Kapitel 4 Zac

Eden betrat den Dachboden mit den Sklavenquartieren. Sie beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen. Verriegelt werden konnte sie nur von außen. Aber das war egal. Hier oben sollte um diese Zeit niemand sein. Es war der letzte Ort, an dem jemand suchen würde, wenn auffiel, das sie verschwunden war. Rasch nahm sie eine der erloschenen Glaslaternen von der Decke und zerschmetterte die Lampe auf dem Boden. Die Laterne zersprang sofort und ohne den geringsten wiederstand. Eden lauschte, ob jemand auf das Geräusch aufmerksam werden würde. Nichts rührte sich. Um diese Tageszeit herrschte allgemein hektisches Treiben im Herrenhaus. Niemanden würde es verwundern, wenn irgendwo etwas zu Bruch ging. Zu Bruch gehen. Vermutlich würde man sie auch als genau das Verbuchen. Ein Gegenstand, der schlicht kaputt gegangen war. Sie lachte halb irre und musste sich selbst eine Hand vor den Mund halten um aufzuhören. Vielleicht wurde sie genau das. Wahnsinnig. Sie spürte wie der Irrsinn mit kalten Fingern nach ihr griff. Eden ließ sich an der Tür zu Boden sinken.
Geister, gleich wäre das alles wenigstens vorbei. Die Gejarn las eine große Scherbe aus dem Stroh am Boden auf. Das zerbrochene Glas wäre scharfkantig genug. Sie zwang sich dazu, noch einmal aufzustehen und sich in eine der dunklen Ecken des Dachbodens zu setzen. Selbst wenn jemand hier hoch käme, würde er sie nicht bemerken. Zumindest zu spät um sie zu stoppen.
Eden hielt die Scherbe fest umklammert. Dass sich das Glas dabei in ihre Finger schnitt kümmerte sie kaum. Alles war jetzt bereits weit weg. Sie hatte den Entschluss getroffen. Es war besser, als alle anderen Möglichkeiten. Wie konnte sie es anstellen um wirklich sicher zu sein… Der scharfkantige Splitter verharrte einen Moment über ihrem Handgelenk. Wie lange würde es dauern? Minuten `? Stunden ? Nicht Stunden, da war sie sich sicher. Eden hielt noch einmal kurz inne und setzte die Scherbe an.
Schritte auf der Treppe hätten sie fast dazu veranlasst, den Splitter fallen zu lassen. Stattdessen rutschte sie mit der Scherbe ab. Der Schnitt ging quer über ihr Handgelenk, war aber kaum so tief, wie sie beabsichtigt hatte. Die Wunde blutete nicht einmal besonders stark.
Nein, verflucht. Nicht ausgerechnet jetzt. Eden zog sich ein Stück weiter in die Schatten zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Im selben Moment wurde auch schon die Tür aufgezogen. Wer konnte das sein? Schlimmstenfalls einer der Aufseher. Bestenfalls hatte sich jemand verlaufen. Das war durchaus möglich. Auch wenn sie jetzt gut anderthalb Wochen hier war, sie kannte längst nicht die Hälfte aller Gänge. Das Herrenhaus mit all seinen Nebengebäuden war weitläufig, wie eine kleine Stadt.
Eden staunte jedoch nicht schlecht, als sie erkannte, wer sich nach hier Oben verirrt hatte. Zachary de Immerson lugte zur Tür herein und schloss sie hinter sich. Der Junge wirkte irgendwie abwesend, wie er sich mit seinen seltsam leuchtenden Augen im Halbdunkel umsah. Hoffentlich verschwand der Kleine gleich wieder, was immer er hier auch wollte. Eden versuchte leise zu atmen und bloß durch nichts, auf sich aufmerksam zu machen. Aber… was machte er überhaupt hier?
Es kümmerte sie nicht. Sie hatte keine Zeit zu lange zu warten.
Sie könnte ihn einfach töten. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, bevor sie irgendetwas dagegen unternehmen konnte. Es war ohnehin egal, wenn sie starb. Eden zitterte und nicht nur, weil es auf dem Dachboden kalt war. War sie wirklich schon so weit? So dermaßen… zerstört, dass sie ein Kind umbringen konnte? Egal zu welcher Familie der Kleine gehörte, ihn traf doch keine Schuld.
