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Gewissermaßen habe ich mich dabei aber, nach und nach, überlebt. Heute, nach vielen turbulenten Jahren, bin ich die Erscheinung aus meinen Träumen von damals – ich habe mich vorausgesehen und sozusagen „selbst gemacht“, allerdings ohne das zu wollen, was schließlich daraus wurde. Ich bin vom nonkonformistischen Lausbub zum nicht altern wollenden Lausbub geworden, der immer noch nach den Ursachen bewusster und unbewusster Vergehen seiner selbst und anderer sucht, um eine Erklärung für die allgemeine Misere zu finden. Dabei habe ich vergessen erwachsen zu werden. Ich habe nur immer futuristisch gedacht und gearbeitet habe ich nach den Vorgaben meiner futuristischen Träume. Sie alleine haben bestimmt an welchen Orten ich mich aufhalten durfte.

Und – kurioserweise wohne ich heute am vorhergesehen Ort. Zugegeben, die „Träume“ haben ihn mir im Voraus wesentlich verklärter und wertvoller gezeigt, als ich ihn heute erleben darf. Auch haben sie mir verschwiegen, daß ich immer noch moralisch ausgepeitscht werde, wie eh und je. Doch der optische Eindruck früherer Visionen stimmt mit der heutigen „Realität“ voll überein. Ich wohne nicht weit von dem schlossähnlichen Anwesen entfernt, in dessen denkmalgeschützter Umfriedungsmauer ich vor langer, kurzer Zeit den Brief fand, der meinen Auftrag barg.

Inzwischen wurden immerhin die Spesen abgerechnet, obwohl das eigentliche Gehalt ausblieb. Öfter noch werde ich mit blühenden Frauen konfrontiert, die mich ein wenig von der Tristesse auf mich zukommender Bewahrheitungen vorausgesehener Ergebnisse ablenken. Den „richtigen“ Sex (den ohne Absichten) habe ich erhalten, als ich ihn nicht mehr „verstehen“ konnte. Aber ich verstand wohl, daß es da nichts zu verstehen gab. Das war eben auch Teil meines Auftrages. Der andere Teil bestand darin, für Morde und Selbstmorde seelisch verantwortlich zu sein, zu stehlen und zu betrügen, geistig zu vergewaltigen und zu missachten was geachtet zu werden verlangte: die Bürgerliche Moral!

Ich ermordete die, deren Hoffnung in mich größer war als mein Vermögen zu gehorchen, denn sie starben am Gram über mich. Ich stahl all jenen die Zeit, die sich bemühten, mich auf den Weg der gebräuchlichen Lösungen zu führen, ich vergewaltigte a priori Menschen, etwas von mir anzunehmen, das ihnen widerstrebt, weil sie es definitiv gar nicht haben möchten. Doch meine teuflische List ist so groß wie meine Begabung, mit deren Hilfe ich durch künstlerischen Ausdruck faszinieren kann. Ich habe Menschen dadurch in den Suizid getrieben, weil sie sich nicht aufraffen konnten etwas zu tolerieren das ihnen artfremd erschien. Und ich habe – last not least – Menschen regelrecht verarscht und verachtet, denen es nicht möglich war mir geistig zu folgen. Alles zusammen betrachte ich als Sisyphusarbeit ungeheuren Ausmaßes. Mein reines Vorhandensein verändert die Zeit, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in Australien, einen Orkan in Europa auslösen kann. Dafür werde ich unaufhörlich zur Rechenschaft gezogen.

Meine, von mir selbst, an mich verliehenen Vorschusslorbeeren sind inzwischen vertrocknet, doch die Geister der Inquisition stehen bei mir vor Tür und Tor, und zwar „Gewehr bei Fuß“ – auch jetzt, während ich dies niederschreibe fühle ich ihre Anwesenheit. Wenn sie mich nicht beaufsichtigen, verfolge ich meinen Auftrag nicht mehr…und wieder zweifle ich, ob mich das Beil des Todes in meiner grauen Vorzeit nicht doch getroffen hat. Das kann doch alles nicht wahr sein! Bin ich denn wirklich am Leben? Und wenn ja, wozu? Daß sich ein „vernünftiger Mensch“ solche Fragen erst gar nicht stellt ist mir bekannt. Aber was soll das sein, die „Vernunft“?

Erfahrbar oder nicht erfahrbar zieht etwas seine Kreise, von dem man nur sagen kann: es ist unverständlich! Es ist langsam, wie die Mühlen Gottes, deuten jedoch auf keinen, oder auf einen unvernünftigen hin. Und plötzlich – ehe man sich’s versieht – ist wieder etwas passiert! Wie von selbst haben sich die Lebensumstände geändert und ich, aber nicht nur ich, stehe vor einem Rätsel. Vor einem Rätsel das andere ganz einfach als das Wirken der Realität bezeichnen, ich aber in seiner Entschlüsselung meinen Auftrag erblicke, der aus den Träumen kam.
Und schnellfliegende Sterne durchschwärmen meinen Himmel in der Nacht, als gäben sie meinem unverbesserlichen Egoismus recht..

Die Welt hat sich währenddessen völlig undramatisch verändert. Das Haus der Geheimnisse strahlt in all seiner Düsternis die Zeichen einfachen Lebens aus. Niemand scheint dort tagsüber in Särgen zu schlafen und nachtaktiv umherzuirren, auf der Suche nach warmem Blut. Oft war ich und oft befinde ich mich innerhalb seiner Mauern um Filme anzusehen. Filme aus einer Welt, die dicht vor mir liegt. Und immer noch finde ich mich schweißgebadet in den vier Wänden meiner Behausung wieder, die ich mit einem Wesen teile, das zwar vorhergesagt wurde, doch, all meinen Mühen zum Trotz, mit mir unvereinbar geblieben ist.

