingehen, als er etwas Verdächtiges hörte.
Es schien … ja da war Muresch sich sicher. Schneller als der Blitz drehte der Zwerg sich um, sprang in den Staub und bevor einer der Tunnelarbeiter sich danach bücken konnte, hatte Muresch sich den Goldklumpen auch schon geschnappt und runtergeschluckt.
Angewidert von der schier endlosen Gier des Kriegers wendete der Arbeiter sich wieder seiner Tätigkeit zu.
Muresch lachte fröhlich, als er sich aus dem Staub erhob. Endlich hatte er wieder etwas Gold gefunden. ››Davon werden ich meinen Diener bezahlen, sobald wir Oschrima zurückerobert haben‹‹, meinte der Krieger fröhlich summend und schlug sich übertrieben auf den muskelbepackten Bauch. ››Oder erweitere ich damit den Metkeller?‹‹
Sein Bruder schüttelte mit dem Kopf, so dass sein Bart hin und her schaukelte. Eigentlich sollte er Muresch für seinen Goldriecher dankbar sein.
Mit all dem Gold wollte er sich selbst und seinem Bruder im zurückeroberten Oschrima ein großes Haus mit Dienerschaft und all den anderen Gütern der Reichen kaufen. Jedoch wusste Schilj noch nichts von seinem Glück. Es sollte eine Überraschung für ihn werden. Beim Gedanken, wie sein kleiner Bruder später beim Anblick seines eigenen Palastes die Kinnlade runterfallen würde, rieb sich der Krieger innerlich freudig die Hände.
››Deine Gier nach Gold ist selbst für unser Volk übertrieben und das sage ich dir als dein Bruder‹‹, meinte Schilj gutmütig.
››Jeder Zwerg kann etwas besonders gut. Der eine kann mehr Trinken, der andere ist besser in der Pflege seines Bartes und bei mir ist es mein zuverlässiger Riecher hier‹‹, er tippte betont auf seine Knollnase.
››Aber musst du das Gold jedes Mal aufs Neue runterschlucken?‹‹
››So kann es mir keiner während der Nachtruhe stehlen.‹‹
››Du leidest unter Verfolgungswahn, Bruder. Außerdem ... Was kannst du eigentlich nicht? Du trinkst wie kein Zweiter. Im Kampf bist du unübertroffen. Dein Bart ist geschmeidig und glänzend. Von deinem Goldriecher mal ganz zu schweigen, kannst du einfach alles! Ich wünschte ich müsste nicht …‹‹
Gerade als Schilj wieder mit dem Erzählen beginnen wollte, meldete sich Mureschs Nase erneut, worauf er wie ein Bluthund mit der Suche nach Gold begann. Mit einem Seufzer schien sein Bruder es aufzugeben, es sagen zu wollen. Den Rest der Wache passierte nichts von Bedeutung. Bis auf den sieben Goldklumpen, die Mureschs Nase gefunden hatte.

››Auf den besten kleinen Bruder, den es unter dem Stein gibt! Auf Schilj!‹‹ Wie immer war Muresch nach seiner Patrouille in seiner lärmenden Lieblingsstammkneipe. Die Brüder hatten sich eine stille Ecke zurückgezogen, während der Rest der Gäste singend auf den Tischen tanzte. Vereinzelt sah man einige Zwerge mit Bier getränkten Bärten schnarchend auf der Tischplatte schlafen.
Gerade wollte Muresch mit seinem Bruder auf eine erfolgreiche Patrouille anstoßen, als dieser seinen Krug hastig zurückzog.
Auf den fragenden Blick des älteren Bruder antwortete er nur: ››Heute nicht. Heute ist mir nicht nach anstoßen zu Mute.‹‹
››Wieso nicht?‹‹
››Ich weiß nicht. Es ist mir heute einfach nicht danach.‹‹ Wie er schrägseitlich nach unten schaute, fand Muresch schon etwas seltsam.
Bevor er näher darauf eingehen wollte, trank er seinen eigenen Humpen in einem Zug aus. Er wollte sich ja nicht mit staubtrockener Kehle unterhalten. ››Ist es weil heute der Tag ist?‹‹
Schilj zuckte nur trübe mit den Schultern, worauf Muresch ihm auf die Schulter klopfte. Der kleine Bruder hob darauf müde sein Haupt. Sein Blick war irgendwie … schuldbewusst?