Die Scherbe fiel ihr aus der Hand und zerplatzte am Boden. Zachary wirbelte sofort in die Richtung des Geräuschs herum und starrte einen Moment ins Halbdunkel. Natürlich er konnte in der Finsternis vielleicht halb so gut sehen, wie sie.
,,Hallo ?“
Es hatte keinen Sinn, sich noch zu verstecken, dachte sie. Eden rutschte ein Stück ins Licht.
,, Was machst du hier oben ?“ Der Klang ihrer eigenen Stimme überraschte sie. Kratzig, leise, ohne wirkliche Kraft. Es war vielleicht der längste Satz, den sie in einem halben Monat gesagt hatte. ,, Du bist wieder ausgerissen, oder ?“
Der Junge lies sich auf dem Boden nieder, ein paar Schritte von ihr entfernt. ,, Und du nicht ?“
Helles Köpfchen, dachte sie. ,, Mit dem unterschied, das ich dafür zahlen werde.“ Wenn sie es nicht zu Ende brachte. Was nach wie vor nicht ausgeschlossen war, sobald Zachary endlich verschwand.
,,Warum ?“
Eden antwortete nicht. Er verstand es wohl schlicht nicht besser. Irgendwann würde er es vermutlich, aber es war nicht ihre Aufgabe ihm zu erklären, was es hieß… nicht frei zu sein. Eden korrigierte sich. Er würde es vermutlich sogar sehr bald erfahren, wenn der Orden ihn holte…
,, Du weißt, das deine Elter dich wegschicken wollen, wie ?“
,,Natürlich weiß ich das, ich bin ja nicht blöd.“ Zachary sprach mit einem Trotz in seiner Stimme, der Eden zum schmunzeln brachte. Geister, wann hatte sie das letzte Mal gelächelt?
,, Ich war bisher noch nie außerhalb von Silbestedt.“ , erklärte Zachary unsicher. ,, Ist es überall… wie hier ?“
Er würde wohl auch noch verstehen, warum es seltsam war, ausgerechnet sie das zu Fragen. Aber.. sie würde so oder so sterben, also warum nicht?
,, Nein. Zum Glück nicht… Zachary, richtig ?“
,, Zac für Freunde.“ Freunde…Dafür dass sie kurz davor gewesen war einem kleinen Kind die Kehle durchzuschneiden war das ein seltsames Wort.
,,Die Herzlande sind ganz anders.“ , erklärte sie. Vor allem.. Wärmer. Selbst im Winter gibt es kaum Schnee. Und je weiter man zu den Küsten kommt, desto weniger wird es. Und dann ist da noch das Meer… Ich bin am Wasser aufgewachsen. Glaube ich.“ Ihre Erinnerungen waren bestenfalls verschwommen. Es tat weh zurück zu denken. Und es war noch gefährlicher, als sich darüber klar zu werden, was ihre vermeintliche Willensfreiheit bedeutete. Von einem Tag auf den anderen zu Leben, das hatte sie bisher davon abgehalten, Verrückt zu werden. Und jetzt wo sie die Tore zu ihren Erinnerungen einmal aufgestoßen hatte, wo sie sich einmal erlaubte wieder… nachzudenken, da zerbröckelte alles unter ihren Fingern.
Sie wollte jetzt Leben. Nichts mehr als das. Und gleichzeitig war ihre einzige Wahl der Tod. Oder alles zu verlieren. Eden drehte sich weg, als sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Verflucht. Das fehlte jetzt wirklich noch…
,, Was ist ?“
Sie wischte sich das Wasser aus den Augen. ,,Gar nichts.“
Eden sah zu der zerbrochenen Scherbe. Es gab eine einfache Entscheidung zu treffen. Tod… oder ein ungewisses Leben. Ein vermutlich genau so schnell tödliches und kurzes Leben. Eines ohne Chance. Sie streckte die Hand aus… und fegte die verbliebenen Splitter bei Seite.
