Ein schöner Tag ist heute, am 1. August. Ca. 100 m vor mir liegt das nächste Waldstück. 3 Stunden bin ich schon unterwegs und so langsam bekomme ich Hunger. Nach weiteren 8 km wird es eine bewirtschaftete Hütte geben, hat man mir gesagt. Und so steht es auch in der Karte.

Es ist heiß! Ein kühles Getränk habe ich zumindest dabei. Das ist gut. Um mich, auf den Feldern und Wiesen ist ein unablässiges Summen. Manchmal schwankt ein Schmetterling vorbei. Die Grillen zirpen und die Vögel zwitschern. Einen Hasen habe ich auch schon gesehen und bisweilen blinkt etwas in meinem Gedächtnis auf. Es ist etwas Weibliches: der mir gefühlsmäßig am nächsten liegende Anziehungspunkt – meine Freundin „Schatzi“.

Die Luft flirrt in der Sonne, die hoch am Himmel steht. Den Zenit hat sie zwar überschritten, aber ihre Allgegenwart reicht aus, um den Weg vor mir, wie eine Fatamorgana erscheinen zu lassen.

In meinem unteren Gesichtsfeld sehe ich meine Füße, wie sie sich abwechseln, vorstoßen in das Neuland, welches ich zu betreten gedenke. Auf meinem Rücken hängt – langsam ein bisschen schwer geworden – der Rucksack. Mir ist, als trüge ich alle meine Erinnerungen mit mir herum.

Über mir der spitze Schrei eines Falken. Meine Seele steigt zu ihm auf und mein Herz schlägt für ihn, denn er ist auf Jagd. Auch ich bin auf der Jagd – auf der Jagd nach den Augenblicken des Lebens.

Dort vorne im Sonnenlicht liegen sie offensichtlich alle versammelt. Ich kann sie deutlich flimmern sehen. Wie ein goldener Baldachin fasst unser Fixstern das Geflimmer über dem Feldweg ein, der sich gerade in einer Spiegelung aufzulösen scheint.

Wie Abermillionen pulsierende Seifenblasen, oder wie supernervöse Mücken aus Glas, die sich fiebrig umschwärmen sieht diese nahe Zukunft aus. Ich fühle mich der Welt entrückt, aus meinem Verstand ver-rückt, ein wenig verzückt von dem was ich nicht weiß, z.B. wie es hinter dem Flimmervorhang aussieht. Dann gehe ich hinein und eine geheimnisvolle Stimme befiehlt mir die Augen zu schließen, damit ich diesen Glücksmoment voll in mich aufnehmen kann, diese Ahnung davon, ein Tor aus der Realität zu durchschreiten.

Solche Tore durchschreite ich gern, denn sie spenden den Trost morbider Unendlichkeit, die uns in die Vernunft der Betrachtung versenkt und aus den Plattitüden des Pragmatismus erhebt. Ich fühle also ein wenig, worum sich das handeln könnte was mich gleich erfüllt. Um ein Phänomen wie es Läufer erleben, wenn sie sehr lange im gleichen Takt „dahingefahren“ sind, auf ihrer Marathonstrecke? Sie fühlen sich wie im Rausch – Schwerelos angehoben, in ein problemloses Sein.

Als ich die, in ein einziges, transparentes Gleißen aufgelöste Stelle, unter dem golddurchfluteten Baldachin erreiche, atme ich erst einmal tief durch, bevor ich meine geistigen Sensoren mobilisiere. Und sogleich tun sich andere Dimensionen auf! Vor meinen geschlossenen Augen sehe ich, wie alles in Bewegung ist. Ein leiser, undefinierbarer Grundton begleitet die Szene. Tiefe Eindrücke werden messbar durch meine Seele.

Versuchsweise schlage ich kurz die Augen auf. Doch da draußen ist nichts! Ich bin zu einem Impuls in der Unendlichkeit geworden. Alles was ist, ist im Augenblick nicht mehr richtig wahrnehmbar. Keine Illusion trübt mein Begriffsvermögen. Die Umgebung besteht nur aus den Kurven, die kleinste Teilchen vor den Hintergrund der Schwarzen Materie schreiben. Ich bin vom Rauschen der Zeit umfangen, deren Wirken hier, im Bereich der kleinsten Teilchen nachvollziehbar wird.

Energieentladungen umwabern mein Ich, das ungebunden, von dem was es nach außen hin darstellt, frei in der aufgelösten Ordnung vor der „Realität“ schwebt. Und auch die Probe auf’s Exempel, durch mehrmaliges Augenzwinkern, bestätigt mir: da draußen ist kein fester Zustand mehr vorhanden! Momentan ist mir also ein Wechsel zum anderen Standpunkt „Direkterleben“ gar nicht möglich. Die Felder, Wälder, sowie der Weg leuchten um mich nur wie ein Film aus der Epoche als die Bilder laufen lernten.

Ich er-messe noch eine schöne, befreiende Weile die körperlos vorhandene Illusion. Dann wird es mir klar: ein immerwährender Prozess der Umformung findet hier statt. Den Schwingungen nachspürend, gerate ich in die Strudel der wild durcheinander rasenden Fragmente einer Gesamtheit, die mir etwas von Bäumen erzählen und dort etwas von Fleisch. Im Einzelnen scheint alles bestimmte Identitäten zu verfolgen – Identitäten, die in den jeweiligen Schwingungszentren „hausen“.