››Gib dir keine Schuld an ihren Tod. Die Dunklen waren es. Sie waren es ganz allein und wir werden sie rächen. Die Dunklen werden ihren Kindern Gruselgeschichten über die Zwergenbrüder Schilj und Muresch erzählen. Wir werden sie vernichten. Einem nach dem anderen. Sie werden unter unseren Schritten zittern und vor unserem Kampfgeschrei voller Furcht fliehen. Das Letzte was sie in ihrer erbärmlichen Existenz sehen werden ist deine blutverschmierte Axt und mein aufblitzendes Schwert. Selbst im Tode werden sie …‹‹
Ein höhnisches Lachen hallte durch den Raum und ließ den Zwerg in seiner mitreißenden Rede verstummen.
Die Kristalle an der Decke begannen zu flackern, dann brach düsterste Finsternis herein. Sämtliche Lieder erstickten in der Schwärze. Außer dem bösen Gelächter wurde alles still. Die Augen eines Zwergs waren an die Dunkelheit unter Tage gewöhnt, aber selbst sie vermochten nicht diese Finsternis zu durchdringen. Sie war anders. Tiefer und dunkler. So eine Abwesenheit von Licht war Muresch und Schilj nicht unbekannt. Die beiden kannten sie von ihren Kämpfen gegen die Dunklen.
Mit einem Kriegsschrei zog Muresch sein auf seinen Rückengebundenes Breitschwert mit einem Zischen aus der Scheide. ››Kommt nur her ihr Unholde! Ich werde euch persönlich in Scheiben schneiden!‹‹
Brüllend warf er sich gegen die Horde. Es mussten an die ein Dutzend sein. Um ein Mitglied der Tunneltruppen zu werden, musste man vorher lernen in der Dunkelheit zu kämpfen, daher besaß jeder einzelne Tunnelkämpfer über jahrelang geschulte Ohren und Reflexe. Im harten Training hatte Muresch gelernt blind in tiefster Finsternis zu kämpfen. In Auseinandersetzungen wie dieser zahlte sich das ständige Üben mit der Augenbinde aus.
Der unbändige Zorn auf die Dunklen, die ihm fast alles genommen hatten, nahm überhand. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Die tiefe Dunkelheit tat ihr übriges und ließ die primitiven, wilden Wesenszüge des Kriegers zum Vorschein kommen. Muresch tötete einen nach dem anderen. Jeder Gefallene blieb als regloser Schatten auf den Boden liegen. Kein Licht mochte ihre Dunkelheit durchdringen. Mit jedem Schatten auf den Boden wuchs Mureschs Zorn. Mit jedem Toten schlug er fester zu und kämpfte noch wilder. Doch statt dass die Dunklen nachgaben oder sich zurückzogen, kamen immer mehr von ihnen. Schließlich gelang es den Dunklen den Zwergenkrieger niederzuringen, doch selbst am Boden wehrte Muresch sich noch immer, bis ihm ein Schlag am Kopf traf und alles schwarz werden ließ.

Der Zwerg erwachte mit brummendem Schädel und verwischten Blick angekettet in einem Holzkarren. Man hatte ihm seine Rüstung abgenommen. Bis auf seine Stoffhose waren sämtliche Tätowierungen und Narben entblößt. Ein Halsband aus schwarzem Leder mit gusseisernen Ringen hing um seinen Hals.
Mit knarrenden Geräuschen wurde er durch die engen Straßen von Gotschrik geschoben. Alle Zwerge der Stadt waren aus ihren kleinen eckigen Steinhäusern mit den flachen Dächern gekommen und hatten sich draußen versammelt. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als wäre eine verabscheuungswürdige Kuriosität. Es herrschte eine gespenstische Stille die von gelegentlichem Tuscheln unterbrochen wurde.
Muresch war vollkommen verwirrt. Das Letzte an das er sich erinnerte war die Schenke gewesen, wie sie von Dunklen überfallen worden war. Anschließend hatten sie ihn niedergestreckt. Wieso war er jetzt hier und wurde einem tollwütigen Tier gleich durch die Stadt geführt?
››He, da‹‹, knurrte Muresch bedrohlich. ››Was ist passiert? Wo bringt ihr mich hin?‹‹
Die Wachen hüllten sich in Schweigen. Der Krieger versuchte noch durch einige Drohgebärden seine stillen Wärter zum Reden zu bewegen, doch es stellte sich als ein zweckloses Unterfangen heraus. So versuchte er allein aus der Sache schlau zu werden, wobei er nach seinem Bruder Schilj Ausschau hielt, von dem weit und breit keine Spur war.