,,Nichts.“ , erklärte Eden. ,, Gar nichts.“
Zachary war anzusehen, das er ihr nicht glaubte. Helles Köpfchen, dachte sie nur wieder. Statt jedoch etwas zu sagen, förderte er einen dunkelroten Kristall zu Tage. Der Stein war vielleicht so groß wie ihr Daumen.
,, Was ist das ?“
,, Hab ich gemacht. Ein kleiner Zauber. Walter meint immer, ich soll sowas nicht aber… Soll ich dir zeigen wie er funktioniert?“
Eden nickte lediglich. Dieses Kind hatte also wirklich Magie erschaffen? Zachary hielt das Juwel in einen Lichtstrahl, der seinen Weg durch einen Riss in der Dachwand fand. Der Stein nahm sofort einen helleren Farbton an und als Zachary ihn schließlich aus dem Licht nahm und an schnippte, brachen plötzlich Flammen aus dem Kristall.
Eden machte einen Satz zurück, als der Stein anfing zu brennen. Zachary schnippte lediglich erneut gegen das Juwel und de Flammen verschwanden. Die Farbe war wieder etwas dunkler geworden und er hielt den Zauber erneut ins Sonnenlicht.
,, So etwas kannst du ?“
Zachary nickte, bevor er ihr das Juwel hinhielt. ,, Hier. Ich schenk es dir. Wenn du willst… Ich kann mir jederzeit ein neues machen.“
Eden zögerte einen Moment. Das war genau einer der Gegenstände, die sie in wirkliche Schwierigkeiten bringen konnten, fand man sie bei ihr. Ein Feuerzauber. Auf der anderen Seite… Sie hatte schon kaum mehr etwas zu verlieren.
,,Danke.“ Der Stein war überraschend kalt, als sie ihn in die Hand nahm. Mit einer Bewegung ließ sie das Juwel in der Tasche verschwinden. Die Entscheidung stand. Sie würde das Risiko eingehen. Leben.
Eden stand auf. Sie musste sich beeilen. Den Brief zurückholen und überbringen, bevor jemand bemerkte, das sie weg war. Zachary folgte ihr, als die Gejarn aufstand und die Treppe hinunterrannte. Geister, jetzt arbeitete die Zeit erst wirklich gegen sie. Wie lange war sie weg gewesen?
Sie stolperte fast auf den letzten paar Stufen, als sie die Flure des Herrenhauses erreichte und Richtung Küche rannte. Dorthin, wo sie die Schriftrolle zurückgelassen hatte. Zachary blieb rasch hinter ihr zurück.
Eden hastete an der Küche vorbei zur Fensterbank. Draußen begann es grade erst, dunkel zu werden. Gut. Sie war nicht zu lange weg gewesen. Noch konnte sie das ganze irgendwie rechtfertigen. Auch wenn das Lord Andre sicher nicht interessierte. Silberstedt schimmerte im letzten Sonnenlicht rötlich. Rasch tastete sie die Fensterbank ab. Nichts… Das konnte doch nicht sein. Eden suchte erneut, schob einen Blumentopf mit vertrockneten pflanzen beiseite… Nach wie vor, der Brief blieb verschwunden.
Ruhig, sagte sie sich. Geh nur zu Varia. Lass sie wissen, dass es eine Nachricht gibt. Und dann… sag das er dir gestohlen wurde, oder… Irgendwas, das sie dir abkaufen würden.
Ihre Hände zitterten wieder. Verflucht. Irgendjemand hatte das Dokument mitgenommen. Die Gejarn wendete sich vom Fenster ab. Gut, das half jetzt alles nichts mehr. Sie musste zu Lady Varia und wohl oder übel zugeben, das der Brief weg war. Und das diese das gleich ausnutzen würde um Andre wütend zu machen, war ihr schon fast klar. Eden lief los. Wenn sie die Tageszeit richtig einschätzte, wäre Varia jetzt irgendwo im Wohnflügel des Herrenhauses. Vielleicht in ihrem Kleiderzimmer, oder
Sie rannte weiter und achtete kaum darauf, dass sie mehreren Dienern aus dem Weg springen musste. Auch die wütenden Rufe waren ihr jetzt egal. Sie wollte es nur hinter sich bringen. Und dann müsste sie sehen, wie es weiterging. Irgendwie würde sie schon einen Weg finden. Jetzt war sie entschlossen vor allem zu Überleben.
