Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

© Alf Glocker

85. Schritt


Gestern habe ich (wer immer das ist oder war) eindeutig zu tief ins Glas geschaut, so viel weiß ich noch. Besser gesagt, ich ahne es dunkel. Heute habe ich ernste Identitätsprobleme! Bin ich schon wieder geboren worden – was aber war ich dann vorher?

War ich ein Löwenzahn, der bei jedem Windhauch seinen Samen in die ganze Gegend entlässt um in jedermanns Garten zu gelangen? War, oder bin ich eine Birke, die in 200 000 Jahren, über Spanien bis nach Sibirien wandert? Bin ich ein Eukalyptus, der alles um sich herum vergiftet, so daß nur noch er dort wachsen kann wo er wächst?

In meinem Kopf dreht sich die ganze Welt. Die Fragen häufen sich! Ich könnte z.B. auch eine Schildlaus sein, ein Tier das Pflanzen aussaugt und dafür so lange vollscheißt, bis sie sterben. Bin ich eine Wanderameise? Meine Artgenossen werden immer und immer und immer mehr! Sie fressen was ihnen vor die Mandibeln kommt.

Auch die Heuschrecke ziehe ich in Betracht. Sie ist Vegetarier! Bin ich Vegetarier? Heuschrecken vernichten jedenfalls alle Ernten auf die sie treffen. Ich erfühle mein derzeitiges Befinden und bemerke, daß ich unstillbaren Hunger habe!

Stück für Stück komme ich zu mir (zu wem?). Ein Raubtier bin ich wohl eher, eines, das sich einzelgängerisch oder in Rudeln über die Erde verbreitet um zu herrschen. Oder bin ich doch lieber ein Elefant? Einer der über die Savannen stampft, Bäume knickt und, wenn er zu häufig auftritt, ebenfalls große Schäden anrichtet. Große Schäden – an was? Oder für wen? Da gibt es doch noch einen, der sich für befugt hält dies beurteilen zu können…

Richtig! Mir fällt ein, daß ich auf 2 Beinen gehe. Ich bin also kein Fisch im Wasser, kein Vogel in der Luft – ebenfalls Gattungen, die bei zu ausufernder Fortpflanzungen den Lebensraum anderer total verscheißen oder zerstören können. Ich scheine etwas anderes zu sein.

Um zu erfahren was ich bin, drehe ich mich noch einmal ganz entschlossen um, damit mir die Wahrheit im Traum begegnen möge. Und so ist es dann auch. Nacheinander werde ich mit Farbkübeln überschüttet. Zum Glück kann ich sie Traum nicht voneinander unterscheiden. Ich weiß nur:

daß mich der erste glücklich macht. Ich tanze wie von Sinnen unter einer heißen Sonne, zum Rhythmus wilder Trommeln. Bin ich vielleicht doch ein Karnickel geworden? Nein, ich sehe mich mit dem Speer jagen. Halt, das scheint mein Vater gewesen zu sein. Ich selbst besitze ein Gewehr. Mit dem ballere ich nach Lust und Laune wild um mich. Neben mir sterben viel zu viele Kinder den Hungertod.

Der zweite Kübel macht mich stur! Ich arbeite irgendwas Furchtbares, so furchtbar wie es 1000 Generationen schon vor mir getan haben und ich frage weder danach was es ist noch wofür ich es mache. Ich leide, aber ich bin sehr stark – im Sinne von zäh! Ist es also doch die Wanderameise, die für mich infrage kommt?

Als mich der dritte Farbkübel trifft beginne ich mit einer seltsamen Dauerverehrung. Unwillkürlich bücke ich mich fortwährend. Ich verneige mich vor jemandem, den es nicht gibt, der mir nichts einbringt, nur um der Verbeugung willen. Was mir, außer einer sprunghaften Vermehrung, sonst noch so vorschwebt ist schwer ermittelbar. Jetzt weiß ich‘s: ich bin doch eine Heuschrecke!

Nein, wieder falsch! Da muss ich noch eine Stufe bunter schlafen! Jetzt werden die Farben in den Kübeln durcheinander gemischt! Ich ertappe mich dabei wie ich mich tagelang nicht bewege, nur um zu sein was ich bin. Wenn ich nur wüsste was es ist. Seetang in Alphawellen? Schildkröte? Tintenfisch?