Der Karren hielt so plötzlich, dass Muresch Probleme hatte den Stand zu behalten. Sie waren auf dem Vorhof des Gerichts angekommen.
Das Gericht war ein mehrstöckiges, pyramidenähnliches Gebäude aus dunklem Stein, welches bedrohlich mit einem unbarmherzigen Blick auf den Verurteilten hinabzuschauen schien. Auf den großen Vorplatz standen ein Galgen mit einer baumelden Zwergenleiche daran und ein blutverschmiertes Schafott. Beides sollte als Abschreckung dienen, aber Muresch beeindruckten diese leblosen Schreckgespenster nicht.
››Was wollen wir hier?‹‹, brummte Muresch als die Wachen die Tür zum Karren aufschlossen.
Am liebsten hätte Muresch die Ketten aus dem Holzboden gerissen und anschließend seine Wächter damit erwürgt, doch die Bolzen der Armbrustschützen auf den Wällen zielten alle auf ihn. Flucht war somit undenkbar. Er wäre tot, noch bevor er auch nur einen Fuß aus dem Käfig setzen konnte und so beugte er sich.
Die Wachen kamen mit an Stangen befestigten Harken, die sie in die Ringe um sein Halsband einharkten. Somit konnten sie Muresch führen, ohne in Schlagreichweite zu kommen. Still ließ sich Muresch zur hundertstufigen Treppe hinauf zum Gericht führen.
Im Gerichtssaal waren Zwerge aus allen Kasten vertreten. Vom Händler bis hin zum Adligen. Alle waren sie gekommen und warteten nun ungeduldig auf ihren Bänken sitzend, auf die Anhörung. Muresch wurde zu einem Käfig gebracht, der in die Steinwand gegraben war. Die Gitter waren aus dicken mit bolzen verstärkten Eisenstreben, die nicht einmal ein Muresch verbiegen konnte.
Auf dem Platz des Richters in der Mitte eines erhöhten Podestes neben Mureschs Käfig, saß der Großkönig umgeben von seinen Beratern. Egal weswegen Muresch hier war, es musste etwas überaus Wichtiges sein, wenn der Großkönig sein Richter war. Muresch hatte seinen König noch nie sonderlich gemocht und noch nie die Bekanntschaft gewünscht. Er hatte eine Vorliebe für Exekutionen. Muresch waren ehrenwerte Duelle lieber, statt feiger Hinrichtungen.
››Nun,‹‹, begann der Großkönig mit seiner hallenden Stimme die vor Autorität nur so strotzte, ››ich denke wir alle wissen, wieso wir uns heute hier versammelt haben. Dieser … Krieger hier hat zahlreiche Bürger unseres schönen Gotschrik gemetzelt. Selbst als unsere großartige Stadtwache eingriff, hatte sie Mühe dieses Tier zu bändigen. Alle Gäste der Schenke Metfluss haben diesen Wahnsinn nicht überlebt. Nur dank eines Augenzeugenberichtes wissen wir, was sich zugetragen hat. Bringt den Zeugen herein!‹‹
Begleitet von zwei grimmig dreinschauenden Wachen kam ein geknickter Schilj herein. Er schien nicht wirklich glücklich über seine Anwesenheit zu sein. Er fummelte nervös mit seinen Fingern herum. Muresch verstand noch immer nicht. Hatten seine Sinne ihn getäuscht, wodurch er beim Angriff ausversehen einige der Gäste umgebracht hatte? Sicher konnte Schilj das alles richtigstellen.
››Was habt Ihr gesehen, Krieger?‹‹, fragte der Großkönig, wobei es sich mehr wie eine Drohung anhörte.
Schilj schluckte hörbar. ››Mein … Bruder, Sire. Er ist verrückt geworden.‹‹
Es dauerte einige Momente, bis die Worte den Krieger erreichten. ››Was?!‹‹, brüllte er fassungslos.
››Ich habe noch versucht ihn aufzuhalten, aber er war wie von Sinnen. Er hat die Leichen angeschrien und verhöhnt. Wüste Flüche verließen seine Lippen, deren Laute ich nicht wiederholen kann, da mich sonst der Zorn der Berge treffen würde.‹‹
Jetzt verstand Muresch gar nichts mehr. Er hatte sich doch mit Schilj unterhalten, bevor …
Die schreckliche Erkenntnis ließ Mureschs Augen sich weiten. Er rang nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Schilj – sein eigener Bruder – er hatte nicht anstoßen wollen, was Muresch stutzig gemacht hatte. Konnte es sein, dass Schilj ihm etwas in den Met gemischt hatte, so dass er diese schrecklichen Taten begehen konnte?