Eden lief durch die große Eingangshalle und den Speisesaals ohne jemanden zu begegnen… Dann jedoch stieß sie die Türen zum Wohnflügel auf. Und wusste im gleichen Augenblick, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Varia de Immerson war hier. Allerdings nicht alleine. Andre stand, von zwei Wachen umgeben und auf einen Gehstock gestützt da. Die Finstere Mine des Lords sagte ihr alles, was sie wissen musste. Und der Brief in seiner Hand…
Nein… Jetzt wusste sie wenigstens, wo die Schriftrolle hingekommen war. Hatte er etwa auch gesehen, das sie in die Quartiere verschwunden war?
,,Das wars Varia.“ , erklärte er, überraschend ruhig für das, was Eden bisher erlebt hatte.,, Ich lass mir das nicht mehr bieten.“
,, Was interessiert mich, was du dir bieten…“
,, Schweig.“ Andres Stimme war tödlich leise. ,, Schweig einfach. Ich habe mir das jetzt lange genug mit angesehen. Du hattest deinen Spaß, aber hier hört es auf. Ich lasse mir von einer verdammten Sklavin nicht auf der Nase herumtanzen.“
,, Ach und was willst du machen hm ?“ , rief Varia. ,, Sie in die Minen bringen, da habe ich auch noch ein Wort…“
Andre brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
,,Nein…“ , erklärte er lediglich, während er auf Eden zutrat. ,, Ich fürchte ich habe eine bessere Idee.“
Die Wachen des Lords packten sie an den Schultern. ,, Männer, ihr wisst wohin. Ich nehme Wette an, wie lange sie überlebt…“
Eden versuchte sich loszureißen. Egal, was dieser Irre Mensch vorhatte, sie würde das sicher nicht mitmachen. Sie warf sich nach vorne und tatsächlich lockerte sich der Griff der Wächter einen Moment. Eine Sekunde und sie wäre frei… Ein brennender Schmerz in ihrer Seite brachte jeden Wiederstand zum erliegen. Andre hatte den Stock genommen und prügelte damit ohne Rücksicht auf sie ein. Dieses mal konnte sie sich nicht einmal zusammenkauern sondern musste die Hiebe tatenlos über sich ergehen lassen. Eden war nur noch halb bei Bewusstsein, als die Wachen sie schließlich durch die Flure hinaus schleiften. Durch weitere Gänge und Treppen… In diesem Teil des Hauses war sie noch nicht gewesen. Zumindest soweit sie das sagen konnte.
Und sie mussten mittlerweile tiefer unter der Erde sein… Sie konnte keine Geräusche aus anderen Teilen des Herrenhauses mehr hören. Nur das ferne tropfen von Wasser. Die Wände waren hier unten aus grob behauenem Stein, nicht aus feinen Holz und Fliesenarbeiten und stellenweise hatten sich Eiszapfen gebildet, wo Wasser in die Gewölbe eingedrungen war. Geister, wohin brachte man sie? Eden erfuhr die Antwort, als ihr Weg vor einem verwitterten Holztor endete. Einer der Männer zog die Tore auf, sie erhaschte noch einen kurzen Blick auf blanke Felswände, als man sie hindurchstieß… und dann fiel die Pforte auch schon wieder hinter ihr zu…


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Beschreibung des Autors zu "Eden - Kapitel 4"

Nachdem sie grade der Sklaverei entkommen ist und dabei unfreiwillig den jüngsten Spross einer mächtigen Adelsfamilie entführt hat, findet sich Eden nach einigen Wirren in der Crew des grausamen und berüchtigten Piratenkapitäns Vance Livsey wieder.
Dieser besitzt den Schlüssel zu einem unvorstellbaren Schatz. Eine unberührte Stadt des legendären alten Volkes, die sich auf einer Insel weit draußen im unerforschten Weltmeer befinden soll. Mit dem Erlös der gefundenen Artefakte, könnte Eden sich selbst freikaufen. Doch sie sind nicht die einzigen, die von der Insel wissen. Der mächtig Sanguis-Orden, die Gemeinschaft der Zauberer Cantons, ist ihnen dicht auf den Fersen.






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