Das geht mir jedoch bald zu schnell! Ich verlangsame mich deshalb lieber wieder, über die Ebene der Atome und Moleküle, in den eigenen Leib zurück. Dabei nimmt die Heftigkeit der Schwingungen fühlbar stetig ab. Als ich mich wieder auf mein Schneckentempo reduziert habe, fällt mir noch etwas anderes auf:
aus allem was ich zu erleben geglaubt habe, oder wirklich erlebt habe, während ich glaubte die Realität zu erleben, ist ein seltsamer Antrieb bis zu meinem Innersten durchgedrungen.

Das hat mich ein wenig erschreckt, weil der kuriose Impuls sowohl positiv wie auch negativ geladen zu sein scheint. Und er kam aus einem Zustand atemberaubender Rotation, die ich selbst in meinem Normalzustand immer noch erfassen kann. Die von ihm ausgeübte Anziehungskraft lässt sich weit mehr als nur ahnen. Repräsentiert sie hier, mitten in der brodelnden Existenz die Universalität unseres Seins?

Mehr als sonstwo, im Eben-Gerade fühle ich die Nähe der Moleküle von „Schatzi“, obwohl sie viele Kilometer entfernt ist. Doch mein Fleisch liegt mir so fern wie ihres und deshalb kümmere ich mich nicht um diese Form der Gravitation. Aber ich muss zugeben, überall dort wo etwas vorhanden ist, ob in Molekülen, ob in undefinierbar schnellen Teilchen, die man entweder insgesamt als Landschaft sehen, oder als Impulse messen kann, wird dieses Etwas bewegt von einem fremden Geist.

Er wirkt sich auf uns aus, auf die Zeit und auf den sich – tödlicher als wir es begreifen wollen – fast lichtschnell verwandelnden Raum. Seine Absicht ist unsere Absicht, sein Wille ist unser Bestreben, allein, sein oberflächliches Empfinden ist nicht das unsere. Seines ist sich, mit sich verschwörend, vollziehend und keinen Widerspruch duldend! Das unsere ist das des Betrachtens, das durch flimmernde Tore unter goldglänzenden Baldachinen Gehen, um sich selbst, bzw. das was man dafür hält zu (er-)finden. So ist es immerhin im besten Fall…

Es kann aber auch ganz praktisch und unspektakulär sein, unser „Betrachten“. Es kann sich ausschließlich in der fleischlich-psychischen Korrespondenz von Schatzi zu Schatzi erschöpfen, in der einfachen, oder weniger einfachen Ausübungen von Tätigkeiten (Forschungsreihen inbegriffen). Es kann jedoch auch in einer Art Selbstaufgabe gipfeln, die genau das Gegenteil von Selbstaufgabe ist und die Seele an die Ursprünge des Entstehens führt: dicht an dieses Zeitrauschen, das uns nicht umfängt, sondern uns – Energieprogramm für Energieprogramm – ausmacht. Darin gilt es sich zu bewähren, respektive nicht zu bewähren, in diesem Theaterstück „Dasein“ von Schicksalsgnaden.

Ich muss lachen, als mein Erkennen einen bestimmten Reifegrad überschritten hat und dadurch stürze ich in mein Sein, aus mir, jenem kryptischen Etwas heraus, in den Glauben an das Licht als sichtbare Welle zurück.

Doch ich fühle mich unsagbar schwach. Mein Puls rast fast so schnell wie die nur noch messbaren, normalerweise nicht sichtbaren Teilchen – zumindest gefühlt – und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als nicht hier, in der freien Natur zusammenzubrechen, sondern in meinem Bett. Sofort verliere ich die Besinnung!

Als ich wieder erwache, liege ich tatsächlich in meinem Bett. Müde räkle ich mich wach und versuche mich damit abzufinden, daß alles höchstwahrscheinlich nur eine schräge Vision war. Ein Blick auf die Uhr verrät mir: es ist früher Morgen, der 1. August!

Ich frage mich! Bin ich nun endgültig wahnsinnig geworden, oder habe ich mir – leider nicht der ganzen Welt – bewiesen, daß der Begriff „Wirklichkeit“ vielleicht nur die Definition einer manipulierbaren Illusion ist, zumindest, wenn es einem gelingt, bis in ihre tiefsten Gründe vorzudringen?

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, mein geistiges Schleudertrauma, verursacht durch in mir agierende, fast lichtschnelle Traumteilchen zu überwinden. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich habe eine längere Wanderung geplant.


© Alf Glocker


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Kommentare zu "Wanderwege im Diesseits"

Re: Wanderwege im Diesseits

Autor: noé   Datum: 27.09.2014 8:36 Uhr

Kommentar: Das ist der seit langem bezauberndste Text aus Deiner Feder, lieber Bruder. Gefesselt von dem "Geschehen" hatte ich GERNE die Illusion, Dich zu der goldenen Sphäre begleitet zu haben ...
Ich habe es gut, ich brauche es ja nur noch einmal zu lesen, denn diesem Text wohnt wirklich ein Zauber inne. Wundervoll!
BiSi noé

Re: Wanderwege im Diesseits

Autor: axel c. englert   Datum: 27.09.2014 9:58 Uhr

Kommentar: Lasse mich gerne mittragen!

LG Axel

Re: Wanderwege im Diesseits

Autor: Alf Glocker   Datum: 27.09.2014 10:16 Uhr

Kommentar: Dank und abermals Dank!

LG
LG

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