100. Schritt


Immer, in den Hochphasen des mich ereilenden Wahnsinns, in seinen heftigsten Schüben sozusagen, werde ich von grauenhaften Anfällen ausufernder Logik befallen, die verschiedene Teile meiner tausendfach gespaltenen Persönlichkeit deutlich zum Ausdruck bringen. Ich bin dann nicht mehr ich selbst, sondern finde mich in den abstrusesten Rollen wieder, die nichts aber auch gar nichts mit meinem wahren Wesen zu tun haben…oder womöglich vor allem? Selbstverständlich frage ich mich dann schuldbewusst: „Bin ich das nun wirklich, oder hat ein Dämon spielerisch von mir Besitz ergriffen?“ Die Beantwortung der Frage muss ich allerdings in der Regel anderen überlassen – Leuten, die im anerkannten Besitz ihrer geistigen Kräfte (was immer das sein mag), über ausreichend Beurteilungsqualifikationen verfügen, sich nicht von irgendeinem wichtigen Eindruck täuschen zu lassen.

Meine Tage verbringe ich derweil in einem Zustand fröhlicher Umnachtung und verfolge im Theater der Fantasien den Hergang seltsamer Rollenspiele, die mich weder am „richtigen“ Leben teilhaben lassen, noch irgendwem nützlich sind. Das jedenfalls behaupten dann all diejenigen von meinen Inneren Stimmen, die mich/uns nicht in das Traumgeschehen begleitet haben. Gehen wir deshalb einmal probeweise in mich und beobachten wir was sich dort abspielt…

„Was sagen sie, mein lieber Wocktor Datson zu dem Fall `Tod durch ein Aushängeschild` in der Top-Secretstreet 666?“

„Ich weiß noch nicht was sie meinen, Herlock Sholmes, bitte helfen sie mir auf die Sprünge“.

„Nun, sie haben doch sicher auch den Leitartikel in der Liarspost, vom gestrigen 1. April gelesen. In dem außerdem noch stand, bei dem Finanz-Sachverständigen Professor Zwörgl sei eine Unmenge Leichen im Keller gefunden worden. Man vermutet 365. Das nenne ich wahre Sammelleidenschaft. Der Autor des Berichts ist allerdings unbekannt verzogen“.

„Ein wahrhaft verzwickter Fall, mein lieber Sholmes“.

„Zumal ich gehört habe, daß der Professor eine Hotelsuite bewohnt und ein Keller praktisch gar nicht vorhanden ist! Was schließen sie daraus Datson?“

„Daß die Leichen aus dem Amazonasgebiet stammen und allesamt geschrumpft worden sind? Sie hätten dann in einer Abstellkammer Platz“.

„Das scheint mir dann doch eine Spur zu weit hergeholt, mein lieber Datson, zumal ich heute Morgen einen anonymen Brief bekommen habe, in dem steht, daß die Anzahl der Leichen noch stark untertrieben sei. Es muss sich demnach also doch entweder, mehr um sprichwörtliche Leichen handeln, die sich bei dem Professor im Keller befinden, oder von seiner Suite aus muss es einen Zugang in andere Dimensionen geben, die, quasi unbemerkt betreten werden können“.

„Ist das jetzt ein Scherz, lieber Sholmes?“

„Halten sie mich bitte nicht für verrückt, lieber Datson, aber ich glaube wir müssen den armen Kerl, der im selben Augenblick mit dem Leichenfund bei Prof. Zwörgl von diesem ominösen Aushängeschild erschlagen wurde, in einen schlüssigen Zusammenhang mit dem aktuellen Geschehen bringen. Ich halte den Tod durch Erschlagen für nur einen einzigen Fall des kollektiven Suizids, der sich gerade vor unseren Augen vollzieht. Das müsste wohl später einmal in den Memoiren der Welt, also in den Geschichtsbüchern stehen. Ich habe sie jetzt schon improvisatorisch im Voraus gelesen und nach einer Hommage auf diverse Protagonisten gesucht“.