Dies zu erkennen ist leider auch ein Teil meines Auftrages, denn sobald ich zu mitzufühlen beginne, habe ich mir eine Ordnung geschaffen, die mit der anerkannten Wahrheit nicht übereinstimmt. Ich selbst schlafe jetzt gewissermaßen nachtsüber in einem Sarg um, täglich neu, warmes Blut vorfinden zu wollen, das sich in mich und meine vertrackten Denkmodelle verlieben soll.

Mein eigenes Blut ist kalt geworden, angesichts der Zeichen im virtuellen und im realen Bereich. Beide Bereiche ergänzen sich fatal zu einer opulenten Gesamtverschwörung, deren Dechiffrierung auf eine öffentliche Bekanntmachung wartet. Wie zum Anbeginn „meiner“ Zeit bin ich immer öfter allein. Und wie immer begleiten mich die „Sensationen“ der Nacht. Sie reichen mir freundlich die Knochenhand!

Kann ich denn auf mein Leben verzichten – weil ich mich bald „verwandeln“ werde? Im Spiegel steht jetzt kein Zombie, kein hochoffiziell Verfolgter mehr, nur ein Fremder. Aus der Fremde in die Fremde – und das Herz eines Fremden schlägt den Takt. Das Gewohnte ist eine einzige Fremde geworden. Ich bin, lapidar beschrieben, „arm und nackt“! Ausgeliefert einer dunklen, edlen Kraft und gebettet in die helle, verschwiegene (Um-)Nacht(-ung).

Kurios an der momentanen Entwicklung ist: Ich erhalte Drohbriefe! Entweder mein Auftraggeber will mich, nach getaner Arbeit möglichst problemfrei loswerden, oder die, durch mich gefährdete Institution „Allgemein-vorgespiegelte-Wahrheit“ hat ihre Schergen ausgesandt um mich zu beseitigen. Jemand scheint mir Angebote zu machen die ich nicht ablehnen kann. „Ab jetzt keine Lorbeeren mehr annehmen! Nicht mal im Entferntesten daran denken! Oder wir inszenieren Komplotte!“ las ich kürzlich, völlig verdutzt… imaginär, versteht sich!

Wie sollte ich plötzlich darauf verzichten können?“ Ich bekomme doch nichts anderes. Auch die Ankündigung „Nur noch spärlich dosierten Sex,
oder wir müssen Maßnahmen einleiten, die es dich bereuen lassen“ verstehe ich nicht. Na gut, ich hielt mich eine Zeit lang nicht daran, versuchte mich, so gut es ging, zu trösten – wie anders sollte ich auch?! – Und jetzt habe ich die Bescherung: meine Partnerin geht gebündelt fremd, meine Freundin besucht mich nicht mehr, weil sie massiv daran gehindert wird und bei mir schleichen sich, durch die Frustrationen sogar erste Erektionsstörungen ein. Das ist kein Spaß!

Dann kam noch „Betreibe ruhig weiter deine Recherchen, forciere deine Aufzeichnungen – inzwischen schreibst du ja längst nicht mehr dein `Imaginäres Tagebuch`. Du illustrierst deine Aufzeichnungen ja sogar seit langem sehr aufwändig, mit Gemälden aller Art. Aber bekommen wirst du dafür keinen Cent mehr. Wir treiben dich auf den Abgrund zu. In einer Konzertierten Aktion werden wir dich erlegen!“

Leider sind das keine Nachrichten, die auf rosa Briefpapier stehen und im Kerzenschein, mit gebührender Romantik gelesen werden können. Es sind gehörte Stimmen! Das sind sprechende Schatten am Tag und knackende Geräusche bei Nacht, deren „Musik“ mich in die Zwischenwelt realer und irrealer Wahrnehmungen führt. Meine Sinne sind „surrealisiert“. Ich wohne in einem Menschen, der mich nicht ertragen kann, den ich nicht ertragen kann, den ich nicht verkörpern möchte. Und trotzdem leide ich immer noch unter diesem „Auftrag“, den wir beide einmal zu haben glaubten, mein Mensch und ich. Wir beginnen uns zu verbergen, wir uns vor allem, er sich vor mir, ich mich vor ihm.

Aber der Auftrag hängt, in geheimer Leuchtschrift, wie ein Damoklesschwert, in jedem Zimmer, in geträumten wie in ungeträumten Räumen – und entsinne mich keiner Schuld! Ein Lausbub bin ich nach wie vor…


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Kommissar Lausbub auf Spurensuche"

Re: Kommissar Lausbub auf Spurensuche

Autor: noé   Datum: 11.10.2014 9:02 Uhr

Kommentar: Aber eher von der traurigen Gestalt.
Windmühlen scheint es zuhauf nicht nur in Spanien zu geben.
BiSi

Re: Kommissar Lausbub auf Spurensuche

Autor: Alf Glocker   Datum: 11.10.2014 14:25 Uhr

Kommentar: Von der traurigen? Nein, dann schon eher von der lustigen Gestalt!
ich bin einer der (sich) auszog das Fürchten zu lernen und das habe ich nur geschafft weil ich so oft und so viel lachen konnte - auch in extrem schrecklichen Situationen. Derer waren es viele - und viele dummen Spiele musste ich auch schon ertragen, doch eher lustig waren meine "Klagen". Nur die Satire und der Witz, sowie auch mancher Geistesblitz hat mir die Welt dann schöngemacht. Das kommt davon wenn man auch lacht.

CraBro

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