Ich muss zu lange herumgesessen haben, denn auf einmal habe ich keine wirkliche Farbe mehr. Durchsichtig bin ich aber auch nicht geworden. Nacktmull käme der nunmehr Sache sehr nahe. Offenbar bin geschickt genug um alles umzugraben. Danach schichte ich riesige Haufen auf wo sich meinesgleichen herumtreibt um Dinge zuwege zu bringen, die einer Nachkommenschaft nützen soll, die ich gar nicht bereit bin zu produzieren und wenn doch, dann verbaut sie alles was ihr in den Weg kommt. Ich hab’s! Ich bin eine Termite!

Oder doch ein Elefant, der alles zertrampelt, ohne Rücksicht auf seine Umgebung. Zwischen mir und all diesen Überlegungen muss es doch einen Zusammenhang geben…

Plötzlich habe ich eine Erleuchtung – ich bin etwas tief Betrachtendes, etwas, dessen Geist über den Dingen schwebt. Ein Kondor? Im Traum kann ich mich in alles einfühlen, ob es nun denkbar ist oder beispiellos! Ich spüre den Wunsch der Spinnen, die ganze Welt mit einem Netz von Fäden zu überziehen.

Ich durchkreuze mit den Walen die Ozeane und finde mit meinem Gesang Weib-„chen“ und Gefährten. Ich bin ein Gänseblümchen, eine rote Emse, die mit Beißzangen ausschwärmt, nein, eine Giraffe, ein Affe, ein Hirsch und ein Wolf. Ich bin alles zusammen und mit allem zusammen strebe ich hinaus ins All um es schließlich sogar von einem „Außen“ zu sehen das noch gar nicht existiert. So tief kann ich fühlen. Dabei ist alles was ich fühle dieses Leben wollen.

Während ich fühle begreife ich! Die Schwingungen aller Geschöpfe müssen im Gleichklang bleiben! Ich muss sie hegen und pflegen, mich um sie kümmern wie sie auch heißen, wie sie auch aussehen, was sie auch verlangen. Und jedem unter ihnen muss ich seinen Teil zukommen lassen. Und zwar so, daß er sinnvoll damit umgehen kann. So lautet meine Verantwortung!

Dafür ist tiefes Verstehen nötig und eine schonungslose Ehrlichkeit vor sich selbst und vor dem Universum. Auf diese Weise hege und pflege ich sogar ausnahmsweise mich höchstpersönlich gleich mit – und zwar nur so! Andere Verhaltensweisen bringen das Sein in Zustände chaotischer Verwirrung, an den Rand der Zerstörung, in den Sog eines in der Natur stetig drohenden Untergangs. Ich weiß, ich weiß, ich weiß!

Doch ich schlafe wieder ein. Endlich – es ist schon früher Morgen des dritten Tages meines Deliriums – erwache ich in die sterbliche Hülle eines Wesens hinein, das einfach aufsteht, sich die Zähne putzt, duscht und sich an die Arbeit macht. Das tiefe Verständnis für wichtige Einzelheiten hat es verloren, oder es unterdrückt es absichtlich, damit in seinem Kopf Platz werde, der so gesehen, zu nichts weiter gut ist.

Der ganz normale Wahnsinn hat wieder begonnen!


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten"

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: axel c. englert   Datum: 22.03.2015 14:28 Uhr

Kommentar: Und DAS an Goethes Todestag!
Der Wahnsinn naht - mit großem Schlag....

Lg Axel

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: possum   Datum: 22.03.2015 22:16 Uhr

Kommentar: Lieber Alf, jetzt habe ich eine Gänsehaut so gewaltig sind deine Zeilen, sie landen in der Tiefe des Seins ... aber wie du sie hinzauberst ist ein Genuss ...herzlichen Dank dafür!
Ganz liebe Grüße!

Re: Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Autor: Alf Glocker   Datum: 23.03.2015 15:35 Uhr

Kommentar: An Goethes Todestag???

Jetzt bekomm ich selber eine Gänsehaut! :-))

Und Danke für das Wort "Genuss"!

LG Alf

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