Tobend vor Wut rüttelte Muresch an den steinernen Streben der Zelle. ››Warum, Schilj?! Warum nur, Bruder?!‹‹, schrie er.
Erschrocken sprang Schilj einen Schritt zur Seite, während Wachen an ihm vorbeirannten zum tobenden Zwerg. ››S-seht Ihr, Sire! Er … er ist v-v-v-verrückt! Mehr Tier als Zw-zwerg‹‹, stotterte Schilj und zeigte mit zitterndem Zeigefinger auf seinen älteren Bruder.
Die Wachen stachen mit ihren Klingen nach Muresch, doch der ließ sich nicht beruhigen oder einschüchtern. Der Großkönig schaute mit unnachgiebigem Blick auf den Gefangenen hinab. ››Ihr habt recht, Krieger‹‹, mit einer wedelnden Handbewegung fügte er hinzu ››Man richte ihn sofort hin.‹‹
››Nein!‹‹, schrie Schilj mit ausgebreiteten Armen, als wolle er eine rollende Lawine mit bloßen Händen aufhalten.
Einer der Berater neben dem Großkönig beugte sich leicht vor und flüsterte ihm etwas hinter vorgehaltener Hand ins Ohr, worauf der Großkönig eine ernste Miene aufsetzte und sich nachdenklich über den Bart strich.
››Ich verkünde hiermit das Urteil. Diesem Krieger sollen alle Ehren seiner Taten aberkannt werden. Sein Name wird aus unserer Geschichte getilgt und sein Stamm hat die Pflicht ihn zu verstoßen. Es erwarten jeden harte Strafen, wenn er über ihn oder seine Gräueltaten spricht. Der Stammlose soll von wütenden Tunneljägern aus Gotschrik gejagt werden. Fernab soll sein Bein mit einer Eisenkugel beschwert werden, damit der Gang aus der Stadt nicht zu einfach für den Verurteilten wird. Zwerg‹‹, jetzt wandte sich der Großkönig direkt an Muresch, der nun weder Namen noch Rang besaß, ››wenn Ihr auch nur einen Funken Eurer Ehre als Krieger wiederlangen wollt, so sterbt Ehrenhaft im Kampf mit der Klinge in der Hand gegen die Gräuel der Tiefe, die in den Gedärmen der Welt lauern. Wir werden euch das Halsband abnehmen und euch eure Waffe zurückgeben, damit ihr die Chance erhaltet, eure Taten vor den Bergen zu sühnen.‹‹
Muresch spie in die Richtung des Königs. ››Ich spucke königlich auf Euch, Sohn eines räudigen Tunneljägers. Ich spucke auf Euch, auf unsere Schöpfer – die Berge – und auf meine Ehre als Krieger. Und du,‹‹, er zeigte mit seinem Finger auf Schilj, der dieser Worte zusammenzuckte, ››dich verfluche ich bis in alle Ewigkeit. Du hast mich – dein eigen Fleisch und Blut – hintergangen. Das werde ich dir niemals verzeihen. Ich werde es niemals vergessen. Niemals!‹‹

Schnaubend rannte Muresch die schmalen Gassen entlang und versuchte den schnappenden Mäulern der Tunneljäger – kleine augenlose Eidechsen, die gerne zur Jagd benutzt werden – auszuweichen, während die Eisenkugel durch die Luft flog. Ihr Gewicht erschwerte den Lauf und schlug immer wieder gegen Erhebungen der Straße, während sein Gurt mit dem Breitschwert unruhig auf dem Rücken hin und her wackelte.
Langsam und bebend wurden die Steineren Flügel des reichverzierten Haupttores einen Spalt weit für den verhassten Muresch geöffnet, um ihn raus zulassen. Schnaubend sprintete der ehemalige Krieger – immer noch von den Tunneljägern verfolgt – durch das Tor. Als die Flügel sich wieder krachend hinter dem Zwerg schlossen, zersprang Mureschs Herz in Tausendstücke.
Wütend schreiend sprang er in die Luft und vollführte eine Halbdrehung. Als seine nackten Füße den harten Boden berührten, sprintete er auf die Tunneljäger zu und brach jeden einzelnen mit bloßen Händen das Genick. Ihre Bisse spürte er kaum. Er war wie tot.
