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Als ich später zum Spiegel lief, war er beschlagen und jemand hatte offensichtlich mit dem Finger hingeschrieben „Denk nicht darüber nach, erfülle deinen Auftrag“. Ich weiß nicht mehr ob ich weinte. Ich weiß nur noch, daß ich zu schreiben anfing – zuerst hauptsächlich Gedichte. Aber alles was ich schrieb sah aus wie ein Bericht aus skurrilen Denkvorgängen. Um der Familien-Inquisition zu entgehen, verfasste ich meine Aufzeichnungen (außer den Gedichten) als „Imaginäres Tagebuch“. Und genau zwei Wochen später – wie ich es mir vorgenommen hatte – stand ich vor der Umfriedung des schlossähnlichen Anwesens und suchte in der besagten Mauernische nach einem weiteren Brief.

Doch die Nische war leer, verschneit und feucht. Dafür brannte, wie ich bemerkte, eine Kerze in der Eingangshalle. Hinter dem verglasten Segmentbogen der großen, zweiflügeligen Türe sah jedenfalls alles ganz danach aus. Das Tor in der Mauer stand weit offen!

Schüchtern näherte ich mich dem Gebäude, wobei ich ca. 30 Meter durch den Garten zurücklegen musste. Die alte Pinie beschirmte einen großen Teil der Grundstücks vor dem Eingangsportal, und die vielen dunklen Zypressen sahen wie riesige Skulpturen aus. Ich fror, nicht nur weil es Januar war, sondern weil mir die Sache nicht ganz geheuer erschien. Über dem Dach, mit seinen Mansarden und Türmchen, dreht ein gleißender Stern schnelle Runden.

Bevor ich noch richtig zum Denken kam, öffnete sich das Portal und „mein alter Schulfreund“ dessen Namen ich nicht verstanden hatte, trat heraus und lud mich ein. Ich folgte ihm schüchtern und möglichst vorsichtig. Wir gingen an der einzigen Kerze, die auf einem gewaltigen eisernen Ständer thronte, vorbei, durchquerten eine Halle, die von einem seltsamen Licht erfüllt war, das von überall her zu kommen schien, ohne einen Ursprung zu haben und bogen in einen langen Korridor, der von vielen Türen unterbrochen wurde ein. Alles glänzte in diesem seltsamen Schimmer. „Das ist „Nielicht“ klärte mich der Schlossherr auf, als könne er meine Gedanken lesen. Du wirst es, außer in diesem Gebäude, erst sehr viel später wieder finden“.

Ich fragte mich selbstverständlich sofort, ob dies nun auch wieder ein Traum war, ob mich das Beil gar nicht verfehlt, sondern tatsächlich getroffen hatte: ob ich mich entweder im Koma, auf irgendeiner Intensivstation, oder im Jenseits befand und ich alles nur wie einen Wahr-Traum erlebte.

Eine der Türen stand offen. Aus dem Zimmer drang unzweifelhaft Gekicher aus weiblichen Kehlen. Ich riskierte einen Blick und staunte nicht schlecht. Der ganze Raum, ein rosaroter Salon, war voller nackter Frauen! Eine von ihnen kam auf mich zu. Ihre Figur war mangelhaft, aber sie hatte ein gewinnendes Lächeln und einen sinnlichen Mund. Sie zog mich über die Türschwelle, stellte für uns einen Stuhl zurecht, öffnete mir den Hosenschlitz und steckte mir die Zunge in den Mund. Mich durchlief ein bis dahin noch nie gekannter Schauer. Ich bekam sofort einen Steifen! Die Frauensperson stellte sich auf die Zehenspitzen, drückte meinen Penis ein wenig herunter und streckte mir dabei ihre doch sehr ansprechenden Brüste ins Gesicht.

Hypnotisch schwebten sie für Sekunden vor meinen Augen. Dann versuchte sie sich auf mich zu setzen. In diesem Augenblick geschah etwas Unglaubliches. Ich spürte zwar wie „ich“ in sie eindrang, doch im selben Moment verwandelte sich die Frau in eine technische Zeichnung, deren Linien nach hinten kippten und schließlich in der Luft verschwanden. Ich stand auf und schaute mich verzweifelt um. Das Zimmer war leer! Ich versuchte herauszufinden wohin der ganze Zauber entschwunden war, aber der Schlossherr zupfte mich am Ärmel „dafür haben wir jetzt keine Zeit, wir müssen uns etwas ansehen! Eine Vorschau auf eine, von dir aus gedacht, schon geschehene Zukunft“. „Aha!“ Und: „wir müssen?“

