Das Gesicht ...
Mystery-Kurzgeschichte von Kurt Blaser
Er sah plötzlich immer ein Gesicht vor sich. Er wusste nicht, woher es kam. Hatte er es an einer Bus- oder Tramhaltestelle gesehen, wo er immer die wartenden Menschen beobachtete und vor allem eben deren Gesichter? Oder war es ihm aus den früheren Leben bekannt – er war überzeugt vor Hunderten von Jahren schon einmal gelebt zu haben – oder war es einfach nur Einbildung. Rätselhaft ...
Das Gesicht war weiblich aber manchmal auch männlich, es war verschwommen und dann wieder ganz klar. Einmal weich und doch irgendwie hart, einmal hart, männlich, markant und doch auf eine Art wieder weich. Einmal bekannt und dann doch wieder unbekannt. Einmal jung, einmal älter, einmal sympathisch und dann doch mehr wieder unsympathisch.
Er stand vor den Spiegel und sah das Gesicht darin. Oder war es sein Eigenes, das er offenbar auch nicht sympathisch fand? Wollte ihm dieses Gesicht auch sein Glauben an sein eigenes Ich wegnehmen? Warum verfolgte es ihn? Was hatte er ihm getan? War es doch das aus dem früheren Leben, dem er etwas Schlimmes angetan hatte?
Fragen über Fragen fingen an ihn zu, quälen. Nachts ihm Traum sah er sich als Scharfrichter, der mit schwarzer Kutte und Maske einer Gestalt, das dieses Gesicht trug, den Kopf abschlug. Auch hier wechselte das Bild so schnell, sodass er nicht erkennen konnte, ob es weiblich oder männlich, hart oder weich, alt oder jung war. Der Platz, auf dem das Schafott stand, war voller Menschen, die jubelten, als er mit dem Schwert den Kopf abschlug und dieser, am Boden liegend, ihn mit weit aufgerissenen Augen erstaunt anschaute. Da war dieses Gesicht plötzlich doch männlich, hart, mit langen schwarzen Haaren, die man ihm zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er schoss mit einem Fluch aus dem Schlaf auf und hoffte auf das Verschwinden des Gesichtes, aber es blieb trotzdem stehen und grinste ihn weiterhin durch die Finsternis an, sodass er aufgewühlt war und der Schlaf ausblieb.
Also war es doch ein Gesicht aus dem fernen Leben? Aber warum tauchte es jetzt, als er älter geworden war auf? War es lange Jahre in seinem Unterbewusstsein, tief, tief unten verborgen, hatte sich verkrochen in die untersten Sphären der Dunkelheit, blieb lange dort und wollte nun heraus, heraus mit einem gewaltigen Schrei, wollte ihm zeigen, was er einmal war, ihm seinen Spiegel vorhalten, dass er leiden müsse, leiden und leiden ... Oder war es bloß Einbildung, Einbildung, die sich aus einer unbemerkten Begegnung ergeben hatte. Die sich in sein Gehirn eingenistet hatte und ausbreitete wie ein Geschwür. War es das ...?
Und er litt, er litt ... Das Gesicht machte in vollem Hass, sogar gegen sein Eigenes. Er zerschlug es in den Gedanken mit einem riesigen Schwert, aber es grinste nur und setzte sich selber wieder zusammen ... Und wieder war es einmal so und einmal so und nicht zu fassen. Nicht zu fassen für ihn, nicht zu fassen für sein Ich, das langsam verrückt spielte und ihn in die Gefühle einer anderen Ebene spielte, in eine Ebene, die nichts mehr mit der Normalität zu tun hatte und ihn an seinem Dasein zweifeln ließ.
Er vegetierte dahin, nicht wissend, ob er noch da war oder nicht. Das Gesicht war da, mal stärker, mal schwächer, mal ohne Konturen, mal mit, mal weiblich, mal männlich, mal jung, mal alt, aber für ihn immer hässlich und immer hässlicher und hässlicher ... sodass es nach einiger Zeit zur Fratze wurde, die ihn erdrücken wollte und es auch tat.
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Er las mit Mühe eine Zeitung. Aber er las sie nicht normal. Wie von Geisterhand geleitet, zog es ihn zu den Todesanzeigen. Bei einer Anzeige mit Bild blieb er voller Schreck stehen, voller Schreck, weil es das Gesicht war, das ihn seit einiger Zeit verfolgte. Trotzdem er dieses nie klar gesehen hatte, war er völlig sicher, so sicher wie nie, dass es nur dieses Gesicht sein konnte. „Viel zu jung musste er durch plötzlichen Herzstillstand von uns gehen“, hieß es schwarz umrandet. Er schaute das Foto immer wieder und immer wieder an, und wie mehr er schaute, wie sicherer war er, dass es das war.
Das Antlitz verfolgte ihn nun nicht mehr, aber es war trotzdem in ihm, in einer Angst, dass er mit
seinem Hass darauf, den Menschen, dem das gehörte, umgebracht hatte. Aber wieso sollte er eine solche Fähigkeit haben? Oder war es auch nur so eine Einbildung, dass das Gesicht auf dem Bild dasjenige sei, das ihn verfolgt hatte? Was war Einbildung und was Realität, wenn man hier von Realität überhaupt sprechen konnte. Diese schien in seinem Kopfe schon lange nicht mehr vorzukommen, sondern eine Unwirklichkeit, die immer Unwirklicher wurde bis zur Unkenntlichkeit ... Und diese Unkenntlichkeit, diese Unkenntlichkeit bezog sich je länger je mehr auch auf ihn selber, auf sein Ich. War dieses Ich überhaupt noch da, oder war es entrückt in eine andere Dimension, einer Dimension, der er nicht folgen konnte und eigentlich auch nicht wollte.
Die Fragen, die das Gesicht in ihm ausgelöst hatten, ließ ihn aus dem Leben weiterziehen, in eine andere Welt, in eine andere Ebene des Daseins. Es stand auf einmal doch wieder vor ihm, aber von Hässlichkeit war nichts mehr zu sehen. Das Gesicht war ihm auch nicht mehr unsympathische, sondern es war einladend und freundlich. Es hatte Konturen und wirkte anziehend, nicht mehr abstoßend, wie sonst. Es strahlte und zog ihn an, immer mehr und immer mehr. Er folgte ihm, ohne sich wehren zu können oder zu wollen, weiter und weiter und es wurde immer heller und heller und noch heller, bis diese Helligkeit ihn auflöste und das Gesicht sein Eigenes wurde, sein eigenes Ich, das langsam zerfloss, zu irgendeiner Materie wurde und irgendwo verschwand ... verschwand ... verschwand und verschwand ... Und das Gesicht war fröhlich und grinste und grinste, denn es hatte ihn geholt ...


© Kurt Blaser


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Beschreibung des Autors zu "Das Gesicht"

Fantasievolle Gedanken über ein Gesicht, dass dem Protagonisten immer wieder vorkommt und das ihn verunsichert bis zum großen Finale.

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