„Sie meinen, es handelt sich dabei um eine Art einvernehmlcihes Attentat auf den Erschlagenen?“

„Das meine ich allerdings!“

„Ist die Leiche denn schon identifiziert?“

„Das Schild muss sie bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt haben, aber Näheres weiß man leider noch nicht! Ich vermute sie hält Reden im Hyde-Park.“

„Es geht ihnen gut, Herlock?“

„Wie man’s nimmt. Das ist vermutlich ebenso Ansichtssache, wie die Annahme, bei Zwörgl seien Leichen im Keller gefunden worden. „Was dem een sin Uhl iss dem annern sin Nachtigall“, wie man im fernen Deutschland zu sagen pflegt. Sie verstehen mich?!“

„Keineswegs! Eher beginne ich mir Sorgen zu machen.“

„Was, mein lieber Datson, halten sie von der Theorie, es gäbe mehrere, nebeneinander existierende Bewusstseins-Dimensionen gleichzeitig in unserem diesseitigen Lebensbereich?!“

„Sie sind doch nicht etwa ins Lager der Esoteriker gewechselt? Sie machen mir Angst Herlock Sholmes!“

„Sagen wir mal, ich habe heute Nacht die Höheren Weihen erhalten“.

„Nein, mein lieber Sholmes, sie wollen sich nur über mich lustig machen. Meinen sie nicht, sie sollten möglichst sofort mit dem Trinken aufhören?“

„Den Eindruck habe ich gar nicht. Sie müssen wissen, Wocktor Datson, daß ich heute in der Tat, die ganze Nacht, bei ein paar Gläsern Whisky über dem Fall gebrütet habe. Und dabei ist eine imaginäre Türe nach der anderen vor mir aufgegangen. Ich hatte sie vorher gar nicht bemerkt …“

„Um Gottes Willen, sie sind bereits im Delirium?“

„…ganz im Gegenteil! Es war Türen in ganz andere Welten – in die Unendlichkeit der Metaphern. Ihr Einwand ist also unlogisch, wenn ich das einmal, in aller Freundlichkeit sagen darf“.

„Jetzt machen sie mir aber wirklich Angst!“

Wenn ich ihnen schon Angst mache, was würde ihnen dann die von mir angenommene Tatsache, daß es die 365 Leichen bei dem Finanz-Sachverständigen Zwörgl niemals – zumindest nicht in einem Keller – gegeben hat, machen? Das erklärte nämlich präzise, warum sie in die Abstellkammer des Professors weder passen müssen, noch aus dem Amazonasgebiet stammen“.

„?“

„Verstehen sie nicht, Datson? Es handelt sich dabei nur um Metaphern, nicht als Metaphern!“

„Und das Aushängeschild?“

„…ist der Zwörgl selber gewesen, während sein Opfer jetzt, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, sprich „ohne eigene Meinung“, Reden im Hyde-Park hält! Was mir in der Liarspost gewissermaßen ins Auge sprang, war nur ein verschlüsselter Hinweis-Abschiedsbrief eines Reporters, dessen tatsächliches Verschwinden niemand bemerken soll, weil der Mann zu viel wusste. Die Leserschaft ist durch geschickte Wortwahl vom eigentlichen Inhalt abgelenkt worden! Ich habe also nur zwischen den Zeilen gelesen.“

„Und warum ist dann der Finanz-Sachverständige Professor Zwörgl des Mordes an 365 Personen verdächtig?“

„Das geht nur aus den Metaphern hervor, lieber Datson, leider nur aus den Metaphern! Zwörgl erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit, ist aber als Mensch mit unversehrter Seele, sprich als wahrnehmbares Ganzes, nicht unbestritten zurechnungsfähig. Seine Meinung, die keines Menschen Meinung, sondern ein Ausdruck des Mainstreams ist, lässt ihn in dem Artikel nur am Rande als Unhold erscheinen“.

„Sholmes, glauben sie eigentlich noch daran, daß es eine „reale“ Welt gibt? Ihr Zustand ist besorgniserregend!“

„Ja, daran glaube ich, nur muss sie irgendwo hinter den Vorspiegelungen der Liarspost und den Leichen in sämtlichen Kellern liegen“.