Der Dolch des Verrates hatte sein Herz mit einem Stich vergiftet. Die Kette der Eisenkugel riss er ab. Die Fußfessel blieb. Sie sollte ihn immer an den Verrat von Schilj erinnern. Muresch nahm die abgetrennte Kugel aus Eisen in die Hand und schwor bei ihr, dass er irgendwann zurückkehren und Rache nehmen würde. Um seinen Schwur zu besiegeln, warf er die Kugel gegen die Mauern der Stadt, wo sie zersprang und eine kleine Vertiefung hinterließ. Zornig warf er den Abweisenden Mauern noch einen verfluchenden Blick zu, ehe er sich von der Stadt abwandte die ihn nun verstoßen hatte.
Der gefallene Krieger nahm all seinen Zorn und Hass mit sich in die Tiefe, wo er sie gegen Jeden einsetzte, der dumm genug war sich ihm in den Weg zu stellen. Sein Gemüt kühlte aber nicht ab, vielmehr erhitzte es sich immer weiter. Er gab Schilj an allem die Schuld, der ihm in die Verbannung geschickt hatte. Der Hass verzerrte alles, was einst den Krieger ausgemacht hatte. Die Verbannung machte ihn wahnsinnig.

Die Zeit verging. Wie lange Muresch die Dunkelheit der Untiefen durchstreifte ließ sich nicht sagen, da er in der Finsternis schon längst sämtliches Zeitgefühl verloren hatte. Wie ein rachsüchtiger Dämon erschlug er alles, was sich ihm entgegenstellte, nur um den Durst nach Rache zu stillen. Er tat unmenschliche Dinge um in der Tiefe zu überleben.
Lange Zeit verbrachte er im Dunkeln, bis ein Magier namens Liam seinen Weg kreuzte. Muresch war nach einem Kampf gegen mehrere der Dunklen schwer verletzt worden. Es war ein Wunder, dass Liam ihn in der Tiefe gefunden hatte. Der Zwerg lag sterbend im Staub. Unfähig sich zu bewegen.
››Erstaunlich dass Ihr trotz Eurer Verletzungen immer noch lebt. Ihr seid ein Zwerg‹‹, stellte Liam sachlich fest. ››Ein Zwerg der die Untiefen durchwandert. Sagt mir, seid Ihr ein Verstoßener?‹‹
Muresch antwortete mit rasselnder Stimme: ››Was geht Euch das an, Oberflächler?‹‹ Er hustete Blut. Seine Kräfte waren erschöpft. Er lag wortwörtlich in den letzten Atemzügen.
››Ich bin derzeit auf der Suche nach Personen mit bestimmten … Fähigkeiten. Mir fehlt nur noch ein Krieger. Sagt mir, wie lange seid Ihr schon hier in der Dunkelheit?‹‹
››Seid … ich … weiß es nicht mehr. Zu lange Zeit allein. Ich will nur … will doch nur …‹‹
››Ja?‹‹, hackte Liam freundlich Lächelnd nach.
››Rache.‹‹
Seine Miene verfinsterte sich, was Muresch trotz der schlechten Sichtverhältnisse gut sehen konnte. ››Rache führt nur zu noch mehr Leid und sie wird Euch auch nicht retten. Ihr werdet durch sie zu Grunde gerichtet, mein Freund.‹‹
››Mir einerlei‹‹, keuchte Muresch. Er glaubte, es wären seine letzten Worte. Den Tod selbst fürchtete er nicht. Er fürchtete nur seine heißersehnte Rache nicht mehr zu bekommen.
››Ich unterbreite euch einen Vorschlag. Ihr werdet mit mir kommen und dann werde ich euch bei eurer … eurem Problem helfen. Einverstanden?‹‹ Er streckte die Hand aus.
Muresch hätte alles getan um den Durst nach Rache ein für allemal zu stillen. Er hätte selbst mit den Göttern der Dunkelheit paktiert, um sie zu kommen. Er dachte nicht weiter nach, als er einschlug. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Müdigkeit und Erschöpfung forderten ihren Tribut.


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Prolog 4 – Rekrutierung des gefallenen Kriegers"

So endlich habe ich den vierten und letzten Prolog fertig. Dann kann es ja in der Hauptstory endlich weitergehen.

Jedenfalls ist das die Vorgeschichte vom Zwerg Muresch.

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