In der Bibliothek, einem zweistöckigen Saal mit Balustrade im Obergeschoss befand sich ein uralter Projektor, der allerdings – hochmodern – auf ein Handzeichen meines „ Schulfreundes“ ansprang und einen flammenden Lichtstrahl auf eine mächtige Leinwand warf. Im gleichen Augenblick erlosch das Nielicht. Ich stand im Dunkeln und ich hatte sofort das Gefühl in Wahrheit alleine zu sein. In der „Vorschau auf die Zukunft“ wurde offensichtlich jemand zu Grabe getragen. Ein Mann mit großer spitzer Nase, der meinem Vater sehr ähnlich sah. Der Mann lag allerdings nicht in einem Sarg sondern auf demselben. Vier rabenschwarze Rösser zogen einen hölzernen Wagen, hinter dem eine schaurige Trauergemeinde im prallen Sonnenlicht herging. Die erste Person der Trauernden hinter dem Karren mit dem Sarg war…ich selbst!
Ich erwachte mit einem Aufschrei und ja, ich bemerkte daß ich zuhause in meinem Bett lag. Wie war ich hierhergekommen?

Seit ich diesen Auftrag angenommen hatte, bemerkte ich Dinge, die ich vorher nicht wahrnehmen konnte oder wollte. Ich sah Lichterscheinungen aus Teilchenmeeren hervorbrechen und Schatten tanzen, deren Verursacher nur aus dem Quantenbereich stammen konnten. Überall huschten „Dinge“ herum. Meist registrierte ich solche Erscheinungen aus den Augenwinkeln heraus. Sie blieben noch kurz wenn ich sie voll ansah, verschwanden dann aber aus der Welt – nicht aus dem Sinn. Viele Ereignisse kündigten sich mir im Voraus an. Manche wirkten ganz banal und erwiesen sich später jedoch als sehr erschreckend, andere wiederum teilten sich fulminant und faszinierend mit, zogen aber keine weiteren Schrecken nach sich. Zumindest keine, die plötzlich eintraten. Meine Persönlichkeit veränderte sich!

In letzter Zeit aß ich – denn die Nahrung wurde mir immer noch nicht verweigert – sehr „bewusst“, denn ich glaubte den begründeten Verdacht zu haben, daß mir irgendwer Gift – Halluzinogene – unter die Speisen mischt. Doch das war gar nicht nötig. Mein Auftrag allein war für mich wie eine Droge! Ich meditierte jeden Tag stundenlang um einer unglaubwürdigen Wirklichkeit zu entfliehen, denn eine Insel auf der ich in Sicherheit leben konnte gab es wohl auf der ganzen Erde nicht für mich.

Überall lebten Menschen die mir haushoch überlegen waren, an Macht und Einfluss, an Bildung und Anerkennung. Deshalb wechselte ich die Ebenen. Dort wo ich hinging warteten undurchschaubare, aber spannende Erlebnisse auf mich. Mit der Zeit verschwammen sie mit der Realität zu einem Reigen aus fantasievollen Lügen und handfesten Hinweisen auf einen globalen Irrtum…

Und „plötzlich“ hatten sich auch die Jahre, bzw. deren Inhalt ineinander verheddert. Obwohl die Inquisitoren meiner Jugendzeit längst verstorben waren, hatte sich an meinem Lebenslauf nicht viel geändert. Ich wurde anscheinend weiter beobachtet und irgendwer zog rote Fäden der Rache im Hintergrund. War ich meinem Auftraggeber/meinen Auftraggebern lästig geworden? Oder war das schon immer meine Bestimmung gewesen: im geeigneten Augenblick eine verpasst zu bekommen, daß mir Hören und Sehen vergeht – um zu etwas lernen?

Sensationelle Dinge hatte ich erlebt. Menschen, die mir, wie ich glaubte, Nutzen brachten, begingen Suizid, ebenso welche, die mich de facto unterdrückten, andere versuchten sich umzubringen, wurden jedoch in letzter Minute aus den Fängen des Todes befreit, da sie mir tatsächlich noch nützen sollten. Andere verstarben aus scheinbar ganz natürlichen Gründen, meist noch jung. Ein Gefühl sagte mir dabei, man habe sie mir absichtlich aus dem Weg geschafft. Ich hatte Zimmer voller nackter Frauen gesehen und erlebt, wie sie geschwängert werden wollten. Im entscheidenden Moment verwandelte ich mich jedoch jedes Mal in eine Art technische Zeichnung, wobei mir dieser Zustand erlaubte, mich ihren Fängen zu entziehen. Ich scheiterte und scheiterte, schuf jedoch nebenbei ein sehr umfangreiches Lebenswerk, das keinen wirklich interessiert. „Geholfen“ hat mir dabei eine der Frauen aus den Zimmern, indem sie mich grundsätzlich, in guten und in schlechten Tagen, inbrünstig anzweifelte. Dies förderte mein Durchhaltevermögen!


© Alf Glocker


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