„Ah, wenn ich sie recht verstehe, dann halluzinieren sie gar nicht, sondern glauben eher daran, daß irgendwer die hin- und herfließenden Informationen des täglichen Lebens extra für uns verschlüsselt hat? Eine Geheim-Verschwörungs-Organisation vielleicht?“

„Ganz recht. Hauptsächlich aber frage ich mich derzeit: „Was hat wirklich in der Liarspost vom 1. April gestanden? Was haben z.B. sie gelesen?“

„Wenn sie mich so fragen, lieber Sholmes, dann muss ich wohl zugeben, daß ich nur auf den Bericht über die Verleihung des King Henry Preises durch den Premierminister, für die Letztbesteigung des Mount Clevererst durch einen gewissen Sir George Giant geachtet habe. Er hat angeblich dort oben streng vertrauliche Wirtschaftsverhandlungen mit einem Yeti-Unterhändler geführt“.

„Sehen sie, das habe ich gemeint – wir befanden uns in zwei parallel verlaufenden, aber unterschiedlichen Dimensionen der Wahrnehmung als wir die Liarspost lasen! Es war nichts weiter als ein und derselbe Artikel!“

„Und was ist nun mit dem von einem Aushängeschild Erschlagenen? Gibt es den auch zweimal?“

„Nein, aber die Person hat 2 Seiten – eine offizielle und eine inoffizielle. Dabei handelt es sich vermutlich jedes Mal um seine Eminenz den Premiermister höchstselbst, der von einer scheinbaren Großtat erschlagen, zur Preisverleihung verurteil wurde und nun in seiner Realität herumirren muss, um seltsame Reden im Hyde-Park zu schwingen, deren Inhalt man ganz verschieden auslegen kann. Es kommt nur darauf an, in welcher Dimension man sich gerade befindet. Einzige und unumstößliche Tatsache ist und bleibt vermutlich dabei, das von der Öffentlichkeit nicht registrierte Verschwinden des armen Journalisten, der nun vermutlich irgendwo fest einbetoniert auf dem Grund der Themse liegt“.

„Damit, mein lieber Sholmes, haben sie anscheinend wieder einmal einen schwierigen Fall bravurös gelöst: Es gibt demnach weder eine zuverlässige Realität und daher weder wirkliche Täter noch wirkliche Opfer, da alles der Interpretation Einzelner unterliegt, die bestenfalls so viel von dem Gesamtumfang der Wahrheit erkennen können, wie ein Elefant im Prozellanladen, ein Blinder am Krückstock, oder ein dienstverpflichteter Amt-und Würdenträger aus, sagen wir ruhig, unserer Gegenwart. Man könnte aber genauso gut eine andere nehmen“.

„Ich bewundere ihren Scharfsinn, lieber Wocktor Datson, ich selbst hätte meinen Ausführungen nicht so gut folgen können wie sie!“

Nach Beendigung solcher Intermezzi kehre ich meist völlig am Boden zerstört, in mein Kabäuschen am Ende der Welt zurück. Dort steht ein Bett, in dem ich mich in aller Ruhe ausröcheln kann, dort gibt es Menschen, die verständnisvoll meine Hand halten, oder so, etwas Gutes zu Essen, ein Gläschen Wein, in dem die Wahrheit ebenso verborgen liegt wie in meinen kuriosen Geschichten und – nicht zu vergessen – ein Fantasie-Land mit millionen Inseln, zu denen ich segeln kann, wenn eines nicht mehr auszuhalten ist: die Einfalt der alltäglichen (Un)Vernunft.

Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

© Alf Glocker


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: axel c. englert   Datum: 11.04.2015 20:59 Uhr

Kommentar: Gut kombiniert! Was gleichfalls gilt:
Für den Text – wie für das Bild!

LG Axel

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: possum   Datum: 12.04.2015 0:53 Uhr

Kommentar: Sag einfach und simpel ... faszinierend und herzlichen Dank! LG!

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: Alf Glocker   Datum: 12.04.2015 11:24 Uhr

Kommentar: Vielen Dank an Euch! LG Alf

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